selbstverständnisse

für jan skácel

            dichterin
sing uns von 
      der liebe
      den feuern der heimat
      dem sturzflug der vögel
von der klirrenden schönheit
des eises sing uns
dein lied

ihr irrt
ich sammle nur die späne
   der linde 
      die ihr gefällt habt

aus: »kairologoi – gegen die zeit«
leipziger literaturverlag; 02.02.2023

„Das Gedächtnis ist ein amethystfarbenes Meer“

Erinnerungen an die Triestiner Lyrikerin Lina Galli

War es das Café Stella Polare oder das Danubio gewesen, so frage ich mich, wo Giorgio Voghera mich an einem Februartag des Jahres 1979 mit einer älteren Dame bekannt gemacht hatte, der, wie es bei ihrem Tod 1993 in der Lokalzeitung Il Piccolo hieß, „letzten Dichterin der Stadt Triest“? Die ältere Dame war damals bereits 80 Jahre alt und ich hatte von ihr bis dato noch kein einziges ihrer Gedichte gelesen. Als wir uns am nächsten Tag ohne unseren Vermittler trafen, hatte sie mir ein Buch mitgebracht, das ein paar Jahre zuvor, 1973 erschienen war: Eppure ancora un mattino, eine Auswahl ihrer Gedichte von 1934 bis 1972, herausgegeben von Nora Baldi, die eine wesentliche Rolle in ihren späten Lebensjahren spielte. Außerdem das Typoskript eines langen Gedichts, das sie unter dem Eindruck des furchtbaren Erdbebens in Friaul (Mai 1976) verfasst und im Radio vorgetragen hatte. Dieses Erdbeben, d.h. das Schicksal der davon betroffenen Menschen bewegte sie damals noch immer stark und so sprach sie fast ausschließlich darüber zu mir. Bei Giorgio Voghera sollte ich später über die Dichterin lesen:

Lina ist heute als eine von ganz wenigen Triestiner Dichterinnen auch im übrigen Italien bekannt. Zweifellos kann sie nunmehr neben den Großen der Triestiner Literatur bestehen. Unsere Großen haben jedoch, vielleicht ohne es zu bemerken, eigentümliche Haltungen eingenommen. Lina hingegen bewahrt weiterhin eine mütterliche und gleichzeitig, so möchte ich sagen, beinah mädchenhafte Haltung. Unsere Großen waren alle ein wenig egoistisch: vielleicht ein ‚sakrosanter‘ Egoismus. Lina hingegen ist immer großzügig, vor allem gegenüber jungen Schrifttellerinnen und Dichterinnen, denen sie hilft, sich durchzusetzen.

Lina Galli war im letzten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts geboren, stammte aus Istrien, aus dem venezianisch geprägten Städtchen Parenzo mit der berühmten Basilika. Die Mutter starb, als Lina vier Jahre alt war. Gemeinsam mit ihrem Bruder wurde sie von der Großmutter aufgezogen, die eine Pension geführt, in der auch viele österreichische Beamte verkehrten; einer von ihnen ermöglichte es dem begabten jungen Mädchen das Gymnasium in Gorizia zu besuchen. Mit dreiunddreißig Jahren kam sie als Lehrerin nach Triest, wo ihre für Kinder geschriebenen Reime, Filastrocche cantate col tempo noch im gleichen Jahr als Buch erschienen.

Zwischen dem darauffolgenden schmalen Gedichtband Trieste città (1938) und dem ersten Band einer Trilogie, in der sie die traumatischen Jahre des Weltkriegs in einer sehr persönlichen, autobiographisch geprägten Weise zu bewältigen suchte, waren 12 Jahre vergangen. Die alte Heimat war inzwischen jugoslawisches Staatsgebiet geworden, Parenzo hieß jetzt Pore?, und dort fühlte sie sich als eine Person, die zur Fremden geworden war. (Und an Lina Galli konnte sich in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich dort den Spuren ihrer Gedichte nachging, selbst in der Stadtbibliothek niemand erinnern.)

     Im Antiquariat Misan in Triest, Fundgrube für meine eigene kleine Triestiner Bibliothek, hatte ich inzwischen den dritten Band der oben erwähnten Trilogie erworben, Notte sull’Istria, 1958 herausgegeben vom Movimento Istriano Revisionista; in Zeiten des sogenannten Kalten Krieges waren die Fronten verhärtet, zigtausende Italiener hatten Istrien verlassen (nach der Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrages am 10. Februar 1947, auf den der 48. Geburtstag der Dichterin fällt, als Istrien an Jugoslawien fiel und Triest vorübergehend zur ‚freien Stadt‘ erklärt wurde). Sie alle waren zu esuli geworden, zu Flüchtlingen, Menschen, wie seit jeher, Opfer der ‚großen‘ Politik. „Nostalgia e dolore, tu li comprendi“, „Nostalgie und Schmerz, Du verstehst sie“ stand in diesem Exemplar als Widmung für einen (mir) Unbekannten in Gallis gestochener Handschrift, die bis ins hohe Alter die gleiche blieb.

Als ich diesen Band zum ersten Mal las, wusste ich nicht, dass das Drama der Foibe auch ihre eigene Familie erfasst hatte, ihr Bruder und ein Schwager Opfer einer grausamen Rache geworden waren, die auch unschuldige Menschen nicht verschonte:[1]„Du bist jetzt ein Schatten/ auch in meiner Erinnerung“, beginnt das Gedicht „Fratello“, in dem es gegen Ende zu heißt:

Man hat mir gesagt, sie haben euch hingestellt

an den Rand eines Steilhangs

      – Gott hatte seine Hand zurückgezogen –

Tief unten plätscherte das Wasser.

Der Horizont war noch immer prächtig

über den duftenden Buchen.

Mit der Maschinenpistole haben sie euch niedergemäht

Am Ufer des Aurania.[2]

Autorin von Vita di mio marito und Dichterin der Nostalgie

1942 machte Lina Galli der Witwe von Italo Svevo, mit der sie befreundet war, den Vorschlag, eine Biografie über ihren Mann zu verfassen – was diese ‚begeistert‘ aufgenommen haben soll. Vita di mio marito erschien 1950 in dem von Anita Pittoni gegründeten Verlag Lo Zibaldone; als Verfasserin fungierte Livia Veneziani Svevo und darunter war in Klammern vermerkt: „Stesura di Lina Galli“, „Fassung von Lina Galli“. Was jahrzehntelang nur als Mitarbeit gegolten hatte, sollte erst vor wenigen Jahren durch die akribischen Nachforschungen der Triester Literaturwissenschaftlerin Daniela Picamus bewiesen werden: „Die Biografie von Svevo war von der Ehefrau gewollt, wurde aber gänzlich von Lina Galli strukturiert und geschrieben.“[3] In den langen Listen von Fragen, die die ‚Mitarbeiterin‘ an die Witwe stellte, befindet sich auch diese: „Was wurde aus der Übersetzung von Senilità von Piero Rismondo? – sowie die Antwort von Livia Veneziani Svevo: „Die Übersetzung von Piero Rismondo ist in Wien vor dem letzten Krieg verloren gegangen“.[4]

Noch in Parenzo hatte Lina Galli Nike Clama kennengelernt, die in der Pension ihrer Großmutter wohnte und in der dortigen Scuola elementare ihre Kollegin war. Nike Clama war 1896 in Graz geboren, „di padre icognito“, „Vater unbekannt“, wie es in den Dokumenten hieß; Lina Galli erzählte mir, dass er ein „nobile tedesco“ – womit ein Österreicher gemeint war – gewesen sei. Nike hatte in Graz die Universität besucht und sprach fließend deutsch (verfasste sogar eine Grammatica di Lingua tedesca); ihre Heimat war jedoch Istrien, von wo ihre Mutter stammte. So wie Lina Galli selbst, hatte sie erste Gedichte in der Görzer Zeitschrift Squille isontine veröffentlicht. Die beiden Frauen blieben ein Leben lang eng befreundet, und als Nike 1962 starb, gab Lina in den folgenden Jahren einige Bändchen mit Nikes verstreuter Prosa heraus (und widmete ihr u.a. das schöne Gedicht „Sei fuggita“, „Du bist entflohen“).

Gemeinsam mit Nike und einer anderen Freundin, der Dichterin Maria Milcovich Oliani (deren Leben 1941 durch Selbstmord endete), nahm vor allem Lina früh am literarischen Leben der Stadt Triest teil; schon 1933 veröffentlichte sie eine Rezension von I nostri simili des jungen Schriftstellers Pier Antonio Quarantotti Gambini (geboren 1910) und wurde nicht müde, auch nach seinem Tod (1965) immer wieder die Erinnerung an den Freund, der so wie sie aus Istrien stammte und mit dem sie die Liebe zu der ‚verlorenen Heimat‘ verband, wachzuhalten.

