Es ist sein erstes Wochenende, der erste Sonntag, seit er hier ist. Er verbringt ihn im Estrela-Park, etwas oberhalb der Stadt, sitzt auf einer Esplanade und schaut sich um. Ein alter Mann steht gut sichtbar vor dem aufgefalteten Stamm eines exotisch aussehenden Baumes und uriniert in den Stamm wie in eine Höhle. Nur der Hut des Mannes, sein Gesicht, ein Teil des im Anzug steckenden Körpers sind von dort, wo er selbst sitzt, zu sehen. Es scheint das Natürlichste von der Welt. Den Mann scheinen keine Gewissensbisse zu plagen. In aller Ruhe zieht er den Reißverschluß seiner Hose nach oben, die Beine etwas gespreizt, setzt sich den leicht verrutschten Hut wieder zurecht und geht auf den asphaltierten Wegen des Parks davon. Er wird den Mann später noch öfters sehen, im selben Park, stets trägt er seinen grauen, etwas zu weit wirkenden Anzug, Hemd und Krawatte und den altertümlichen Hut. Er kann an ihm nichts Asoziales finden, obwohl er sich sicher ist, daß nicht jeder alte Mann zum Pinkeln in einem Baum verschwindet.
In den ersten Tagen, den ersten Wochen sitzt er jeden Morgen vor Carlos‘ Bar auf dem Gehsteig an einem der kleinen grünen Tische, auf einem gleichfalls grünen Metallstuhl, und frühstückt. Am hinteren Ende der Straße prangt ein riesiges Plakat quer über die Mauer oder die ganze Hauswand. Es ist Werbung, die hier größer und maßloser ist als alles, was er aus Berlin kennt. Ein gigantisches Foto mit gelbem Hintergrund, so daß es aussieht, als scheine immer die Sonne. In dem hellen Licht des Vormittags, dem Licht der staubigen Straße, auf der immer wieder Autos vorüberfahren, Autos parken, ist es ein Anhalt. Er wüßte die Straße nicht von dem Plakat zu trennen. Die Straße macht dort hinten an der Hauswand einen leichten Knick, führt an der Hauswand vorbei, daher ist das Plakat gut sichtbar, es scheint wie eine Überschrift, eine Schlagzeile in Gestalt eines Bildes, auch wenn er sofort wieder vergißt, wofür es wirbt.
Die grauen Rolläden vor den Fenstern der Häuser sind immer geschlossen. Vielleicht erscheinen ihm die Fenster deshalb als Schlitze. Täglich sieht er einen Schreiner oder jemanden, den er dafür hält. Einen kleinen, alten Mann im blauen Kittel, der vor einer Werkstatt oder einem Laden herumläuft, den Zollstock in der Hand. Der Mann scheint alle Zeit der Welt zu besitzen. Das Holz aber sieht aus wie Abfall, es sind Spanbretter, kein richtiges Holz. Die wenigen Möbel, die er beim Vorgehen sieht, scheinen ihm wacklig und häßlich, eher ein Alibi als ein Möbelstück. Häufig sieht er einen Mann mit Holzbein, der schnell und ohne Krücken den Gehweg auf der anderen Seite der Straße entlangläuft, ewig mürrischer Blick. Böse sieht er herüber, immer hat er es eilig. Nie sieht er ihn in Carlos‘ Bar. Einmal glaubt er sich in einem Gruß eingeschlossen, der seiner Straßenseite gilt, allen vor dem Café Versammelten, und grüßt überrascht zurück. Es bringt den Mann sofort auf, der Mann schreit etwas, das er nicht versteht, Carlos schreit etwas zurück, was er gleichfalls nicht versteht. Nur dem Tonfall entnimmt er, daß das erste eine Beleidigung war, Carlos‘ Replik eine Art Verteidigung seiner Person. Er sieht einen Bauarbeiter, einen Farbigen mit offenem Hemd, leicht ergrauter, gekräuselter Bart, der am Rand der Straße Tag für Tag ein Feuer entzündet. Dazu sucht er Holz aus den entlegensten Ecken, kleine Zweige genügen ihm, um Feuer in einem Grill zu entfachen. Der Grill besteht aus einer Reifenfelge. Jeden Mittag grillt der Mann darauf sein Essen. Manchmal ißt er auf dem Gehweg vor Carlos‘ Bar eine Suppe, wie er selbst, auf einem der grünen Stühle an den kleinen Tischen. Einmal essen sie gemeinsam. Carlos nennt den Farbigen einen guten Mann, fleißig, aus Cabo Verde. Der Mann ist leicht verlegen, doch er scheint zu dieser Straße weit mehr dazuzugehören als er selbst. Auch er ist verlegen. Sie blasen in die Suppe auf ihrem Löffel. Der Mann aus Cabo Verde deutet auf die grüne Rispe auf dem Löffel, nennt das Wort, feijão. Nie hat er mit einem Afrikaner zu Mittag gegessen, war er einem Menschen aus Cabo Verde derart nah. Der Mann zieht sich nach dem Essen wieder zurück. Gegenüber, ein Stück von Carlos‘ Bar entfernt, da, wo die Straße in einer Biegung von hundertachtzig Grad in die Tiefe führt, entsteht ein neues Haus. Dort arbeitet der Mann, von dorther bringt er manchmal das Holz mit.
Abends sieht er weiter vorne, am Beginn der Straße, einen nicht mehr jungen Mann mit dichtem, langem schwarzem Bart, der vor einer Autowerkstatt umhergeht. Stets in offenem Mantel, leicht gebückt, als gehöre er zu der Werkstatt. Die Werkstatt führt tief in die Eingeweide des Hauses, eines großen Eckgebäudes, auch hier schert die Straße aus und macht Kapriolen, gabelt sich zu einer Kreuzung, führt in alle Richtungen weg, in einem Bogen. Über die Kreuzung steigt der Weg noch einmal an, zu der Straße, in der er wohnt, in beiden anderen Richtungen führt er abwärts, schroff und steil in der einen, allmählich erst und dann zunehmend steiler auf der anderen. Er sieht den Mann ausschließlich abends, daher fällt es ihm umso mehr auf, daß er auch an den noch warmen Abenden einen Mantel trägt. Immer sieht er ihn an der Werkstatt nur vorbeigehen, nie sieht er ihn aus ihr heraustreten oder in sie hineingehen, doch er gehört zum Dunstkreis der Werkstatt, dieser riesigen, weit nach hinten sich verzweigenden Räume. Stets dringt ein Geruch nach Gummi, nach Autoreifen von dort, seltsam modrig, stets dringen Geräusche heraus, als werde dort noch spät abends gearbeitet. Ein Hämmern, Schleifen, vielleicht Schweißen. Der Mann trägt eine dicke Hornbrille und sieht aus wie ein gescheiterter Student, vielleicht ist er es, ein Intellektueller, etwas auch wie ein Obdachloser. Doch er hat großen Respekt vor dem Mann, vor seinen ernsten Augen, den bedächtigen, oft auf den Boden gerichteten Blicken. Er wagt es nicht, ihn anzusprechen. Immer aber wird dieser Mann für ihn da sein, an dieser Häuserecke, wo die Straße sich weitet, der Gehweg auf beiden Seiten ganz schmal ist, man auf der Straße geht, fast ohne es zu wollen.