Jetzt ist es soweit: 2G. Also eigentlich 1G – denn nach einem halben Jahr wird das G der Genesenen schon wieder ausradiert. Fast die Hälfte der Menschen wird von Literatur und Musik ausgeschlossen. Warum? Es soll Druck auf die Menschen ausgeübt werden. Aber, man erinnere sich, gilt nicht der Grundsatz: „mein Körper gehört mir“? Vom Bundesverfassungsgericht so formuliert: „Der Staat hat von Verfassungs wegen nicht das Recht, seine erwachsenen und zur freien Willensbestimmung fähigen Bürger zu ‚bessern‘ oder zu hindern, sich selbst gesundheitlich zu schädigen.“ Es ist ganz einfach: Jeder kann selbst entscheiden, was er isst oder trinkt, was er sich spritzen oder abschneiden lässt. Und selbstverständlich darf der Staat in dieser Hinsicht keinen Druck ausüben. Er mag Wünsche und Hinweise äußern, aber er darf die Menschen nicht bedrängen, an ihren Körpern etwas zu verändern. Heute erfolgt der Druck durch den Entzug grundlegender Lebensnotwendigkeiten – wie eben dem Entzug der Kunst. Wer dem Druck nachgibt, der soll die Belohnung erhalten. Was ist das nur für ein jämmerliches Menschenbild! Und, so muss hier hinzugefügt werden, um eine (Geschäfts-)Messe besuchen zu können, da genügt weiterhin ein Test. Aber nicht für die Kunst. Die Kunst, die Literatur, die Musik, sie werden vom Staat missbraucht und benutzt – es gibt hier keine besseren Worte – um durch den Entzug von lebensnotwendiger Musik und Literatur die Menschen zur Verletzung ihrer körperlichen Unversehrtheit zu drängen. Das ist erbärmlich. Wie tief wollen wir noch sinken?
der nachrichtensprecher las heute anstelle der abendnachrichten gedichte vor vom herzbeben den stürmischen gefühlen von den gedanken die eine seele zum zittern bringt und der leere im kopf den fragen hinter den antworten
und schaute mir in die augen kleines sagte er du wirst dich noch wundern
Seltsamer Traum – mein Vater, kurz nach der feindlichen Übernahme, er arbeitet bei einer Versicherung. Nachts müssen sie in die Garagen einbrechen, und die Lichtmaschinen aus den Fahrzeugen stehlen – damit die Leute mehr Versicherungen abschließen.
„Damals, da hatt ich es so schlimm im Gesicht, da musst ich Cortison nehmen.“ Sie hatten mich in diese Haut gesteckt. Aus der anderen Ecke des Zimmers kam ein schabendes Geräusch. Sie drehte sich herum. der Dreispitz stand ihr gut. Wie eine Flut von rotem Haar breitete sich die Decke über sie.
Seltsam, denkt sie heute, dass wir immer nur von solchen Gedanken gesteuert werden, bei all unserer Lebensführung, gehen wir in Richtungen, von denen wir nichts ahnen.
Grund genug, auf immer zu verschwinden.
Es war eine lange Prozession. Sie hatte nichts dazu beigetragen. Nimm sie ernst und lass sie etwas tun. Führe ich Bahn, viel und regelmäßig, wären Ideen da wie Fliegen an einem schwülen Sommerabend. Steckmücken, besser.
Wir suchen danach und dann findet es uns, für einen Moment, manchmal bleibt es auch länger. Ich lösche die Scheinwerfer über dieser Familie. Es wird kalt.
Opa hatte ne Geschlechtskrankheit. Und ist Trecker gefahren. Kann man sich da so was holen? Sowas, wurde den Kindern erzählt. Und nun kommt das düstere Familiengeheimnis ans Licht.
Sie wusste, dass Gustav Klimt drei uneheliche Kinder hatte.
Die Keule war ein Messer. Gelb und sehr scharf lag es auf der Anrichte bereit und wartete darauf, dass sie sich annäherte. Beiläufig streifte ihre Hand das Holz der Tischplatte und wischte das Messer über die Kante. Es stürzte auf ihren mit einem Pantoffel halb bekleideten linken Fuß und kam mit der Schneide auf. Ein kleiner Schmerz. Ein großer Schreck. Sie blickte hinab und erwartete eine blutige Fontäne. Doch da war nix. Doch nein, plötzlich merkte sie, dass sich der große Zeh nicht mehr bewegen ließ und seltsam abgespreizt nach außen zeigte. Die Sehne war glatt durchtrennt.
In der Klinik wurde ihr diese Sehne unter Teilnarkose wieder zusammengenäht. Die weitere Gesundung bedurfte eines längeren Zeitraums.
Vorerst war es ihr nicht möglich, ohne Hilfsmittel zu gehen. Sie lag darnieder. Viele Tage. Dann bekam sie einen sinnreich konstruierten Spezialschuh, mit dessen Hilfe ihr wieder die ersten Schritte in der Wohnung ermöglicht wurden. Dies alles war nur unter Zuhilfenahme mehrerer teilweise hochdosierter Schmerzmittel möglich. Die bisher als völlig selbstverständlich angenommene Beweglichkeit war für viele Wochen extrem reduziert.
Allmählich wagte sie sich wieder ins Freie. Anfangs kleine Ausgänge auf der Straße, rund um die Häuser in der Nachbarschaft. Dann wieder Spaziergänge im Park, wohldosiert und mit Hilfe von Wanderstöcken. Die Krücken hatten bereits ausgedient. Langsam kehrte die Beweglichkeit zurück.