 „Du bist meine Stadt der verschwiegenen Worte/ im Netz der verlassenen Straßen/ und jener lebendigen im Getöse“ beginnt „Città-Acipelago“, das 1968 in La mia città di dolore, einer erweiterten Sammlung ihrer Triest-Gedichte, aufgenommen wurde. Eine Stadt mit vielen in sich geschlossenen Inseln und Inselchen, mit Gegensätzen, die oft hart aufeinanderprallen, mit Menschen, gefangen „in contorti conflitti“, „in verworrenen Konflikten“. Eine Stadt, die jedoch immer wieder neu ist, „mit ihrem Wind/ und den weißen Felsen mit dem Fuß im azurblauen Meer“: der Wind, das Meer, und der Himmel über Triest – das sind Tröstungen, die die Dichterin über alle Unbilden hinweg unermüdlich zu variieren weiß – selbst als sie schon in ihre letzte Jahreszeit, in den „Winter des Lebens“ eingetreten ist. Doch da war bereits eine neue Zeit angebrochen, die nicht mehr die ihre ist, in der die Generationen auseinanderdriften, „die Stimme der Menschen/ metallen geworden ist/ nur mehr Ziffern skandiert.“ Die Dichterin notiert auch den Beginn dessen, was uns erst Jahrzehnte später mit voller Wucht treffen wird, die Zerstörung der Umwelt, den Verlust von Solidarität und Empathie.

Gerade in ihren Altersgedichten hat Lina Galli einen seltenen Höhepunkt erreicht, ist ihre Sprache immer konziser, lapidarer, treffender geworden. In kleiner Auflage, aber sorgfältig editiert, erschien 1989, noch zu Lebzeiten der Dichterin, ein letztes Buch, I Sogni.[5] Darin sind 55 Traumnotizen versammelt, Fragmente aus ihrem Leben, verwandelt wiederkehrend, in poetischen Stenogrammen beschrieben: „Mein zerstörtes Haus ist noch da/ Die Fassade ist neu gemalt/ die Fensterscheiben glänzen.“ An Bilder von Giorgio de Chirico mag man bei der Lektüre von „La città“ denken, ein surreales Triest, in dem die Träumende durch antike, verlassene Straßen wandelt, in denen sich architektonische Versatzstücke „multiplizieren“, als ob die „Mauern sich selbst gezeugt hätten“.

Als ich Lina Galli im April 1992 in der Casa di Riposo Anna in der via San Lazzaro besuchte, war ich zutiefst bewegt von der Aufnahme, die sie mir dort bereitete: Obwohl ihr Leben auf wenig mehr als auf ein Bett reduziert war, das in dem Mehrbettzimmer nahe an einem Fenster stand, und ihren Blick nur mehr auf den Himmel über der belebten Piazza Goldoni frei gab, hatte sie sich auf dieser Insel ein letztes poetisches Reich eingerichtet, in dem sie, einer alterslosen Fee gleich, noch immer Gedichte schrieb. Aus diesem Reich schickte sie mir danach noch drei Gedichte über jene Orte, die ihre Schicksalsstädte waren: „Parenzo“, „Trieste“, „Venezia“; letzteres sei noch unveröffentlicht, hatte sie dazu notiert; die erste Zeile lautet(e): „Nella tua bellezza la morte.“ „In Deiner Schönheit der Tod.“ Als hätte sie vorausgesehen, dass ein außer Rand und Band geratener Tourismus eines Tages im Begriff sein würde, ‚ihr‘ Venedig zu zerstören, „sommergersi“, untergehen zu lassen.

Es wäre hoch an der Zeit, aus dem umfangreichen Nachlass von Lina Galli auch ihren Briefwechsel mit den (nicht nur inzwischen berühmten) Mitgliedern (und nicht nur) des „Archipels Triest“ herauszugeben; ihre, in so vielen Zeitungen und Zeitschriften verstreute Prosa über Persönlichkeiten und Orte in ganz Italien; und, endlich, auch einen Band mit einer Auswahl ihrer Gedichte in deutscher Sprache.

Lina Galli

Gedichte ausgewählt und übersetzt von Ilse Pollack [6]

10. Februar 1947

Finsterer Februar

gepeitscht vom Wind.

Zu jener Stunde

hörte man Schreie.

Aus den Schlünden

erhoben sich fleischlose Arme

taumelten fluchend

fluchend.

Ähnlich wie die Ermordeten

schwanken stumm die Lebenden:

zu Stein geworden jedes Gesicht.

Die Häuser atmen nicht mehr,

der Himmel ist begraben im tiefen Meer.

Erschöpft biegt ums Eck ein vorsichtiger Mensch.

Es ist ein Überlebender, und er zittert.

Esuli – Die Geflüchteten

An Bord des Schiffes, von Pola getrennt

dachten sie angstvoll an die Städte

die sie erwarteten.

Aus ihrer Heimat gerissen

die an bildschönen Küsten vorüberglitt

auf ein unbekanntes Morgen zu.

In Venedig empfängt sie ein Schwarm von Leuten

mit abweisenden Schreien, verweigert ihnen Nahrung

und in Bologna kann der Zug nicht halten

wegen der feindseligen Menge.

Die Kinder schauen verwirrt um sich.

Die Eltern können ihnen nichts mehr geben.

Das Morgen – ein Albtraum.

Die Italiener empfinden sie nicht als Brüder

sie sind Leute, die es abzuweisen gilt, Geflüchtete.

Diese betrachten alles stumm

mit weit aufgerissenen Augen

in denen die Tränen stocken.

Zum Schmerz, alles verloren zu haben

kommt dieser neue Schmerz hinzu.

Ganz leise sprichst du mit den Toten

Jetzt wehen von den Bergen

die grausamen Winde, es stöhnen die Pinien

gekrümmt über dem Meer

unter dem Dach der grauen Wolken.

Vater, weit weg, lebender und verlorener Vater,

so alt sehe ich dich und kenne nicht

dein letztes Gesicht.

Zusammengekauert in der stillen Küche

neben dem Feuer,

gegenüber dem Feuer, das dir den Frost nicht vertreibt.

Die Kälte schneidet in die gipsernen Knochen

und du wartest und wartest, und schaust doch nicht hin zur Schwelle

denn niemand wird kommen.

Dein Blick folgt dem Licht, das sich von den Dächern zurückzieht

wie in dir selbst.

Ein rötlicher Fleck auf den Hügeln

zwischen den segelnden Nebeln, und die Krähe fliegt auf.

Das ist die Saison! Erinnerst du dich wie du

die roten Bracken herbeigepfiffen hast?

Unter deinen Stiefeln knirschte fröhlich der Frost.

So stumm sehe ich dich und kenne nicht

deine letzte Stimme.

fange ein fernes Echo nur auf.

Ganz leise sprichst du mit den Toten

und zählst die Zeit:

von Weihnachten bis Ostern.

Hinter deinem weißen Nacken

schlägt die alte Pendeluhr die Stunden

eurer entwurzelten Existenzen

und immer schwerer wird das Herz

im bleiernen Strudel der Tage.                 

Anders ist jenes Meer

Unruhig wittert der Verbannte die Luft

und sucht nach einem verlorenen Geruch.

Wer vergisst die heiteren Segel

in der leichten Brise des Südwinds,

und das Rollen der Karren

wegelang um den Weinberg?

Wer vergisst die engen Gassen vertieft

in das Summen des Nachmittags

und auf den Schwellen das Geflüster der Alten

im violetten Feuer des Abends?

Jedes Land, jede Stadt ist fremd –

anders ist jenes Meer, anders ist jener Wind.

Wo ist mein Laut? Wo ist mein Hügel?

In Parenzo

Ich bin gekommen um zu suchen

was ich verloren habe.

In meiner Erinnerung stand es fest.

Unter unwissenden Leuten

finde ich eine Menge Schatten

und die Leere, das Meer, den Wind.

Svevo

Du kehrst zurück mit den runden, freundlichen Augen

den schwarzen, im gelblichen Gesicht.

Du trägst „Melone“ und gehst wie ein Kaufmann

durch die Straßen von Triest wo die Kutschen widerhallen.

Niemand weiß von deinem „stillen Leiden“.

In Gedanken versunken, hält dich ein verborgener Fluss

ab von den kleinen Dingen des Zufalls.

Du denkst nicht an deine Erscheinung

an dein vagabundierendes Gehen.

Bei der prächtigen Villa, dem bequemen Gefängnis

nimmst du die übliche Haltung an.

Hier ist es wichtig zu lachen, zu lachen wie Chaplin:

die Frauen erwarten dich, neugierig,

lachen vor den zerstreuten Enkeln.

Nicht einmal du weißt in deiner Doppelbödigkeit

was die Wahrheit ist.

Gierig umklammerst du die Zigarette

gestattest dir ein Nickerchen.

Du rauchst, rauchst und verbrennst dich innerlich.

„Die letzte“ bettelst du, bevor du stirbst.

So sehr hast du den Tod gefürchtet, und dann kam er still und sanft.

„Weine nicht, Letizia, sterben ist gar nichts.“

Noch immer schmerzten die langen Jahre des Schweigens.

Die Geige, ach, ein Komplize!

Ein grausames Schweigen hattest du dir auferlegt

und dich verletzt.

Straßen bei Nacht

Auf Bürgersteigen gehe ich

über die müden Abfälle des Tages.

Der Nacht fehlt der Atem des Geheimnisses

das mich mit dem verlassenen Meer verband.

Ich suche es an den Ufern wo traurig sind

die Augen der Kinder gerichtet auf ein Meer

das dicht wie Pech nicht zu atmen scheint.

Ach, könnte ich die Traurigkeit ändern

den Himmel des Exils in schwarzer Nacht.

Tagsüber täusche ich mir einen Bodensatz an Beschäftigungen vor

während meine Träume ins Schleudern geraten.

                            *

Immer neu bist du mit deinem Wind

und den weißen Felsen mit einem Fuß im Blau.

Freudenspenderin scheinst du zu sein jedoch

wirbelst du ständig aufrührerische Seelen durcheinander.

