Jetzt ist es soweit: 2G. Also eigentlich 1G – denn nach einem halben Jahr wird das G der Genesenen schon wieder ausradiert. Fast die Hälfte der Menschen wird von Literatur und Musik ausgeschlossen. Warum? Es soll Druck auf die Menschen ausgeübt werden. Aber, man erinnere sich, gilt nicht der Grundsatz: „mein Körper gehört mir“? Vom Bundesverfassungsgericht so formuliert: „Der Staat hat von Verfassungs wegen nicht das Recht, seine erwachsenen und zur freien Willensbestimmung fähigen Bürger zu ‚bessern‘ oder zu hindern, sich selbst gesundheitlich zu schädigen.“ Es ist ganz einfach: Jeder kann selbst entscheiden, was er isst oder trinkt, was er sich spritzen oder abschneiden lässt. Und selbstverständlich darf der Staat in dieser Hinsicht keinen Druck ausüben. Er mag Wünsche und Hinweise äußern, aber er darf die Menschen nicht bedrängen, an ihren Körpern etwas zu verändern. Heute erfolgt der Druck durch den Entzug grundlegender Lebensnotwendigkeiten – wie eben dem Entzug der Kunst. Wer dem Druck nachgibt, der soll die Belohnung erhalten. Was ist das nur für ein jämmerliches Menschenbild! Und, so muss hier hinzugefügt werden, um eine (Geschäfts-)Messe besuchen zu können, da genügt weiterhin ein Test. Aber nicht für die Kunst. Die Kunst, die Literatur, die Musik, sie werden vom Staat missbraucht und benutzt – es gibt hier keine besseren Worte – um durch den Entzug von lebensnotwendiger Musik und Literatur die Menschen zur Verletzung ihrer körperlichen Unversehrtheit zu drängen. Das ist erbärmlich. Wie tief wollen wir noch sinken?
(Stand: November 2021)
Ja, Kunst, Musik, Literatur – die interessiert doch nur noch eine Minderheit, und Minderheiten werden nicht mehr geduldet im Maßnahmenstaat. Sadisten an die Macht! So wie sie keine Kinder haben, wenn sie – vor Langeweile nebenher zockend – die „Daumenschrauben anziehen“ und Verordnungen aushecken, um Kinder zu quälen, so haben sie im Termindickicht doch seit Monaten schon keinen freien „Slot“ mehr für eine Ausstellung, ein Konzert oder eine Lesung. Oder wurde einer der zur Verantwortung zu ziehenden Entscheider – die Herren Kretschmer oder Kretschmann, die Damen Schwesig oder Merkel, um nur ein paar Beispiele zu nennen, heimlich irgendwo beim Kulturgenuß gesichtet, der kein „Großer Zapfenstreich“ war? Ich für meinen Teil wäre ja schon mit einem Rundgang durch den nächstbesten Baumarkt zufrieden, aber auch der ist nur noch Geimpften und Gestorbenen vorbehalten. Die übrigen Häuslebauer dürfen immerhin noch den armen, armen Jeff bereichern – Fragen eines lesenden Bauarbeiters: Wer baute das siebentorige Theben? Das Internet bestimmt nicht…
Gastkommentar von Prof. Dr. Oliver Lepsius
BVerfG zur Bundesnotbremse: Zerstörerisches Potential
Sollte das BVerfG durch verfassungsrechtliche Abstinenz der Politik einen Dienst erweisen haben wollen, so hat es viel Schaden angerichtet, meint Oliver Lepsius. Warum Kommentare die Entscheidung nicht zitieren sollten.
Mit den Beschlüssen zur sog. „Bundesnotbremse“ möchte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eine Zwickmühle bewältigen. Auf der einen Seite soll die aktuelle Pandemiepolitik nicht durch verfassungsrechtliche Grenzen behindert werden. Das Signal ist insoweit klar: Der Gesetzgeber hat ganz weitgehend freie Bahn. Auf der anderen Seite will das Gericht dem Vorwurf entgegenwirken, es ducke sich weg oder gebe den Vorrang der Verfassung preis. Politische Gestaltungsfreiheit soll mit dem Vorrang der Verfassung verbunden werden.
Die vom Präsidenten des BVerfG angekündigte Orientierungswirkung der Entscheidungen sieht kurzgefasst so aus: Die Ausgangssperre bleibt im Instrumentenkasten der Pandemiepolitik. Das war rechtlich und politisch sehr umstritten. Die Kontaktbeschränkungen bleiben auch im Instrumentenkasten. Das war rechtlich und politisch ziemlich unbestritten. Zu der Abwägung und Lastenverteilung, welche Lebensbereiche Kontaktbeschränkungen erbringen müssen und welche nicht, sagt der Senat nichts.