Wichtige Teile des Organismus sind paarig geschaffen. Beide Beine brauchen sich in der Bewegung. Nur mit einem rechten Fuß ist freie Bewegung unmöglich. Es bedarf dazu der sinnvollen Ergänzung. Niemals würde man auf die Idee kommen, sich freiwillig und im Zorn von seinem linken Fuß zu trennen. Der Körper als ursprüngliches Wunderwerk der Schöpfung wäre ohne fremde Hilfe nicht mehr lebensfähig und würde dahinsiechen.
Aus einem altlinken wurde durch Verletzung und Gesundung ein neulinker Fuß. Dieser heilte aus, und sie kann nun wieder frei durchs Leben gehen!
PS: Aufgrund der gegenwärtigen politischen Situation musste diese kleine Geschichte etwas modifizieret werden. Das Messer zerstörte eigentlich ihren rechten Fuß…
Auch Aggression muss sich in heutiger Zeit dem viel zitierten Paradigmenwandel unterziehen. So schickte vor 70 Generationen ein chinesischer Kaiser die Kopien seiner besten Krieger in den Untergrund und verschied, wahrscheinlich im Bewusstsein, dass noch einiges zu tun sein würde bei der Eroberung der Welt. Man könnte auch sagen, die Aussaat einer Idee fand statt, ein Keim zukünftiger Welteroberung wurde mit geistiger Klarheit und großem handwerklichem Geschick der Erde zur Langzeitkonservierung übergeben. Obwohl das lokale Herrschaftsgebäude des besagten Kaisers schon wenige Jahre später zu großen Teilen Opfer eines Bauernaufstandes wurde, überdauerte die Idee im Verborgenen ungefähr 2000 Jahre.
Nun tauchen seit einigen Jahren diese Abbilder eines ehemals mächtigen Heers gehäuft in europäischen Metropolen auf. Auch kleinere Orte, die sich selbst sehr gern als kulturelles Zentrum sähen, werden von dieser Invasion nicht verschont. Da die ursprüngliche Anzahl der tönernen Krieger keinesfalls ausreichen würde, um so viele Museen zu füllen, kann der Beobachter dieses Phänomens nicht umhin, neben dieser zeitgemäßen und symbolischen Invasionsmethode auch eine ebenso geartete Art der Mobilisierung der Truppen im Reich der Mitte zu vermuten. Betrachtet man die Anzahl der derzeit vorgeführten Ausstellungen, so muss man vermuten, dass zumindest einige mit Handwerkern und Material wohl ausgestattete Manufakturen die logistische Basis für diese historisch einmalige Disloziierung von Eroberungstruppen im Ausland bilden. Möglicherweise ist ja auch schon ein besonderer Industriezweig zur Absicherung dieses speziellen Exports entstanden.
Eng verbunden mit dieser Wiederauferstehung kriegerisch daherkommender Tonfiguren ist die Tatsache, dass sich die einladenden Institutionen offenbar auch im Konsens mit einer durchaus zeitgemäßen Methode der Konfliktbehandlung befinden. Auch die lebendigen Soldaten der UNO-Friedenstruppen werden ja in der Regel von den betroffenen Regierungen selbst eingeladen und unterhalten.
Das wirtschaftswachsende große China beginnt also symbolisch damit, seine Truppen in die Konfliktgebiete der westlichen Welt auszusenden. Unsere heimischen Krisen sind natürlich in der Regel viel diffiziler und verlaufen gegenwärtig in den seltensten Fällen in Formen von offenem Mord und Totschlag. Jedoch stehen die aus der Ferne eingetroffenen Besatzungstruppen auch in diesem Falle nur für zeitweilige Befriedung.
Vielleicht auch nur für Befriedigung des Bedürfnisses nach Ablenkung und Unterbrechung einer mittlerweile als existenziell empfundenen Langeweile?
In fernen Tagen, wenn Licht und Finsternis, Herz und Verstand, Wasser und Stein, Welle und Teilchen, Gedanke und Erinnerung, Durch nichts Sich unterscheiden, Werden wir eingehen In die Ewigkeit Von Raum und Zeit Am Ziel einer langen Reise. Und niemand wird Je von ihr erzählen. Poetische Schwingungen, Zarter Klang stummer Töne. In allen Farben Konturloses Schweigen. Der Morgen danach Wird ertrinken im Meer Unendlicher Schönheit.
Ein blasser Mond, Im Blau schwimmend, Er kennt meinen Namen nicht. Hinter Schleiern die Sonne. Unklare Tage, Licht der Lüge, Trugbild von Erwartungen. Die Zukunft, die Unbarmherzige, Nimmt uns mit großen Schritten Mit sich fort. Auch sie Kennt meinen Namen nicht. Deine Spuren im Sand Verlieren sich am Horizont, Und der Wind der Zeit Verweht alle Gedanken. Kanntest du meinen Namen? Worte, geschrieben im Staub Der Vergangenheit. Im Spiegel Menschen ohne Gesichter. Doch auch ich Kenne ihre Namen nicht. Namenlos ist Der Ursprung der Dinge.
Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee.
Micha, mein Micha, und alles tut so weh.
Ich im Bikini und du am FKK, Nina im Mienie -
Rotwein war auch da!