Der Winter des Lebens

Die tiefsten Gedanken

nehmen mich nicht an der Hand.

Schläfrig hänge ich

ein müdes Blatt am Zweig.

Ein Rest in der irdischen Zeit.

Ein Schritt, der sich entfernt.

Nichts reißt mich aus dem Fluss der Dinge

keine Erinnerung an mein heimliches Brodeln.

Nur im Traum gehe ich ständig

steige Stufen, steile Pfade

wohin weiß ich nicht.

Ist das der Winter des Lebens?

Und doch gibt es immer noch  

das endlose Lauschen.  

Im Traum

Sie kommen im Traum

die vergessenen Tage.

Aus dem Unbewussten blühen sie wieder auf

die verlorenen Geschöpfe,

die verletzten Augenblicke, die unmöglichen Erwartungen,

die verbotenen Vereinigungen.

Aus einem Durchgang schießen Forderungen,

Blicke von Verdammnis, von enttäuschter Liebe.

Die Verschwundenen tauchen auf

in verwandelten Häusern, in unbekannten Landschaften

auf steilen Stufen, wir suchen sie

auf einstürzenden Korridoren.

Im Traum erfüllt sich

was uns nicht gewährt worden ist.

Unaufhörlich sickern sie durch

diese Erinnerungen, verborgen

im vermeintlichen Leben.

Zwei sind wir in einem.

Verlangen

Diese herabstürzende Lawine

ach, sie aufhalten können!

Wie ein Geizhals die Münzen zählt

festhalten können die verbleibenden Tage.

Ein Wort

Ein Wort:

„Tod“

und ich werde nichts als geträumt haben.

Ilse Pollack


 

Anmerkungen

[1] Mit dem italienischen Wort Foibe, abgel. von lat. Fovea, fossa, werden unzugängliche Höhlen im Karst bezeichnet. Der Begriff Foibe-Massaker bezeichnet brutale Kriegsverbrechen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg von jugoslawischen Partisanen an Italienern aus Rache verübt wurden, v.a. in den istrischen und dalmatinischen Küstengebieten. Vgl. dazu z.B. Cristin, Renato Hg. 2007, Die Foibe. Vom politischen Schweigen zur historischen Wahrheit/Foibe. Dal silenzio politico alla verità storica. Berlin u.a.: LIT.

[2] Nur wenige Orte wie das istrische Aurania/Vranja haben durch die Operationen der Partisanen Gewalt und Hinrichtungen erlitten, so betont Dario Alberti 1997 in seiner Monographie Istria. Storia, arte, cultura. Trieste: Lint.

[3] Daniela Picamus, bei der ich mich für die elektronische Übermittlung ihres 2014 publizierten Textes bedanke: La stesura di Lina Galli di ‚Vita di mio marito‘ di Livia Veneziani Svevo. In: Giorgio Baroni/Cristina Benussi Hg., L’esodo giuliano-dalmata nella letteratura. Atti del Convegno internazionale. Trieste, 28 febbraio-1 marzo 2013. Pisa/Roma: Fabrizio Serra Editore, 103-109.

[4] Der in Triest geborene und in Klagenfurt gestorbene Schriftsteller Piero Rismondo (1905-89) hatte bereits 1929 seine Übersetzung von Zeno Cosini publiziert; Senilità wurde in seiner Übersetzung unter dem Titel Ein Mann wird älter im Jahr 2000 im Wagenbach Verlag veröffentlicht.

[5] Galli, Lina 1989, I Sogni. Trieste: Edizioni Triestepress (mit einem Porträt der Dichterin von Marcello Mascherini und einem Vorwort von Licio Damiani).

[6] Die Gedichte stammen aus folgenden Lyrikbänden von Lina Galli: „10. Februar 1947“, „Esuli“, „Ganz leise sprichst du mit den Toten“, „Anders ist jenes Meer“. Aus: Notte sull’Istria. Poesie. Pola: L’Arena di Pola, 1958. „In Parenzo“. Aus: Eppure ancora un mattino. Padova: Rebellato Editore, 1973. „Svevo“, „Straßen bei Nacht“. Aus: Mia città di dolore. Poesie. Trieste: Società artistico letteraria, 1968. „Der Winter des Lebens“, „Im Traum“, „Verlangen“, „Ein Wort“. Aus: Il tempo perduto. Milano: Istituto propaganda libraria, 1986.

als wäre noch

                                              des nachts 
ich wache auf
                               und
ein silberner hase auf meinem bett 
                                                wieso kein weißes kaninchen
denke ich noch
                             bevor er
davonzuspringen sich anschickt


                 scheint er sagen zu wollen 
ich will dir nichts zeigen

bleib hier hase
                          rufe ich
doch da
                    müssen wir beide lachen

aus: »kairologoi – gegen die zeit«
erschienen 2023 im leipziger literaturverlag

Carsten

Wie bin ich nur in dieses Amt geraten? Nach jedem Arbeitstag denke ich, ich muss hinwerfen, ich kann das nicht mehr verantworten. „Wir haben ein Gesetz und danach muss er sterben“, tönt es mir im Ohr, dieser Ruf aus dem Volk, das so gierig darauf ist, zu verur­teilen, solange es selbst nicht vom Urteil getroffen wird. Ich muss nicht aufs Volk hören, wir leben in einem Rechtsstaat, aber ich muss aufs geschriebene Recht hören, und das kommt von einer mehr­heitsfähigen Regierung, das heißt, ich darf nicht aufs Recht hören, denn das ist oft nicht mehr­heitsfähig.

Ich bin, weil ich so häßlich ehrgeizig war, angetrie­ben von mei­nen Eltern, ausgerechnet im Strafrecht gelandet, dort, wo die Rechtsfindung am schwersten und folgenreichsten ist. Mit meinen Kollegen, bis auf wenige Ausnahmen, kann ich über diese Probleme nicht reden, auch nicht mit meiner Familie. Die Kollegen glauben, Gutes zu tun oder mindestens ihre Pflicht, und wollen gleich­zeitig ihre Bezüge sichern. Meine Familie würde, hörte sie von meinen Zweifeln, in Sorge um ihren Wohlstand geraten. Habe ich jemals einen Straftäter, den ich zu Gefängnis verurteilt habe, dort besucht? Habe ich jemals zum Aus­druck gebracht, dass in Wahrheit kein Mensch das Recht hat, einen anderen zu verurteilen? Die einzige Ausnahme ist vielleicht jener Verbre­cher, sei er Arzt oder Politiker, der im Interesse der Herrschaft und des Geldes zum Massenmör­der wird. In allen anderen Fällen befindet sich ein Richter in einer Notlage.

Ich weiß, der arme Tropf da vor mir ist selber Opfer eines Rechtsbruches, der aber ungeahn­det geblie­ben ist. Oder wird jemand freiwil­lig Dieb, Mörder, Kinderschän­der? Wer kann hier vom „frei­en Willen“ sprechen? Ach, es ist eine so tiefe andere Not in uns. Und ich soll dar­über hin­weggehen, um dem Recht genüge zu tun? Das „Recht“, das schützt die Reichen und Gesun­den. Die wollen sich ihren Status erhalten, darum müssen sie eine Handha­be gegen den Ar­men haben. Für das wirkliche Recht können wir nicht tief ge­nug schauen. Vor allem kann es niemanden geben, der es bewacht und durchsetzt. Die­ses Recht braucht nie­manden, oder nur jenen, der nicht aufs Recht pocht, sondern auf Barmherzig­keit.

Wenn ich im Schrank meine schwarze Robe sehe, denke ich stets, ich bin ein Sünder. Das denke ich, ob­wohl ich nicht an Gott glau­be, jedenfalls bin ich kein Christ. Ich müsste in die nächste Verhandlung mit einem Schlachterkittel gehen. Ich würde dem Täter sagen, wir wol­len dich schlachten, und ich soll den ersten Schlag ausführen. Du hast die Dumm­heit began­gen, eines anderen Recht zu verletzen. So bist du in dieses öffentliche, des wirkli­chen Rechts unfähige Feuer ge­raten. Jetzt urteilst nicht mehr du, sondern wir über dich. Das ist dein größ­ter Verlust. Ich will dir diese Gabe, diese Würde zurückgeben. Darum sage selber, wie du des an­dern verletztes Recht zu erstatten gedenkst. Was, glaubst du, wäre ge­recht und was kannst du auf dich neh­men?

Strenggenommen müssten wir das Strafmaß auftei­len auf alle, die an dir Unrecht verübt oder Hilfe unterlassen haben. Dann würde eine zehnjäh­rige Haftstra­fe vielleicht auf eine zweijähri­ge schrumpfen. Die andern erhielten ihre Haftstra­fe symbo­lisch. „Damit wären wir aber bei der Sippenhaftung“, höre ich sie schreien. Nein, nur wer erwischt wird, setzt sich dem Arm menschlicher Gerichtsbarkeit aus. Auch wird nicht dessen Urteil, der erwischt wird und ande­re be­lastet, abgemildert. Das Schlimme: Wir können nicht gerecht sein. Und zie­hen trotzdem stolz die Richterrobe an. Mei­ne Familie prahlt mit mir. Sie hält mich für einen mächtigen Mann. Ja, ich wirke so vernünf­tig, so ruhig, so abgeklärt. Dabei bin ich mir unend­lich lang­weilig, komm mir feige und ver­druxt vor. Für meine Nachbarn bin ich ein kli­nisch-aseptisches Ideal, ohne Fehl und Tadel. Verheira­tet, zwei Kin­der, Haus und Hund. Ich glaube indessen, ich bin schuldiger als die meisten Straftäter, de­ren Leben da vorne auf dem Stahl­rohrstuhl an mich ausgeliefert ist.