Der Gesetzgeber habe jedenfalls Rücksicht genommen und bewege sich im Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum. Ungleichheit ist kein Thema. Schulschließungen werden aus dem Instrumentenkasten herausgenommen. Zwar waren sie im April 2021 noch verhältnismäßig. Man darf den Senat jedoch so verstehen, dass sie es unter den heutigen Bedingungen nicht mehr sind und zwar nicht in erster Linie wegen des Pandemieverlaufs, sondern wegen der weitreichenden sozialen und psychischen Folgen für junge Menschen ohne ernsthaftes Erkrankungsrisiko…
Das wohl folgenschwerste Ergebnis ist, dass das BVerfG das selbstvollziehende Gesetz als eine Handlungsoption in den Formenkasten des Rechtsstaats aufgenommen hat. Der zu entscheidende Sachverhalt, das Gesetz zur Bundesnotbremse, ist insofern ein prozessuales Unglück…
Wenn man den Parlamentsabsolutismus akzeptiert, dann muss man aber auch verfassungsrechtliche Gegenkräfte vorsehen, damit die rechtsstaatliche Grundstruktur stimmt. Der Senat räumt den Weg aber nur frei. Er teilt den Pandemie-Schock, der den Blick für das Gesamte verstellt. Aus der Gewaltenteilung sollen jedenfalls keine checks and balances folgen. Eine Feinsteuerung durch die Verwaltung mit ihrer freiheitssichernden Abwägungsleistung in Gestalt der Einzelfallkonkretisierung ist offenbar verzichtbar. Auch mit dem dadurch über Bord gehenden Rechtsschutz „wäre nicht viel gewonnen“, lesen wir. Verwaltungsrechtler und Verwaltungsrichter dürfen sich düpiert fühlen. Die horizontale Gewaltentrennung (Bund-Länder) bringt auch keine checks and balances; sie auszuschalten, war ja gerade die Absicht der Bundesregierung. Und im Bundesrat zustimmungsbedürftig sei das Gesetz auch nicht.
Aus den Grundrechten folgen auch keine Grenzen, weil die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Leerlauf gestellt wird: Der Senat legt schon kein Ziel fest, an dem er prüft, sondern bezieht Pandemiepolitik auf ein unsortiertes Bündel von höchstpersönlichen, individuell-graduellen und kollektiv-graduellen Rechtsgütern (Leben, Gesundheit, Gesundheitssystem). Die Maßnahmen lassen sich nicht auf Effekte beziehen, weil sie als „Gesamtschutzpaket“ nicht isoliert gesehen werden dürfen. Eine Mittelkontrolle scheitert überdies auf der Ebene der Erforderlichkeitsprüfung, die völlig dem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers überantwortet wird. Die Vertretbarkeitskontrolle wird nicht eingelöst, wenn immer dieselbe Expertise in allen Gewalten durchgereicht wird. Schließlich wird auch noch die Einschränkbarkeit der Fortbewegungsfreiheit von einem mehrstufigen prozeduralen Schutzkonzept auf einen Gesetzesvorbehalt umgestellt…
Zertifiziert das BVerfG einen Bedeutungsverlust des Rechts?
Hier liegt das zerstörerische Potenzial von „Bundesnotbremse I“. Vielleicht sollte man die letzte Randnummer dieses Beschlusses, umfassende Ausgangsbeschränkungen kämen „nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht“, als Interpretationsermächtigung verstehen, die ganze Entscheidung nur auf eine Gefahrenlage im April 2021 zu beziehen. Zur Dogmatisierung und Vermaßstäblichung darf sie nicht herangezogen werden; Kommentare sollten sie nicht zitieren. Orientierungswirkung hat sie dann keine.
Wäre das schlimm? Nein, das ist geboten. Ansonsten zertifizierte das BVerfG einen Bedeutungsverlust des Rechts. Die Verfassung erlaubt keine Expertenherrschaft, die sich nur auf die Mehrheit der Kanzlerdemokratie stützt. Das BVerfG irrt, wenn es meinen sollte, dem politischen System durch verfassungsrechtliche Abstinenz einen Dienst zu erweisen. Wird ein Themenfeld, wie hier durch den Senat, de facto politisiert und expertokratisiert, dann bedarf es Stoppregeln. Das Argument der Verfassungswidrigkeit darf nicht aus dem Instrumentenkasten der Politik herausgenommen werden, was es hier aber wird. Sonst können sich Politiker auch nicht gegen einen aufgeheizten und unter den Medienrationalitäten der Gegenwart tendenziell radikalisierenden öffentlichen Diskurs behaupten, in dem gegen Recht und Freiheit mit dem Argument gewettert wird, es stünden Leben auf dem Spiel. Gegen die Behauptung, Leben zu riskieren, kann sich Politik nur durch den Rekurs auf Recht behaupten. Der abwägende Sachdiskurs kommt ohne Recht als Argument nicht aus. Insofern hat das BVerfG nicht nur der Verfassungsordnung, sondern auch dem politischen System einen Bärendienst erwiesen.
Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Chicago) hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der WWU Münster inne.
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Wie war das einst mit der Menschenwürde? Darf der Staat zulassen, dass meine Gruppenzugehörigkeit durch ein äußerliches Stigma erkennbar ist? Wenn Ungeimpfte in ein paar Wochen lange Haare tragen, weil sie vom Frisör nicht mehr eingelassen werden (Langhaarige = Hooligans = Asoziale, sprechen wir doch am bestem gleich wieder vom „Gewohnheitsverbrecher“), ist dann nicht ihre Menschenwürde verletzt, weil sie dem Spott der frisierten Mehrheit preisgegeben sind? Können sie dann den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGH) anrufen – wie etwa Bürger aus Belarus – weil das Bundesverfassungsgericht ihre Persönlichkeitsrechte ja dem Kollektivschutz, Leben zu retten, unterordnet? Kommt Haareschneiden bei Ungeimpften im neuen Maßnahmenstaat einem Tötungsdelikt gleich? Oder handelt es sich um eine Anordnungsanmaßung eines Staates, dem die ausgleichenden Kontrollinstanzen – die zweite, dritte und vierte Gewalt – abhanden gekommen sind, weil er alle Macht in einer Hand bündelt? Heisst ein solches System nicht „demokratischer Zentralismus“ und ist das Gegenteil von Demokratie?
Wenn es das Allgemeine nicht gäbe, müsste Mensch es erfinden – dem Besonderen zuliebe.