(Die Maschine wird behutsam gestartet, ein Anlasser-Unvergleichlich schleppt seinen rechten Fuß hinter sich her)
Es knackt: das magnetische Potenzial bewirkt eine mechanische Bewegung
Weißt du noch, als wir über den Busfahrer redeten? Es war eine Kontaktanzeige, und der Busfahrer meldete sich. Mit fliehenden Fahnen stellte er sich vor: bunt und unkonventionell versuchte er, von seinem langweiligen und kurvenreichen Beruf abzulenken. Hut auf, Brille hinter den Ohren, Bart angeklebt. Farbiges Shirt, hochgeklappte Schuhe, weite Hose mit engem Bund. Das Jackett: Gelb und viel zu eng. Wir freuten uns: Dank dieses Kuriosums kam etwas Leben in unsere Bude, unter anderem bestand die Gelegenheit, zu Geburtstagen einen Bus zu chartern und mit den Gästen darin zu feiern. Später erfuhren wir von seiner Lieblingslektüre. Diese Lektüre gab auch Aufschluss darüber, weshalb unser Freund sich so seltsam kleidete. Er hatte Stefan Zweig gelesen, diese Geschichte, in der ein Typ vorkommt, der von sich erzählt, dessen extravagantes Arbeitszimmer beschrieben wird, starkriechende Blumen, eine Kordel um die Decke und ähnliche Kinkerlitzchen. Also, der Busfahrer, er war der Typ mit der Kordel.
Was können wir tun, damit aus dem Busfahrer wieder ein Radfahrer wird?
Zu den Exportgütern der Volksrepublik gehören nicht nur materielle Waren. Nach dem Vorbild der deutschen Goethe-Institute hat die Volksrepublik ein weltweites Netz von Konfuzius-Instituten aufgespannt. Konfuzius als Vertreter des konservativen, an sozialen Hierarchien orientierten Sozialsystems wurde in der Ära Xi’s rehabilitiert. Die nach ihm benannten Institute widmen sich dem Spracherwerb und Kulturaustausch – harmlos, wie es scheint. Wieder hat die Volksrepublik auf das bewährte Konzept des joint ventures zurückgegriffen: die Institute sind Teil der Universitäten im Gastgeberland, zur Hälfte aus Beijing finanziert, greifen sie der dahinsiechenden westlichen Sinologie unter die Arme und genießen im Gegenzug sofortige akademische Anerkennung im Westen.
In der „Zeit der Streitenden Reiche“, einer kriegerischen Epoche vor der chinesischen Reichseinigung im Jahr 221 v.u.Z., zogen in der Wandergelehrte – ähnlich den Trobadouren im europäischen Mittelalter – von Hof zu Hof, um ihre Erfolgsstrategie an die Fürsten zu verkaufen. Die Epoche wurde bereits im alten China als „Zeit der hundert Schulen“ bezeichnet. Es handelt sich um die kreative Zeit des chinesischen Denkens – alle bis heute lebendigen philosophischen Strömungen stammen aus dieser Epoche und wurden in den nachfolgenden beiden Jahrtausenden fortlaufend neu interpretiert. Von den vielfältigen philosophischen Strömungen, die im alten China als „Hundert Schulen“ im Wettstreit miteinander standen, wurden in der Volksrepublik unter Xi zwei Traditionslinien wiederbelebt:
Konfuzianismus
Konfuzius (551-479) hat ein strikt patriachalisches System etabliert, in dem Frauen den Männern und die Jüngeren den Älteren hierarchisch untergeordnet sind. Aufgrund einer feststehenden sozialen Hierarchie werden soziale Verhältnisse – bis zur Erstarrung – stabilisiert. Wissen, Fleiß, Gehorsam, Mitmenschlichkeit und Güte sind konfuzianische Werte, die unter Xi als sozialistische Werte in der Volksrepublik wiederauferstehen. Sie veredeln die autoritäre Einmann- und Einparteienherrschaft mit einer humanistischen Oberfläche und unterwerfen den Einzelnen einer positivistischen Moral: Sei aktiv, lerne, tue das Gute!
Legalismus
Mittels Zentralverwaltung, Vereinheitlichung von Schrift, Währung und Maßeinheiten, Zwangsarbeit, Abschaffung der Erblichkeit von Ämtern sowie einer ausschließlich auf Landwirtschaft und Angriffskrieg konzentrierten Lebensweise, führte der Shang Yang (gest. 338 v.u.Z.) den Staat Qin zu preußischer Effizenz und Größe. Prinz Hanfeizi (280-233), ein Schüler des misanthropischen Konfuzianers Xunzi (300-239), gewissermaßen der Machiavelli des alten China, setzte sich ausführlich mit dem paradox erscheinenden Prinzip „Tue das Nichtstun“ (Wei Wuwei) auseinandergesetzt – er kam zu dem Schluß: der Fürst könne sich am ehesten zurücklehnen und nichts tun, wenn er eine Diktatur errichte, in der die Menschen so viel Angst haben, daß sie alles tun, wenn der Herrscher nur mit der Wimper zuckt. Schöngeistige Bücher sollten verboten werden. Das erreiche er durch die Todesstrafe oder durch Belohnung in Form von Landparzellen ensprechend der Zahl der Köpfe getöteter Feinde. Nicht dem Fürsten der Han, sondern dem 13jährigen Ying Zheng (259-210), der zum Fürsten von Qin ernannt wurde, gelang es, China zu vereinen, indem er die Nachbarstaaten durch Druck, Überredung, Drohung, Eroberung oder Bestechung unterwarf – er nannte sich fortan Qin Shi Huangdi (Ursprünglicher Gelber Kaiser von Qin). Von Qin leitet sich der im Westen verbreitete Name „China“ ab (während die Chinesen selbst ihr Land als „Reich der Mitte“ bezeichnen). Qin Shi Huandi starb jung im Alter von 49 Jahren. Von ihm kündet bis heute die berühmte Grabstätte, die Terrakotta-Armee bei Xian. Unter seinem Sohn zerfiel das Reich.