Aus „24 Portraits“, erscheint Sommer 2023, Leipziger Literaturverlag

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Saxon Road

Viele Jahre ist es her, einige Umzüge liegen hinter mir, da lebte in der Saxon Road in Saint Werburghs in England ein Mann namens Hardy. Seinen wirklichen Namen werdet ihr nicht erfahren, es genügt, daß ihr wißt, daß er sich selbst Hardy nannte, nachdem die Eltern ihn auf den Namen Adolf hatten taufen lassen, kurz vor Ende des Kriegs.

Hardy lebte in England so selbstverständlich wie nur irgendeiner. Er war verheiratet mit einer Engländerin, hatte eine Tochter mit ihr, die in Afrika jobbte, lebte geschieden in einem kleinen Haus am Stadtrand, das ihm nicht gehörte, inmitten einer Siedlung ähnlicher kleiner Häuser mit einem hohen Anteil Farbiger in der Nachbarschaft. Hardy grüßte jeden. Sobald die Tür sich zur Straße hin öffnete, Good morning! Hello! How are you?!, zu jedem, der eben vorüberging oder zufällig in Rufweite des Vorgartens oder auf der Straße stand. Kam der Gruß nicht zurück, wurde Hardy laut, Good mornig!! Hello!! How are you?!… Bloody bugger!

Auch ich war einer derer, die seinen Gruß zunächst nicht mit derselben Freizügigkeit hatten erwidern wollen, doch wir lernten uns kennen, und zu meinen angenehmsten Stunden in der Saxon Road gehörte die Muße in Hardys Wohnzimmer, hinter dem bay window, auf einer alten, mit einer etwas filzigen Decke überzogenen Couch, die Bücher durchblätternd, die dort im Regal standen. Tolstoi, Krieg und Frieden, auf Englisch, Bildbände zu England, ein Exemplar von Bruce Chatwin, What am I doing here? Die Frage stellte ich mir selbst, doch ich beantwortete sie mit Fantasieritten zu Ilfracombe, im Norden Devons, wo das Meer so schön schien wie in Portugal, und nie werde ich vergessen, wie die polnische Kavallerie, auf Seiten Russlands kämpfend, gegen Napoleons Truppen anritt und heroisch in der Strömung eines tiefen, breiten Flusses unterging.

Hardys kleines Wohnzimmer war cosy und meist leer. Das machte es mir noch lieber. Ich habe es rot in Erinnerung, vielleicht durch einen Teppich, wahrscheinlicher aber durch die Wände, die dunkelrot gestrichen gewesen sein dürften, eine Farbe, die ich in englischen Wohnzimmern nicht allzu oft gesehen hatte.

Hardy nannte mich Marcuse, wenn er nach Hause kam, die Tür ins Schloß werfend, auf dem Weg in die Küche, nach hinten, oder nach oben, die Treppe im Flur hinauf. Hello, Marcuse! Er hatte mich durch das seitliche Fenster aus dem Vorgarten gesehen und erwartete einen ähnlich saftigen Gruß, den ich ihm jedoch verweigerte, so lange, bis er auf dem Absatz umkehrte und sich über mein Schweigen beschwerte. Danach war es, Hello Marcuse! Nabend, Hardy!

Das ging so etwa ein Jahr lang oder etwas länger, bis Franziska bei ihm auszog, da Hardy das Land verließ und nach Deutschland zurückkehrte, um sich zur Ruhe zu setzen. Wir überlegten, das Haus zu kaufen, das sicher billiger war als irgendein anderes in derselben Stadt, unser Geld aber reichte auch dazu nicht.

Ich verdanke Hardy eine Reihe kleiner Geschichten, einen Tisch und die Hilfe bei einem Umzug. Er war, wie er sich selbst sah, easy going, wurde von seinen Freunden hinter seinem Rücken the professor of bad ideas genannt, was ich erst später erfuhr. Verglichen mit Hardy komme ich mir noch immer spießig vor. Er unterrichtete als assistant teacher an einer Schule, hatte tausend Nebenjobs, betreute junge Mitarbeiter eines Friedensdienstes in Coventry und war deshalb oft unterwegs. Das Wohnzimmer war dann leer, Franziska und ich allein im Haus oder in dem kleinen Garten, in dem Franziska Schneckenrennen veranstaltete, die sie fotografierte.

Doch zurück zu Hardys Geschichten. Eine davon zeigt ihn selbst in der Hauptrolle, wenn auch in einer unvorteilhaften, doch das macht sein Geständnis nur größer. Es ist der junge Hardy, in Deutschland noch, der erfolgreich einen neuen Namen erstritten hatte, ein junger Wilder auf dem Motorrad, der mit waghalsigen Manövern den Mädchen imponieren will und dabei rücklings vom Motorrad fliegt, sich den Kopf verletzt und lange im Krankenhaus liegt. Ich höre Hardys weiche, fast hauchende Stimme, wie er von dem Unfall erzählt, der ihn das Gedächtnis verlieren ließ, ein Grund, weshalb er von der Schule abging und später auf der Abendschule sein Abitur nachmachte. In seiner Stimme klang das Eingeständnis von Schuld mit, eine Art Selbstvorwurf nach so vielen Jahren. Seine Vitalität aber war ungebrochen.

Bärtig, grau, mit immer schütterer werdendem Haar, liebte er die Verkleidung, schlüpfte am Abend in verschiedene Rollen, ein hellblaues gestricktes, wollenes Käppi, in die Stirn gezogen, ein charmantes, verführerisches Lächeln, outete er sich beim Essen als queer, genoß den Eindruck, den es machte, und verwandelte sich vom Piraten in einen alternden Lustknaben, vom herumalbernden landlord in einen ernst dreinblickenden Politphilosophen. A character. Ich mochte ihn, brachte ihm aber nicht genügend Respekt entgegen, mißtraute ihm zudem, sah in ihm kurzzeitig den Verführer junger Knaben, was aber wohl ein völlig grundloser Verdacht war.

Kam er nach Hause, bat er Franziska um eine lange Massage, schwärmte von einer Vormieterin, die in Sachen Massage eine wahre Künstlerin gewesen sei, und schwärmte umso mehr, als Franziska ihm die Massage nicht zukommen ließ.

Ich sehe Hardy mit einer angebrochenen Weinflasche, in dem der Korken schwimmt, bei einer gemeinsamen deutschen Freundin, Renée, ankommen, eingeladen zu einem Essen. Da wir doch nun einander schon kannten, könnten wir es uns doch leisten, aus Förmlichkeit zu verzichten, der Wein sei gut und erst seit kurzem geöffnet, Prost! Ich höre ihn Renée, Na, Alte! nennen und sehe Renées leicht süßsaures Lächeln. Ich höre ihn lachen, etwas kurzatmig, immer um eine Geschichte bemüht, durchdringende blaue Augen, wie die Hardy Krügers, nach dem er sich nannte, das Lachen konnte glucksend werden, wie bei einem Jungen, feixend, schadenfroh, doch nie böse. Ich sehe ihn, am Steuer seines kleinen weißen Vehikels, schnittig die Kurven nehmend, den Arm zum Gruß herausgestreckt, lässig, ein Gesicht, das den anderen zum Lachen, zum Lässigsein aufforderte, immer in Bewegung, sehe ihn das Haus verlassen, um in einem Pub gemeinschaftlich Fußball zu schauen, eine ganz bestimmte Kneipe in Gloucester- oder Cheltenham Road, die ich nicht kannte. Und ich verdanke ihm eine weitere Geschichte, die Geschichte von Scouser, dem er zugeneigt war und von dem ein Foto in seiner Küche hing.

Dies ist die Geschichte von Scouser, wie ich sie gehört habe. Die Geschichte eines alten und wahrscheinlich einsamen Mannes aus Liverpool, der jahrelang in Bristol gelebt hatte, vermeintlich arm und ohne Freunde, ein Außenseiter wohl auch durch seine Homosexualität und Physiognomie. Klein und gedrungen, bärtig, das Gesicht von einem grauen Vollbart bedeckt, sommers wie winters mit einem Strohhut unterwegs, Captain Birds Eye, ein ewiger Wanderer. So erscheint er noch immer in meiner Vorstellung. Gesehen habe ich ihn nie. Außer auf einem Foto in Hardys Wohnzimmer.

Scouser, so die Geschichte, hatte viele Jahre inkognito Lotto gespielt und eines Tages offenbar einen größeren Betrag gewonnen. Niemand wußte es. Scouser lebte am Stadtrand in einer Bude, ich stelle sie mir vor wie die Hütte in einer Kleingartenanlage, und hatte kaum Nachbarn, keine Verwandte. Er verkaufte Eis und lebte zurückgezogen. Er brüstete sich mit dem Geld nicht, verpraßte es nicht und sagte anscheinend niemandem etwas. Und doch kaufte er offenbar groß ein, gab alles Geld dafür aus. Erst nach seinem Tod wurde es entdeckt.

Als man die Tür zum angrenzenden Schuppen aufbrach, flatterten hunderte bunter Kanarienvögel in einer riesigen Voliere, bis dahin unentdeckt, niemand wußte, daß es sie gab, kreischten und wirbelten Staub auf. Seltene, wertvolle Exemplare, in einer Wolke aus Federn und Flügeln, Singstimmen wie in einer Oper, eine höher als die andere. Ohrenbetäubend und so überraschend, als würde Scouser selbst vom Tod auferstehen.

Hardy starb in Deutschland, im Krankenhaus, an Apparate angeschlossen. Lange, nachdem auch ich aus England weggegangen war. Vor seinem Tod versammelte er die Freunde um sich, bat, die Apparate auszuschalten, und starb in ihrem Beisein, friedlich. Seine Leiche wurde verbrannt. Die Freunde nahmen die Asche mit sich oder einen Teil davon, fuhren nach Wales, auf den Gower, leerten die Asche ins Meer und schwammen durch sie.

Featuring : Boris Pasternak : Einzige Tage

Ich weiß die Tage noch im Laufe vieler Winter,
Da die verschwund’ne Sonne kehrt‘ zurück,
Und jeder Tag war einzig in dem Winter
Und überwinterte sein Glück.

Und ihre Folge taucht‘ aus Augenblicken
Hervor, die kürzer sind als Glück –
Der Tage einzig, wenn im Rücken
Wir spüren – Zeit beharrt und alles kehrt zurück!

Ich hab‘ die Tage sämlich noch im Kopf:
Der Winter nähert sich der Mitte,
Der Weg wird feucht, vom Dach es tropft,
Und auf dem Eis – der Sonne warme Schritte.

Und Liebende, wie ich im Schlaf sie sehe,
Kommen sich immer näher mit den Gesten,
Und in der Bäume kahler Höhe
Schwitzen vor Hitze Starenkästen.

Auf ihrem Ziffernblatt zwei Zeiger
Bleiben zusammen – frag‘ nicht wie!
Ein Tag dehnt über ein Jahrhundert sich die Zeit,
Und die Umarmung endet nie.

1959

was mein spiegel sich zeigt 

das käuzchen auf meiner stimme
ruft die nacht in mich
ohne erwartung
denn verlässlich zu spät
   schon meine geburt fiel 
   in die gestundete zeit
                  bin ich
risse durch die
das leben sich atmet 
wenn auch wirklich wohlverhüllt

doch kein spiegel liebt
die illusion
die ich ihm mache
selbst gut gelaunt nicht 

noch unveröffentlichtes gedicht
vom 20. januar 2023.

„Und ich trinke…“

i.m.P.C.

Die Gottesmutter in deiner Hand
Lässt sie wachsen zur nächtlichen Hülle.
Das farbige Bild an deiner Wand
Verleiht ihrer Stirn die Fülle –

Gieße die Milch bis an den Rand
Dieser einsam erwachenden Frühe,
Irgendwann aus dem Sonnenbrand
Schält sich der Lohn für die Mühe.

Irgendwo in dem Weltenbrand
Öffnet sich dann ein Auge,
Dass seine Kehle der Mitternacht
Ein Fetzchen Licht entsauge.

Hochdruck- und Tiefdruckgebiete dann
Werden den Wind mit Zahlen
Füttern, bis in dem Datenleck, das wir sind,
Neu ersteht unser Wille durch Wahlen.

Maschinen, Maschinen fahren vorbei,
Mit ihnen verfliegen Träume und
Der darin sitzt ist irgendwie Brei
In den kosmischen irdischen Räumen.

dem dichter jan skácel

vielleicht hast du dem werden
             nicht so getraut
wie der duftenden rose
die gegen dein ohr schon blühte
oder dem wein daheim
                       schon reif im glas

vielleicht hast du den frühlingen misstraut
ihren versprechen nach vollendung
weil zerbrochen schon 
zu viele andere versprechen
aufgehäuft dir wurden

an deinem grab im regenmärz
zusammen mit deinen gedichten 
von späten sommern und großen herbsten
lob ich für dich den frühling
und den samen
der erst im boden liegt
und einmal linde werden wird

noch unveröffentlichtes gedicht,
das nach dem besuch am grab von
jan skácel in brno entstanden ist.

O Mistério da Pietà de Miguel Ângelo

 (para Matteo Pupillo, com amizade)

No fino mármore

Eis o rosto esculpido

da Amada

Que tem ao colo o corpo

Do Homem crucificado

Já foi seu outrora quando Virgem

E é de novo seu, agora divinizado

5 de Abril, 2023

Yvette K. Centeno

Das Geheimnis der Pietà von Michelangelo

(für Matteo Pupillo, in Freundschaft)

Im erlesenen Marmor

Das Gesicht modelliert

der Geliebten

Auf ihrem Schoß der Leib

Des gekreuzigten Mannes

Schon damals ihr, als sie Jungfrau war

Jetzt wieder ihr, zum Gott erhoben

(aus dem Portugiesischen von Markus Sahr)

Winterzeit

Einst zogen die Horden

Lärmend vorm Fenster

Entlang : Jugendliche

Im Kraftrausch : noch

Nicht lange her : drei

Jahre vielleicht : seitdem

Ist das Leben erstarrt

Alle glotzen : wie’s scheint

Auf die kommende

Katastrophe : Menschheit

Am Abgrund : no

Future : last

Generation : Krieg

Dem Krieg : das hatten wir

Alles schon einmal

Vor einhundert Jahren

Vor tausend Jahren

Vor zehntausend Jahren

Vor 60 Millionen Jahren

Die Dinosaurier

Haben sich nicht geändert : als

Der Komet auf die Erde

Fiel : um wieviel

Weniger der Mensch

An die Mächtigen

Wenn ihr wieder Waffen liefert,
Oder Soldaten in die Welt schickt,
Die für euch kämpfen und sterben,
Wenn ihr Bücher totschweigt,
Das gedruckte Wort bewertet,
Autoren öffentlich missbilligt,
Wenn ihr einfältig urteilt,
Weil ihr ganz genau wisst,
Was gut und richtig,
Was böse und falsch ist,
Wenn ihr Menschen ausladet und
Redner zum Schweigen bringt,
Wenn das freie Wort wieder
Zu einer Mutprobe wird,
Wenn Wissenschaftler für euch
Überwachungsapparate erfinden,
Dann tut ihr das,
Weil ihr die Macht dazu habt.
Aber ich versichere euch:
Ihr seid durch mich
Dazu nicht ermächtigt,
Ihr handelt nicht
In meinem Auftrag!

Zwischen Himmel und Erde

Zur Anthologie taiwanischer Literaturen, herausgegeben von Thilo Diefenbach

Ich beginne gerne von hinten. Wohl wissend, dass chinesische Bücher dort beginnen, wo europäische Bücher aufhören. Sie werden von hinten aufgeschlagen und rückwärts aufgeblättert. Vor mir liegt „eine Anthologie, die nicht übertroffen werden wird“ – mit diesem Superlativ von Paul Ingenday auf der vierten Umschlagseite eingestimmt, schlage ich das Buch auf. Türkisblaue Vorsatzseiten erinnern an Meeresrauschen und einen strahlenden Himmel. In Tintenherz hat Cornelia Funke das Vorsatzpapier mit dem Vorhang im Theater verglichen: Zu Beginn öffne es den Blick auf die Bühne, auf der das Buch spielt; am Ende symbolisiere das Vorsatzpapier, wie sich der Vorhang wieder schließt. In der Anthologie Zwischen Himmel und Meer ist das Vorsatzpapier vorn und hinten türkisfarben – es ist also egal, ob wir hinten oder vorn zu lesen beginnen. Wenn wir – europäisch von hinten, chinesisch von vorn – anfangen, begegnet uns zuerst ein Foto, das von den Bergen Taiwans Ostküste übers Meer hinweg geschossen wurde. Ausgedehnte Pinienwälder, die abrupt an der Wasserkante enden, wo der Himmel mit Horizont ansetzt. Der Betrachter blickt gewissermaßen in Richtung der Westküste Amerikas. Eine Perspektive, um die es im Buch explizit nicht geht, die aber unausgesprochen methodisch zugrundeliegt. Das Foto trägt keinem Namen, nur einen Hinweis als Bildunterschrift: siehe Seite 20. Also blättern wir im europäischen Sinn nach vorn, traditionell chinesisch ans hintere Ende des Buches. Hier offenbart der Herausgeber und Übersetzer, dass ihn dieser Anblick zum Titel des Buches inspiriert habe. Es handelt sich um ein altes Motiv: Himmel und Erde, der Raum zwischen den vier Meeren – das ist schon in der altchinesischen Literatur die natursymbolische Beschreibung des „Reiches“, des herrschenden lokalen Staates. Sympathisch, dass das Buch mit einem Epilog in Form eines zweisprachigen Gedichts endet (bzw. anfängt), einem Gedicht, das die Insel Taiwan auf geradezu universelle Weise als Menschheitsthema beschreibt: „Ich mag den Umriss dieser Insel … In diesem Augenblick, da kehren wir – postume Kinder unsrer großen Erde – zurück zu einem schlichten Glauben.“