These 11: Präsident Xi nimmt sich offenbar Qin zum Vorbild – ohne zu erwägen, daß Qin’s geeintes Reich schon nach zwanzig Jahren Rebellen zum Opfer fiel: Es zerbrach am Unmut des Volkes gegen das allzu harsche Regime.
Auf Anraten seines Ministers Li Si (280-208), der ebenfalls ein Schüler von Xunzi war und Hanfeizi’s Empfehlung eines Bücherverbots folgte, befahl im Jahr 213 v.u.Z. Qin Shi Huangdi, die Mehrzahl der auffindbaren Bücher (Bambusrollen) zu verbrennen und die Gelehrten lebendigem Leib einzugraben.
„Diese Gelehrten lernen nicht von der Gegenwart, sondern von der Vergangenheit, und kritisieren damit unsere Zeit und stürzen die Schwarzhaarigen (die Bauern – die Red.) in Verwirrung. Wenn sie hören, dass ein kaiserlicher Befehl ergangen ist, debattieren sie ihn je nach ihrer Lehrmeinung. Bei Hofe kritisieren sie ihn im Herzen; draußen reden sie darüber in den Straßen. Den Herrscher zu diskreditieren ist ein Weg, berühmt zu werden. Sie leiten ihre Schüler darin an, üble Nachrede zu üben. Wenn Dinge wie diese nicht verboten werden, wird die Macht des Herrschers oben geschwächt, und unten bilden sich Parteien. Ich bitte deshalb darum, alle historischen Aufzeichnungen, die nicht aus dem Reiche Qin stammen, zu verbrennen. Außer den Exemplaren, die in der kaiserlichen Hofakademie liegen, sollen alle Lieder, Urkunden und alle Schriften der Hundert Schulen, die irgend jemand im Reich aufzubewahren gewagt hat, zu den Gouverneuren und Kommandanten gebracht und verbrannt werden. Jeder, der es wagt, über die Lieder und die Urkunden zu diskutieren, soll auf dem Marktplatz hingerichtet werden. Diejenigen, die das alte System heranziehen, um das neue zu kritisieren, sollen mitsamt ihren Familien exekutiert werden. Beamte, die von diesen Verbrechen hören oder von ihnen wissen, ohne sie zu verfolgen, sollen genauso bestraft werden wie diese Kriminellen. Dreißig Tage nachdem dieses Dekret ergangen ist, wird jeder, der seine Bücher noch nicht verbrannt hat, mit dem Brandmal im Gesicht und Zwangsarbeit bestraft. Ausgenommen sind nur Bücher über Medizin, Orakelkunde und Landwirtschaft.“ (Li Si, zit. nach Rademacher, 2003, S. 126)
Tatsächlich rettete das Volk eine Vielzahl der Schriften vor den Flammen, versteckte sie in Tongefäßen und vergrub diese in der Erde. Bücherverbrennungen – das war ein archaisch-radikaler, blutiger Versuch der Zensur. Zunächst lehnten die chinesischen Marxisten Qin Shi Huangdi ab und betrachteten die Bauern, die die Herrschaft seines Sohnes stürzten, als Revolutionäre. Zu Beginn des Großen Sprungs sprach sich Mao jedoch plötzlich für den Ersten Kaiser aus, ja, er erhob sich über ihn: Auf der zweiten Sitzung des Achten Parteitages am 8. Mai 1958 lobte er den Artikel Die historische Forschung muß heute dick und in der Vergangenheit dünn sein: „Dieser Artikel beweist, daß es unsere Tradition ist, in der Gegenwart dick und in der Vergangenheit dünn zu sein. Sima Guang wurde zitiert, Qin Shi Huang leider nicht. Doch Qin Shi Huang war ein Experte darin, die Gegenwart zu verdicken und die Vergangenheit zu verdünnen.“
An diesem Punkt entgegnete Lin Biao: „Qin Shi Huang verbrannte Bücher und verbot den Konfuzianismus.“
Mao brüstete sich daraufhin mit folgender Dummheit: „Was war denn so außergewöhnlich an Qin Shi Huang? Er hat 460 Gelehrte (Konfuzianer) lebendig begraben; wir haben 46.000 Gelehrte (Konfuzianer) lebendig begraben. Dazu habe ich schon mit gewissen Demokraten diskutiert: Ihr glaubt, ihr könnt uns beleidigen, wenn ihr uns als Qin Shi Huang bezeichnet, aber ihr irrt, wir haben Qin Shi Huang hundertfach übertroffen! Ihr bezeichnet uns als Diktatur – wir bekennen uns gern zu diesen Eigenschaften, wir bedauern nur, daß ihr derartig hinter der Wahrheit zurückbleibt, daß wir eure Vorwürfe ergänzen müssen!“ (Mao Zedong, 1958, Text 29)
Während der Kulturrevolution setzte sich die Glorifizierung des Ersten Kaisers durch: Seine Gewaltherrschaft zum Wohle der Nation wurde bejubelt, dessen Weitsicht China geeint habe. Nur weil er die Staatsfeinde nicht gründlich genug ausgerottet habe, sei er den Rebellen zum Opfer gefallen.