Die Anthologie selbst ist nicht zweisprachig konzipiert, das hätte ihren Umfang von knapp 550 Seiten nahezu verdoppelt. Doch: immerhin die Gedichte sind auch im Original wiedergegeben. Die ausgewählten Texte repräsentieren – und das ist erstmalig – sechs Sprachen, die in der Kultur und Geschichte Taiwans eine Rolle gespielt haben: indigene Sprachen, klassisches Chinesisch, Taiwanesisch, Hakka, Japanisch und Mandarin. Den Texten ist ein informatives Vorwort des Herausgebers und Übersetzers Thilo Diefenbach vorausgeschickt, das die wechselvolle Geschichte der Insel knapp zusammenfasst und zugleich die chronologische Gliederung des Buches erklärt. Tatsächlich dürfte es ein Alleinstellungsmerkmal dieser Anthologie sein, sich im ersten, etwa einhundert Seiten umfassenden Teil der mündlichen Überlieferung – in modernes Chinesisch transkribierten – Texte der austronesischen Ureinwohner Taiwans zu widmen. Die 16 indigenen Volksgruppen bilden heute nur noch zwei Prozent der Bevölkerung. Sie wurden in der zwischen Holländern, Japanern und Han-Chinesen wechselnden Fremdherrschaft zunehmend unterdrückt und verdrängt. Erst in den letzten Jahrzehnten erfahren die Sprachen der Ureinwohner mehr Akzeptanz und Förderung. Bemerkenswert ist die lange Ballade von der Überfahrt nach Taiwan, im Buch als Elegie bezeichnet, tatsächlich eher ein Lamento, ein Klagelied, ja sogar eine Taiwanbeschimpfung, von einem unbekannten indigenen Autor, niedergeschrieben in chinesischen Schriftzeichen um 1938. „Ich rate dir dringend ab: setze niemals nach Taiwan über! Taiwan ist so etwas wie die Schwelle zum Dämonenreich: Tausende Menschen kommen hierher, nur um die Straße des Todes zu betreten, und wenn sie dann tatsächlich sterben, kümmert das niemanden.“ Diese Sätze klingen nach Ironie und Sarkasmus, sie beinhalten eine doppelbödige Wahrheit.

Der zweite Teil mit Beispielen aus der schriftlich fixierten Literatur Taiwans ist deutlich umfangreicher als der erste Teil der mündlichen Überlieferungen. Der Leser wird auf einen Ritt durch Texte aus dem 17., 18., 19., 20. und dem Anfang des 21. Jahrhunderts mitgenommen. Die meisten Texte sind belletristischer Natur, aus der früheren Zeit meist Gedichte, aus der Gegenwartsliteratur meist Prosasplitter, kurze Erzählungen. Zuweilen sind Essays dazwischen gestreut, z.B. Betrachtungen zur multiethnischen Literatur Taiwans, zur Industrialisierung, zur Rolle der christlichen Kirche oder über den Flughafen in Taipeh. Auf diese Weise erhält der Leser nicht nur einen Eindruck von abgehobenen literarischen Diskursen, sondern auch von Problemen aus der Lebenswirklichkeit. Besonders erkenntnisreich für den Leser, der noch nicht mit der taiwanischen Literatur vertraut ist, dürften die z.T. recht umfangreichen biographischen Anmerkungen zu den Autoren sein, die der Herausgeber jeweils unter die Übersetzung gestellt hat – insofern ist die Anthologie auch ein Kompendium und Lexikon der taiwanischen Literatur. Ein Beispiel dafür ist der erste Eintrag zur schriftlich überlieferten Literatur. Es handelt sich um das achtzeilige Gedicht Entwürfe aus der Bucht von Shen Kuangwen aus dem Jahr 1658. Der zweiseitige Kommentar des Übersetzers schildert die Lebensgeschichte des Dichters und ordnet sie kenntnisreich ins Zeitgeschehen ein. Auf diese Weise erhält der Leser ein vertieftes Bild der taiwanischen Kultur: Es werden nicht nur abstrakte Zusammenhänge geboten, sondern sehr persönliche Einblicke, die auf poetische Weise Geschichte vermitteln. Apropos Poesie: hier ist anzumerken, dass der Übersetzer selbst kein Dichter ist, sondern von der Wissenschaft (Sinologie und Germanistik) herkommt, und seine Lyrikübersetzungen zuweilen etwas sperrig oder gestelzt wirken und sich nicht immer klar auf die Vorlage zurückbeziehen lassen. Das Bemühen, um eine poetische Ausdrucksweise ist den deutschen Versionen anzumerken. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass einige der Texte dieser Anthologie von sieben weiteren Übersetzerinnen und Übersetzern ins Deutsche übertragen wurden. Gewinnbringend für den Leser ist vor allem der weite Horizont und Gründlichkeit der Quellenkenntnis, mit dem Thilo Diefenbach die Textauswahl vorgenommen und die Anmerkungen zu den Texten zusammengestellt hat.

Jewgeni Onegin: Kapitel eins, zweite Strophe

So dachte der junge Taugenichts
In seiner staubenden Kutsche bei Nacht,
Der willens Zeus‘ höchsten Gerichts
Zum Erben all seiner Verwandten gemacht.
O Freunde Ljudmilas und Ruslans!
Mit dem Helden meines neuen Romans
Ohne Umschweife oder falsches Lachen
Gestattet mir Euch bekanntzumachen:
Onegin, mein Freund und Jugendverweser,
Ist geboren an den Uferns des Flusses Newá,
Und vielleicht stammt Ihr von ebenda
Oder glänztet dort, mein Leser;
An Orten, wo einst feierte auch ich:
Doch ist der Norden schädlich für mich [1].

[1] Geschrieben in Bessarabien.

Innenwelten (II)

Der Rausch

Lieber Unfremder,

ich habe von anderen erfahren, die von anderen erfahren haben, dass es dir gutgeht.

Dass der Rausch nachgelassen hat.

Ich denke, sie haben recht.

Vielleicht hast du es mir angemerkt, bei unserer letzten Begegnung. Hoffentlich aber hast du es dir angemerkt.

Unsere letzte Umarmung war ein nüchterner Schatten dessen, was unsere vorletzte noch gewesen war: Das unendliche Dankedankedanke. Das unendliche Wiedererkennen in

Sturmangst

Scheinwerfergrün

Scham

eines anderen.

Scham – ja, das habe ich gefühlt, als ich heimgekehrt bin. Scham und verblasster Glitzer und

Was soll ich mit meinem Leben nun anfangen?
Was soll ich mit meinem Leben nun anfangen?

Was soll ich mit meinem Leben –

Lieber Unfremder,

der Rausch hat nachgelassen. Denn selbst nachdem mein Leben verändert wurde – irgendwann muss es weitergehen.

Darin liegt die Eleganz des Glücks: Es ist kein basslastiger Schlag, durch Lautsprecher verzerrt.

Es ist das leise Du-ergänzt-mich eines Vertrauten, in einer Nacht ohne Scheinwerfer.

Es ist die Stille zwischen der Musik.

Ich habe den Zettel mit deiner Mailadresse in einer Schublade gefunden. Ganz hinten, hinter einer Flasche abgelaufenem Desinfektionsmittel.

Vielleicht schreibe ich dir.

Eines Tages.

Wenn ich herausgefunden habe, ob die Scham am Ende nur der kleine Bruder des Rauschs ist.

Denn das Glück, lieber Unfremder – das habe ich herausgefunden –

Das Glück ist nur mit sich selbst verwandt.

Schließlich muss es niemanden sonst erfüllen.

Nur sich selbst.

Enya Laier

Das Universum in mir

Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich mein eigenes kleines Universum.
Gefühle, Gedanken und Eindrücke, die wie kleine Planeten um die kleine Sonne in meinem Inneren kreisen.
Meine innere Sonne.
Es gibt Momente, in denen ich ihre Wärme und ihr Licht deutlich spüre. Momente, in denen es sich anfühlt, als würde ich von innen heraus leuchten.
Und dann gibt es die anderen Tage, an denen all das Licht und die positiven Gedanken in ein schwarzes Loch hineingezogen werden und alles durcheinander gebracht wird.
Dunkle Stunden, die sich endlos hinziehen.
Stunden, in denen die Sonne sich zu verdunkeln scheint.
Ich fühle die  Leere und die Kälte.
Doch nach einer Weile wird die Anziehungskraft des schwarzen Loches schwächer. Langsam entstehen neue kleine Planeten aus Neugierde, Träumen und Zuversicht.
Die Sonne beginnt wieder zu strahlen und ich spüre ihre Wärme.

Annika Fitsch

Frage an den Frühling

Das Frühjahr kommt,
Es wird mal wieder März.
Die Welt steht Kopf,
Es fehlt an Hirn und Herz.

Ich seh mich um und merke
Es ist noch immer Krieg.
Tagtäglich wird geschossen,
Sie sprechen schon von Sieg.

Vonnöten sind nicht Waffen,
Es braucht viel mehr Verstand.
Wir möchten friedlich leben,
Ohne Gewehre in der Hand.

Menschen wollen Frieden,
Verdient wird am Gefecht.
Die Bosse freuen sich leise,
Die Welt ist ungerecht.

Sie lügen und sie täuschen,
So war es immer schon.
Die Bäume tragen Knospen,
Trotz allem und zum Hohn.

Verhandelt um den Frieden,
Er nur ist das einzige Ziel!
Setzt euch an einen Tisch!
Verlangen wir zu viel?

Die Guten

Wir sind so perfekt
Mit viel Intellekt,
Können nicht ruhn
In unserem Tun.
Wir sind die Guten.

Wir spielen auf Zeit,
Exportieren das Leid.
Wollen was taugen,
Verschließen die Augen.
Wir sind die Guten.

Wir liefern Waffen,
Die Frieden schaffen
Überall auf der Welt,
Wir tun das für Geld.
Wir sind die Guten.

An unserem Wesen
Sollen alle genesen.
Wir sind so schlau,
Wir wissen genau:
Wir sind die Guten.