Zu Studenten und Professoren der Beijing-Universität sprach Präsident Xi:
„Es ist der größte Traum des chinesischen Volks seit dem Opium-Krieg (1840-1842) und das höchste und grundlegendste Interesse der chinesischen Nation, ein reiches und starkes, demokratisches, zivilisiertes und harmonisches und modernes sozialistisches Land aufzubauen und die große nationale Renaissance zu verwirklichen. Die Bestrebungen aller 1.3 Milliarden Chinesen dienen im Grunde dazu, dieses großartige Ziel zu verwirklichen… Doch wir sind gegen die Schlußfolgerung, daß ein starkes Land zwangsläufig Hegemonie anstrebt, und beharren auf einem friedlichen Entwicklungsweg.“ (ebd., S. 208 ff.)
Zu Politkadern der Kommunistischen Partei Chinas sprach Xi:
„Parteimitglieder und Funktionäre müssen fest an den Marxismus und Kommunismus glauben, sich unermüdlich und gewissenhaft für die Verwirklichung des grundlegenden Programms der Partei in der jetzigen Phase einsetzen … Führende Funktionäre, insbesondere ranghohe, sollten die grundlegenden marxistischen Theorien zur Ausbildung ihrer besonderen Fähigkeiten beherrschen und den Marxismus-Leninismus, die Mao-Zedong-Ideen und insbesondere die Deng-Xiaoping-Theorie, die wichtigen Ideen der Drei Vertretungen sowie das Wissenschaftliche Entwicklungskonzept gewissenhaft studieren … Parteilichkeit und Volksverbundenheit stehen nach wie vor in Einklang … Dabei setzen wir darauf, ganz nah am Menschen zu und den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Unsere Arbeit muss sich dementsprechend daran orientieren, dem Volk zu dienen … Es sollen vor allem Solidarität, Stabilität und Aufmunterung thematisiert werden und positive Berichte sollen dominieren.“ (ebd., S. 188 f.)
Präsident Xi stammt aus der alten Nomenklatura. Sein Vater trat 1928 in die KP ein und bekleidete während der Hungerjahre nach dem Großen Sprung das Amt des Stellvertretenden Ministerpräsidenten (1959-1962). Danach war er Gouverneur der Provinz Guangdong. Xi genoß eine privilegierte Kindheit, bis die Roten Garden seinen Vater verhafteten und die Familie verunglimpften. Als Jugendlicher floh Xi in das Dorf Liangjiahe, wo er etliche Jahre als Landarbeiter unterkam und in einer Höhle lebte. Diese Erfahrung bewegte ihn jedoch dazu, die maoistischen Methoden der Umerziehung und des Terrors fallenzulassen. Die gegenwärtige Verfolgung der Uiguren in Xinjiang gilt als „die größte Internierung einer ethnisch-religiösen Minderheit seit der Nazizeit“ (Kai Strittmatter, 2020, S. 19) Es ist vor allem der kurzfristige Erfolg des Legalismus, den Xi vor Augen hat: ihm verdankt China bis auf den heutigen Tag seine Einheit und ist in Form der wieder ausgegrabenen Terrakotta-Armee Qin Shi Huangdi’s zu bewundern.
Ich weiß nicht, wer es war, jedenfalls einer der Passanten, die jeden Tag am Krankenhaus vorbeikamen. Er war jedenfalls, so wird es erzählt, nachts mit einer Schaufel über den Friedhofszaun geklettert, hatte sich ein Grab gesucht, das gerade aufgelöst, aber noch nicht eingeebnet worden war, hatte gegraben, einen doch recht gut erhaltenen Schädel gefunden und mitgenommen. Jetzt steht der Schädel auf seinem Schreibtisch (manche sagen, das ist nur ein Schauermärchen, wie das Medizinstudenten den Juristen auf Partys erzählen; aber Schädel – die kann man nicht im Internet bestellen). Jeden Morgen singt er jetzt einen lateinischen Hymnus, bevor er seine Tasche nimmt, ins Auto steigt und Montag bis Freitag der immergleichen profanen Arbeit nachgeht.
„Wir nehmen dich als vage war, aber: Du dirigierst das, was hier gerade gedreht wird. Und: Du bist mit Abstand bis ins Letzte bestimmt.“
Esther wandte sich um. Wer war so blöd, sich einen solchen Satz auch nur anzuhören. Wer erwartete solche Sätze von einer ernstzunehmenden Person? Sie.
Eduard hatte zum wiederholten Male Phrasen von sich gelassen. Vor ihr, die da mit ihrem Körper an der Wand klebte und Nähe vermied. Ich glaube, ich bin im falschen Film.
„Vielleicht nimmst du mich als vage wahr, weil du dich gerne geschwollen reden hörst. Und: Was heißt das eigentlich, bis ins Letzte bestimmt?“ Esther stieß ein raues Lachen aus.
Eduard wich zurück. „Nicht so laut! Hier sind kranke Menschen.“ Er schob den Mundschutz zurecht.
Die Billardkugel war angestoßen. Esther konnte nicht zurück.