Wir kennen uns aus
In ganz vielen Dingen.
Selten nur kann man
Uns mal bezwingen.
Wir sind die Guten.

Wir sind allezeit
Zum Helfen bereit,
Wollen was gelten
Und fragen uns selten:
Sind wir die Guten?

Echo auf: Cees Nooteboom

Mein Onkel Antonin Alexander war ein merkwürdiger Mann. Als ich ihn zum ersten Mal sah, war ich zehn Jahre alt und er ungefähr siebzig. Er wohnte in einem häßlichen, riesengroßen Haus im Gooi, das vollgestopft war mit den eigenartigsten, nutzlosesten und scheußlichsten Möbeln. Ich war damals noch sehr klein und kam nicht an die Klingel. Gegen die Tür zu hämmern oder mit der Klappe des Briefkastenschlitzes zu klappern, wie ich es sonst immer machte, traute ich mich hier nicht. Ratlos ging ich schließlich um das Haus herum. Mein Onkel Alexander saß in einem wackligen Sessel aus verblichenem violetten Plüsch mit drei gelblichen Schondeckchen, und er war tatsächlich der merkwürdigste Mann, den ich je gesehen hatte. An jeder Hand trug er zwei Ringe, und erst später, als ich nach sechs Jahren zum zweiten Mal zu ihm kam, diesmal um zu bleiben, konnte ich erkennen, daß das Gold Messing war und die roten und grünen Steine (ich habe einen Onkel, der trägt Rubine und Smaragde) buntes Glas.

»Bist du Philipp?« fragte er.

»Ja, Onkel« sagte ich zu der Gestalt im Sessel. Ich sah nur die Hände. Der Kopf lag im Schatten.

»Hast du mir etwas mitgebracht?« fragte die Stimme wieder. Ich hatte nichts mitgebracht und sagte: »Ich glaube nicht, Onkel.«

»Du mußt doch etwas mitbringen.«

Ich glaube nicht, daß ich das damals komisch fand. Wenn jemand kam, mußte er eigentlich etwas mitbringen. Ich stellte mein Köfferchen ab und ging zurück auf die Straße. Im Garten neben dem meines Onkels Alexander hatte ich Rhododendren gesehen, und ich schlich vorsichtig durch die Pforte und schnitt mit meinem Taschenmesser ein paar Blüten ab.

Wieder stand ich vor der Terrasse.

»Ich habe dir Blumen mitgebracht, Onkel«, sagte ich. Er stand auf, und nun sah ich auch sein Gesicht.

»Ich weiß das außerordentlich zu schätzen«, sagte er und verbeugte sich leicht. »Wollen wir ein Fest feiern?« Er wartete meine Antwort nicht ab und zog mich an der Hand ins Haus. Irgendwo knipste er eine kleine Lampe an, so daß das sonderbare Zimmer gelblich erleuchtet wurde. In der Mitte dieses Zimmers standen lauter Stühle – an den Wänden drei Sofas mit vielen weichen Kissen in Beige und Grau. Vor der Wand mit den Terrassentüren stand eine Art Klavier, das, wie ich später erfuhr, ein Cembalo war.

Er wies auf ein Sofa und sagte: »Leg dich hin, nimm dir viele Kissen.« Er selbst legte sich auf ein anderes Sofa, an der Wand mir gegenüber, und dann konnte ich ihn wegen der hohen Rücken der Stühle nicht mehr sehen, die zwischen uns standen. »Wir müssen also ein Fest feiern«, sagte er. »Was machst du gern?«

Ich las gern und sah mir gern Bilder an, aber das kann man auf einem Fest nicht machen, dachte ich, also sagte ich das nicht. Ich dachte kurz nach und sagte dann: »Spätabends mit dem Bus fahren, oder nachts.«

Ich wartete auf Zustimmung, aber die kam nicht.

»Am Wasser sitzen«, sagte ich, »und im Regen herumgehen und manchmal jemanden küssen.«

»Wen?« fragte er. »Niemand, den ich kenne«, sagte ich, aber das stimmte nicht.

aus: Cees Nooteboom, Philipp und die anderen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga von Beuningen. Frankfurt a.M. 2003.

Der Fischer von Eftalou


In meinen Kindheitserinnerungen ist der Strand von Eftalou auf der griechischen Insel Lesbos meist der Ort des Geschehens. Unzählige Stunden habe ich am Strand vor dem Restaurant meiner Eltern verbracht. Oft fiel mein Blick auf die kleine Fischerhütte auf dem Hügel, wenige Meter entfernt. Die Fischerhütte war oftmals fast eingestürzt und schien auf den ersten Blick verlassen zu sein. Ich wusste jedoch, dass dort ein Mann lebte. Der Fischer. Der Mann in der Fischerhütte hatte viele Namen. Viele nannten ihn Antonis, andere Antonis Psarros oder Psarantonis (zu Deutsch bedeutet dies so viel wie der Fischer Antonis) oder bezeichneten ihn nur als Sohn von Psarogiannos (Sohn des Fischers Giannis). Für mich war er immer nur der Fischer.
Der Fischer lebte allein in seiner Hütte und fuhr jeden Morgen mit einem kleinen alten Fischerboot aufs Meer zum Fischen hinaus. Ins Dorf kam er nie. Viele Jahre zuvor hatte er das Dorf verlassen, da sich die Nachbarn über die laute Musik seines Radios beschwert hatten. Daraufhin hatte er beschlossen, nach Eftalou zu ziehen, da er dort so laut Musik hören könne, wie er wollte.
Er ging so gebückt, dass sein Oberkörper mit seinen Beinen fast ein L bildeten und trug immer ein weißes Tuch um seinen Kopf gebunden. Der Fischer war bekannt für seine Liebe zu Tieren. Viele bezeichneten ihn als Tierflüsterer. In seiner Fischerhütte kümmerte er sich um 21 Katzen und 17 Hunde. Es lebte sogar eine Möwe beim Fischer, die nach dem Tod ihres Partners ein Zuhause bei ihm gefunden hatte und dort ihre Trauer nach langer Zeit überwinden konnte. Die Möwe leistete dem Fischer jeden Tag Gesellschaft und wartete am Ufer mit den Katzen und Hunden auf seine Rückkehr vom Fischen. Bei seiner Rückkehr wurde er von allen Tieren sehnlichst erwartet. Viele der Hunde und Katzen sprangen sogar ins Wasser, sobald sie sein Boot erkannten und schwammen auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
Der Fischer hatte für jedes seiner Tiere einen Namen. Jedes von ihnen hatte seine eigene Persönlichkeit und eine besondere Beziehung zu ihm. Selbst die Tatsache, dass die Namen unabhängig vom Geschlecht der Tiere männlich oder weiblich waren, war auf des Fischers Ansicht zurückzuführen, dass manchmal ein Persönlichkeitsmerkmal stärker ausgeprägt sein konnte als das Geschlecht. Eine Katze namens Arafat zum Beispiel war eine Rebellin und dies unterschied sie von den anderen Katzen, nicht ihr Geschlecht.

An einem Ende des Strandes hatte der Fischer eine Grube ausgehoben, die tief genug war, um mit Meerwasser gefüllt zu werden. Er nutzte sie als Aquarium und hielt darin Fische, die er als schön oder besonders empfand.
Ich sah den Fischer nur wenige Male, wenn ich zügig an seiner Hütte vorbeiging. Viele der Hunde waren Fremden gegenüber aggressiv und ich wollte mein Glück nicht auf die Probe stellen. Mein Vater erzählte mir, dass der Vater des Fischers, Psarogiannos, Fischer an der gegenüberliegenden Küste Kleinasiens war und 1922 als Flüchtling nach Lesbos kam. Über Psarogiannos wurde gesagt, dass er ein einsamer und eigenartiger Mann war. Sein Sohn schien in die Fußstapfen seines Vaters getreten zu sein.
Der Fischer war nicht nur mit dem Meer, sondern auch mit einer Frau verheiratet. Sie machte sich jeden Tag zu Fuß auf den Weg zur Fischerhütte, um ihrem Mann etwas zu essen und frische Kleidung bringen zu können. Oft hatten wir sie getroffen und mit dem Auto mitgenommen, da der Weg aus dem Dorf nach Eftalou und zurück über 10 Kilometer war. Damals konnte ich nicht verstehen, wieso sich ein Mensch höheren Alters diese Tortur jeden Tag aufs Neue freiwillig antun würde. Heute frage ich mich, ob dies ein Beispiel wahrer Liebe war.
Sollten wir uns vielleicht ein Beispiel am Fischer nehmen? Unser Leben so führen, wie es uns am meisten erfüllen würde und dort sein, wo wir so laut Musik hören können, wie wir es uns wünschen?
Als kleines Mädchen hatte ich Angst vor dem Fischer. Als erwachsene Frau habe ich Respekt.


Anna Kandyli

Ein schöner Mensch

Es war Sonntag. Mittags. Bei uns zu Hause war es üblich, dass sich die Verwandten jeden Sonntag trafen und gemeinsam aßen. Es war Brauch in der Familie. Ich half meinem Großvater und meinem Vater beim Braten des Fleisches. Draußen im Hof. Dann tauchte vor mir  die große, blasse Gestalt eines Mannes auf. Er war ein Freund meines Großvaters, den er schon lange nicht mehr gesehen hatte, da der jetzt in Heraklion lebte und zu Besuch nach Rethymno gekommen war. Ich sah ihn zum ersten Mal. Wir stellten uns vor. Eftichis hieß er. Ein sehr freundlicher und sanfter Mann. Ich fragte ihn, wo er arbeitete, und er antwortete, dass er sein ganzes Leben lang als Lederhändler gearbeitet hatte. Er erklärte mir, dass diese Arbeit vor allem in früheren Zeiten sehr viel Geld eingebracht hatte. Aber jetzt war er offenbar im Ruhestand. Ich war natürlich überrascht, dass er allein gekommen war. Ich fasste etwas mehr Mut und fragte ihn.