„Es tut mir leid, Eduard.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Aber bitte: Du weiß ja alles. Also: Was dirigiere ich? Dich? Du liebst es, mich zu analysieren, als sei ich ein sehr besonderes und seltenes Tier.“
Eduard war still. In seinem Gesicht zuckte es. Er nahm die Brille ab. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Er sah blass aus gegen den Rollkragenpullover. Ein Dozentenpullover. Eduard würde sich nicht gehen lassen. Dennoch hatte sie ihn gerade aus der Fassung gebracht. Hier im Flur des Krankenhauses, neben der Intensivstation, auf der Vyvyan lag. Das Rollo war heruntergelassen, offenbar hatte die Familie einen Vertrag unterschrieben, damit er ein Einzelzimmer bekam. Eduard zog ein Taschentuch hervor und begann, seine Brille zu putzen. „Esther, du weißt, ich schätze dich. Doch du solltest dir überlegen, was du sagst. Schließlich bezahlen wir dich. Du solltest deine Rolle kennen. Und die heißt: Gehen nach Anweisung.“
Esther hatte hinter den Stuhl gegriffen und ihren Mantel von der Lehne genommen. Jetzt zog sie ihn an. Den burgunderfarbenen Samtmantel, der innen Futter hatte, sie hatte ihn für den heutigen Tag aus dem Kleiderschrank im wieder leeren Zimmer hervorgeholt und war froh, dass er von den Motten verschont geblieben war. Durch die Ritzen des Rollos drang etwas Licht. Die Schwesternstation war geschlossen. „Eduard. Ich verstehe. Ich verstehe, dass du das sagen musst. Schließlich bin ich kein Familienmitglied. Dass ich überhaupt hier sein darf, ist ein Wunder. Man kann hierzulande nicht mit zwei Menschen gleichzeitig verheiratet sein. Auch nicht als ein Patient, der offenbar zwei Menschen liebt.“
Sollte Vyvyan doch sein Begehren ausleben! Letzten Endes lebte er schon so viele Jahre mit Eduard zusammen, dass die Trennung unwahrscheinlich war. Sie waren wie siamesische Zwillinge. Esther erhob keinen Anspruch auf eine dauerhafte Bindung.
Sie stockte kurz und sah zu dem geschlossenen Rollo hinüber. Für die aufwändigen Überwachungs- und Behandlungsverfahren werden pro Patient 20–25 m² Grundfläche, 16–20 Steckdosen und mindestens zwei Sauerstoffanschlüsse für notwendig gehalten. Ach was, Vyvyan würde das überleben. Die Medizin war weit genug fortgeschritten, um zu wissen, was man bei einem Lungenleiden tun musste.
Sie reichte dem immer noch verstörten Eduard die behandschuhte Hand. „Ich weiß jetzt, was Contenance ist. Danke, Eduard.“
Der Zugang zur Intensivstation erfolgte durch eine Schleuse, um die Einfuhr krankheitserregender Keime gering zu halten. Esther war sich nicht mehr sicher, ob Eduard diesen gedrexelten Schwachsinn tatsächlich zu ihr gesagt hatte. Nur konnte sie nicht mehr zurück und ihn fragen. Sie irrte durch die Flure und fand schließlich den Fahrstuhl, der sie abwärts zum Ausgang fuhr.
Eduard stand immer noch unentschlossen auf der Stelle. Er hätte Esther gern aufgehalten, sich sogar entschuldigt, das war eben sein Dozententon, der so etwas sagte, doch dann erinnerte er sich an die Kollegen, auf der Party, wie sie ihm zuriefen: „Die Winter, die ist doch verrückt.“
Was hatte sie verstanden? Sie war das Vage in seinem und in Vyvyans Leben, das sich wie eine Qualle zwischen sie drängte, und dadurch wurden sie, wurde Eduard von ihr beherrscht. Damit hatte er nicht unrecht.
Am Ende des Ganges zeigte sich wieder die Krankenschwester und geleitete sie hinaus. Dabei lüftete sie. Und sie hörte nicht auf, der Familie zu erläutern, weshalb die ANstAndsregeLn (Eduard verstand: ANAL-Regeln) auch zu Hause so wichtig waren.
„Wenn ein einsichtiger König regiert, zeigt sich sein Wirken überall unterm Himmel, ohne daß er selbst in Erscheinung tritt; die zahllosen Lebewesen wandeln sich, und das Volk gerät nicht in Abhängigkeit; niemand wird gepriesen und gerühmt, alle finden Freude in sich selbst; er richtet sich auf durch das, was sich nicht ermessen läßt, und spaziert dort umher, wo nichts ist.“ (Zhuangzi, 7.4)
Wir haben durch Lenins Brille auf den pandemisch angegriffenen Westen geblickt – ein noch klareres Bild erkennen wir, wenn wir den Blick gen Osten richten, wo der Marxismus/Leninismus bis heute den ideologischen Überbau der Herrschenden bildet, ohne ernsthaft als Analyseinstrument der aktuellen Lage genutzt zu werden: Mao Zedong (wörtlich „Wohltäter des Ostens“), einst als „Steuermann der Weltrevolution“ gepriesen, vollbrachte unter zahllosen Menschenopfern das Wunder, mit einer schlecht ausgerüsteten Bauernarmee, Japan zu besiegen und den Bürgerkrieg gegen die reaktionäre Kaste von Chiang Kaishek (Jiang Jieshi) zu gewinnen, der sich 1949 schließlich mit einem Großteil der kaiserlichen Schätze nach Taiwan absetzte, um auf der Insel die „Republik China“ auszurufen. Seitdem blickt Mao’s Konterfei vom Tor der Verbotenen Stadt herunter auf den Platz des Himmlischen Friedens. Doch der alternde Revolutionär kam nicht zur Ruhe. Von der Idee beflügelt, die Industrieproduktion des Westens zu übertrumpfen, befahl er den Bauern, „die Stadt auf das Land zu bringen“, in den Dörfern Volkskommunen zu gründen, Werkzeuge selbst zu bauen, Rohstoffe vor Ort zu finden – das hieß letzten Endes die kaum vorhandene chinesische Industrie zu dezentralisieren, Mini-Hochöfen anzufeuern und auf diese Weise Stahl zu gewinnen. Es sollte der „Große Sprung nach vorn“ werden, der China, die Sowjetunion und den Ostblock mit wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit an die Spitze des Fortschritts katapultieren sollte, und mündete in der größten Hungerkatastrophe der Menschheit, die von 1959 bis 1962 währte: In wenigen Jahren starben nach offiziellen Angaben der chinesischen Regierungen 15 Millionen Menschen, nach inoffiziellen Schätzungen waren es 45 bis 55 Millionen. Zu dieser Zeit kam es noch darauf an, die Sterbeziffer in der Propaganda stark zu untertreiben. Augenzeugen berichteten von eng beeinander liegenden Leichen in den Straßengräben.
Für Mao war dies nicht genug. Die Genossen „der ersten Front“, u.a. Liu Shaoqi – der wie Mao Sohn reicher Bauern war und eine Ausbildung zum Lehrer absolviert hatte – und Deng Xiaoping (seit 1923 sein Parteiname, der wörtlich „Kleiner Friede“ bedeutet), erklärten den Klassenkampf für beendet und versuchten, das Land mit Hilfe der Anreize eines regulierten Marktes zu ordnen und mit ruhiger Hand aufzubauen. Mao witterte Verrat. Für ihn galt der Spruch: „Mit Chaos auf Erden erreicht man Ordnung im Land.“ Er betrauerte Stalins Tod, mißtraute der Tauwetter-Politik Chrustschows, dessen Kritik an den Volkskommunen zum Bruch zwischen China und der Sowjetunion führte. Mao befürchtete, daß aus der Unterschicht neue Ausbeuter hervortreten und die Stelle der alten Feudalherren einnehmen würden. Als sich die „erste Front“ vom permanenten Revolutionär abwandte, nutzte er den schwelenden Generationenkonflikt, um die studentische Jugend gegen die neue Funktionärskaste aufzuhetzen: die Große Sozialistische Kulturrevolution begann, forderte im Laufe von zehn Jahren schätzungsweise bis zu 20 Millionen Opfer und stürzte China erneut in den Ruin.
Der Pragmatiker Deng Xiaoping erfand ab 1975 die „sozialistische Marktwirtschaft“, mit der sich China tatsächlich sprunghaft nach vorn zu bewegen begann. Noch auf dem Sterbebett unterstellte ihm Mao, er sei „ein kleiner Kapitalist mit rechter Gesinnung“, der vom Klassenkampf nichts verstünde und in der alten kapitalistischen Demokratie stehen geblieben sei. (Changshan Li, 2010, S. 190). Hat Mao mit dieser Einschätzung recht behalten?
Nach Mao’s Tod stürzte die Parteiführung die Viererbande – so hatte Mao selbst noch das ihm suspekt erscheinende Bündnis genannt, das seine letzte Ehefrau Jiang Qing mit den linksextremen Parteisoldaten Wang, Yao und Wang aus Shanghai eingegangen war, um während der Kulturrevolution die Macht, insbesondere in den staatlichen Medien, auszuüben und zur Gewalt aufzustacheln. Mit der Beschränkung der Amtszeit hoher Beamter und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung für die Volksrepublik entfesselte Deng das chinesische Wirtschaftswunder. Indem sich das Billiglohnland China als Werkbank der Welt darbot, wurde nicht nur in kürzester Zeit ein epochaler Wohlstand erarbeitet. Vielmehr gelang es der chinesischen Wirtschaft den westlichen Kapitalismus, allen voran Amerika, Zug um Zug in ihre Abhängigkeit zu ziehen. Während sich im Westen die Staatsschulden anhäufen, wachsen in der Volksrepublik die Dollarreserven. Der Zwang, daß westliche Firmen joint venture mit chinesischen Firmen eingehen müssen, wenn sie auf dem chinesischen Markt verkaufen wollen, führte zu einem signifikanten brain drain: Wurde den Chinesen vorgeworfen, westliche Produktionsgeheimnisse auszuspionieren und westliche Technologie zu kopieren, geht die technische Innovation nun vielfach von der Volksrepublik aus. Satelliten im Orbit, Taikonauten, Monderkundung, Marsmissionen sind nur die Speerspitze dieser Entwicklung. Indem sich der Westen illusorisch als Hort der Freiheit im Denken und Handeln selbst mißversteht, während die wirtschaftliche Dynamik tatsächlich von der exponentiell wuchernden Bürokratie gebremst und behindert wird, unterschätzt er das chinesische Innovationspotential.
Freiheit in China spielt sich vorrangig außerhalb der Hauptstadt ab, in den Provinzen und Sonderwirtschaftsregionen, wo der Arm der Zentralgewalt nicht hinreicht. „Regieren unter Verzicht auf Eingriffe in den natürlichen Lauf der Dinge“ – ein Grundsatz aus der Philosophie Laozi’s, auf den sich chinesische Politiker gern berufen, wenn es gilt, den autoritären Kern zu verschleiern. In der Praxis werden Regeln pragmatisch gebrochen, Interessen rücksichtslos durchgesetzt. Großprojekte scheitern nicht an Fledermaus-Habitaten oder einstöckigen Wohnhäusern ohne Kanalisation, die den Trassen der Industrialisierung im Wege stehen. Menschenrechte, Umweltbelange – kein Hindernis. Im Westen erscheint der radikale Pragmatismus, von dem in China tätige Architekten und Firmenchefs schwärmen, als Ausdruck eines zentralistischen Durchgriffs. Doch auch dies ist eine Fehleinschätzung: Die Führung in Beijing wußte nach dem Ende der Kulturrevolution, daß die Wirtschaft nur Fahrt gewinnt, wenn sie dezentral von Einzelnen vorangetrieben wird. Familien, Gruppen, Clans sind es, die die Regeln bestimmen – der chinesische Staat agiert fröhlich mit.
Insofern ist die „sozialistische Marktwirtschaft“ der Volksrepublik seit Mitte der 1970er Jahre ein staatskapitalistisches System mit marxistisch-maoistischer Fassade, die an den Universitäten nach wie vor zum Pflichtprogramm gehört. In der Volksrepublik muß sich der staatsmonopolistische Sektor nicht erst entwickeln, indem er mühsam die Verwaltung als Kundin gewinnt und in materielle Abhängigkeit zwingt. Der chinesische Staat ist per Verfassung Lobbyist in eigener Sache, der die privatwirtschaftliche Konkurrenz als Stachel nutzt, um das Wachstum zu beschleunigen. Zugleich achtet er mit Argusaugen darauf, daß Privatunternehmer wie der ehemalige Englischlehrer Jack Ma, Gründer von Alibaba, dessen Firma nicht zuletzt durch einen Milliardeneinstieg von Yahoo Erfolge verbuchte, nicht übermächtig und schon gar nicht zum Kritiker des chinesischen Weges werden – in diesem Fall, welch Wunder, ist der maoistische Revolutionsgedanke wieder zupaß und die chinesischen Wettbewerbsbehörde bereit, den Ausbeuter zu disziplinieren.
Nun ist die Ära Deng Xiaopings bereits Geschichte. Präsident Xi Jinping, im Volksmund „Baozi“ (gedämpfte Teigtasche) genannt, ließ sich als rechtmäßiger ideologischer Erbe Maos mit Unfehlbarkeitsstatus zum „überragenden Führer“ auf Lebenszeit ausrufen. Seine Ideen zum „Sozialismus chinesischer Prägung“ sollen in die Parteistatuten eingehen. Einer seiner Vorgänger hatte bereits das Prinzip der Dreifachen Vertretung etabliert: die Kommunistische Partei vertrete in China die Entwicklung der Produktivkräfte, die Ausrichtung der Kultur und die Interessen der Mehrheit des Volkes.
These 10: Tatsächlich erkennen wir in der Bewegung von Mao, über Deng zu Xi einen Wandel vom Stalinismus zum dynamischen Staatskapitalismus und schließlich zum Imperialismus chinesischer Art.
Der „chinesische Traum“, den Xi stellvertretend für die Volksrepublik träumt, zielt auf die Wiederherstellung des Reichs der Mitte als Mittelpunkt und Stabilitätsanker der Welt. China hat im internationalen Handel einen Finanzüberschuß erwirtschaftet, den es natürlich gewinnbringend anlegen möchte. Das Zauberwort heißt Neue Seidenstraße oder One belt, one road. Damit ist das Investitionsprogramm gemeint, mit dem sich die Volksrepublik überall auf dem Globus, wo sich die Chance bietet, seit 2014 einkauft: Sei es der Hafen Piräus vor den Toren Athens, der Duisburger Güterbahnhof, in dem wöchentlich drei Dutzend Züge aus China eintreffen, der Schweizer Chemiehersteller Syngenta, der Augsburger Roboterentwickler Kuka, Filmproduktionsfirmen in Hollywood, italienische Fußballvereine, ein Hafen in Sri Lanka, die Autobahn in Montenegro, Eisenbahnlinien und Pipelines in Afrika – es sind gerade finanzschwache Strukturen, die sich von Chinas Unterstützung angezogen fühlen und in die Schuldenfalle tappen. Die Regierung in Beijing bietet keinen Fond mit gleichen Regeln für alle Teilnehmer, sondern handelt die Konditionen bilateral mit jedem Bittsteller einzeln aus. Sri Lanka beispielsweise verpachtete seinen Hafen für 99 Jahre an die Volksrepublik, ein Schelm, wer dabei an Großbritannien und seine ehemalige Kronkolonie Hongkong denkt… Während Beijing von einer Globalisierung 2.0 schwärmt, sprechen Kritiker von einer Kolonisierung 2.0. Als Gegenleistung erwartet Beijing einen Kotau vor seinen geopolitischen Ansprüchen: den Verzicht auf die Anerkennung von Taiwan und des Dalai Lama, die Akzeptanz der Vereinnahmung des südchinesischen Meeres usw.