„Warum sind Sie heute allein gekommen? “

 (Ich war 17 Jahre alt und selbstverständlich sehr neugierig).

„Wo sind Ihre Frau oder Ihre Kinder? “

Er schwieg einige Sekunden lang und antwortete dann:

„Meine Frau ist vor 2 Jahren an Krebs gestorben, und ich habe wenig Kontakt zu meinen Kindern, da ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe und viel von zu Hause weg war. Ich habe also nicht die Beziehung, die ich gerne haben würde“. Das traf mich. Es war definitiv nicht die Antwort, die ich erwartet hatte. Besonders, wenn man bedenkt, dass sein Name Glück bedeutet. Er lächelte, als er meine Verlegenheit sah, und fuhr fort.

„Nimm nie etwas als selbstverständlich hin, Petros. Das Leben ist voller Überraschungen und voll großer Sorgen. Aber besonders die Familie muss man lieben und respektieren, als wäre es der letzte Tag, an dem man mit ihr zusammen sein kann. Mach nicht die Fehler, die ich gemacht habe. Die Familie ist der Anfang und das Ende. Alles andere ist zweitrangig“.

Mit diesen wenigen Worten  rührte er mich sehr, als ob ich in diesem Moment seinen Schmerz spürte, obwohl ich ihn erst seit zwei Stunden kannte. Wir haben gegessen und dann hat er uns alle auf einen Kaffee eingeladen. Er hat uns alles gekauft, was wir wollten. Nach dem Kaffee fragte ich ihn:

„Warum haben Sie das getan?“.

„Was ich hier sehe, ist selten : Lachen, Freude, Liebe. So viele Verwandte, die so eng miteinander verbunden sind, als wären sie enge Freunde. Das ist eine unschätzbare Sache“.

Diese einfachen Gefühle, die ich für selbstverständlich gehalten hatte, waren für einen anderen Menschen etwas Seltenes.

Ich blieb still.

Er umarmte meinen Großvater, grüßte uns alle und fuhr nach Heraklion zurück.

Petros Dramitinos

DER SCHWERE FLUSS VERSINKT

so beginnt das Gedicht „Isolation“ des Dresdener Schriftstellers, Lyrikers, Romanciers, Übersetzers und Historikers Peter Gehrisch, das ein Miniatur-Mitteleuropa, ja, ein Syndrom, das „Mitteleuropa-Syndrom“, zum Leben erweckt und mit dem zahlreiche östliche Nationen die Deutschen stigmatisiert haben, indem sie ihnen die Hauptverantwortung für geistige und wirtschaftliche Begrenzungen zuschrieben sowie für die Art und Weise, wie (erfolgreich oder nicht) Barrieren überschritten werden.

Um es gleich vorweg zu sagen: Mit diesem scheinbar farblosen Begriff hat Milan Kundera, der tschechische Dissident, die Büchse der Pandora geöffnet. Mitteleuropa hat keine Grenzen. Heute bedeutet das eigentlich „etwas“, was mythologisch einen Nerv impliziert, obwohl unterschiedlich auf dem jeweiligen Gebiet, versteht man einen Mythos für sich selbst, seine Brauchbarkeit – und auch konkrete Narrative sind hier unterschiedlich. Nicht selten, sich gegenseitig widersprechend. Außerdem sind dies die Länder, in denen es spukt.[1] Von den Vogesen bis zur Weichsel oder vielleicht dem Bug, oder vielleicht der Newa und dem Don, schwer zu erraten, vom Marmarameer bis zur Ostsee. Denn weder der romantische Nationalismus noch der Mythos in seinen rätselhaften Mutationen, eingesaugt vom Alptraum der Totalitarismen, die hier herrschten, noch die Analyse der Psyche und… die Rebellion im Schoße der Psychoanalyse, können auf diesem Gebiet vermieden werden.

Peter Gehrisch hat in der Tat auf einen Mythos zurückgegriffen – angeblich den ältesten, angeblich wahrscheinlich paläolithischen – den Orpheus-Mythos. Und wer Orpheus war, was Orpheus bedeutet, weiß jeder – und niemand weiß es. Gerade deshalb war die Essenz dieser Animation, ein absurdes Gedicht aus Worten, Musik, Groteske zu empfinden, und auch aus Schuld, ein Gedicht, das in seinen Worten wie Glaskugeln zerspringt (so formuliert zumindest einer der Orpheus-Projektteilnehmer, Gert Neumann, sein eigenes Motto). Dieses Treffen fand genau am Treffpunkt der Jahrtausende statt, und zu allem Überfluss in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze (wir befanden uns noch nicht im Schengen-Raum) [2]. Ein Gefühl der Schuld? – Ein anderer Zeitzeuge, Thomas Bernhard, verbot die Veröffentlichung und Aufführung seiner Werke in Österreich bis 2059, da sich die österreichische Öffentlichkeit nur als Opfer des Nationalsozialismus sieht und eine Entnazifizierung ablehnt.

Der Mythos muss diese Fäden gezogen haben. Mit jedem seiner „Themen“ bringt uns jener Mythos zurück zum Konkreten, zum Realen, zur Erde, wie wir sie erlebt haben, auch von Seiten ihrer geistigen Nebel, Mumien, Zwänge, Bedingungen, die höchst unterschiedlich, aber immer konkret von jenen verarbeitet wurden, die uns in die Welt gerufen haben. Die uns beschützt haben – aber vor etwas Konkretem, das eine eigene konkrete Verwirrung in unsere Köpfe brachte. Diese wahnsinnig vorausschauende Szene bricht zusammen und hebt sich im Laufe der Zeit, manchmal sogar augenblicklich. Doch jede Kontrolle, jeder gewollte Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen, endet in der Verdrängung.

Der Mythos muss diese Akkorde angeschlagen haben, und sei es nur, weil jeder von uns, den Teilnehmern des Orpheus-Projektes im weitesten Sinne, gerade erst, um ehrlich zu sein, eine solche Übertragung der Orpheus-Figur aus der mit Rilke, Mi?osz, Ko?akowski, Graves und Grimal geschmückten Bibliothek auf unser eigenes Ich projiziert hat, was einen Abstieg in die Gefilde der Hölle impliziert, einen Abstieg, der, gelinde gesagt, entleert ist, eine Rückkehr ohne die in Eurydike verkörperte Seele. Wir haben das Recht, in Orpheus die Tragödie des seelenlosen Künstlertums und der Menschlichkeit ohne Kontakt zum tiefsten Selbst zu erkennen, das Drama des begabten Kindes – um Alice Millers berühmten Ausdruck zu verwenden; wir sehen solche Orpheus-Gestalten in Rilke, Mi?osz und so weiter. Die meisten von uns, so vermute ich, haben diese Figur in einem noch vorläufigen Selbst ruhen lassen und weigern sich vorerst, die Möglichkeit der Selbsterkenntnis zuzulassen, von Orpheus vernarbt, beschmutzt, befleckt und in die Bereiche der Schweinischen gezogen zu werden – und dass Orpheus’ Gesang wirklich wie die Schuppen eines Reptils glänzen kann: einer Eidechse, einer Viper oder vielleicht eines prähistorischen Tyrannosauriers. In der

Kammer der Atzung –

Im Schmalz der dein Körpergebilde groß werden läßt

Du weißt nichts von Totholz

Dein Eden heißt Moder, Mikroben

Gewebe, in welchem sich dieses Leben erhält

Schwelgend

Wenn ich also Gehrisch begleite, versuche ich gar nicht erst, die vielen zugegebenermaßen spielerischen Aspekte seiner Erfahrung zu verstehen. Ich ziehe es vor, darüber zu sprechen, wie bestimmte psychische Situationen nicht anders als in Totschweigen oder einem Wimpernschlag, manchmal auch einem etwas schiefen Gedicht ausgedrückt werden können – eben so, insofern es ein Gedicht ist – ein Gespräch mit sich selbst, Poesie, und nicht ein mehr oder weniger geschicktes Zusammenbasteln von Versen, wenn wir nicht in uns selbst blicken, sondern in einen Spiegel. Die Seele ist das Schicksal, das Schicksal ist die Seele, sagte einst Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, ebenfalls ein Sachse (resp. Sachsen-Anhaltiner), Prosaiker und Dichter, gemeinhin bekannt als Novalis. Mit dem Wort Seele habe ich dennoch meine Mühe, da ich bei aller Demut vor der philosophischen Erfahrung der Deutschen eine erfahrungsgemäße Unterscheidung treffe, Dinge zu benennen, die dieser Erfahrung angemessen sind; „Seele“ als Begriff ist mit dem dicken Fett des Verbrechens überzogen. Vielleicht dem dicksten, weil sie selbst seit mehr als zwei Jahrtausenden von ihrer eigenen Sichtweise verurteilt und angewidert ist. Dies geht so weit, dass das Synonym „Psyche“, das sich weniger in die Religion hineingekrallt hat, analytisch klingt. Anstatt zu analysieren, ziehe ich es vor, einer Abneigung gegen die Vernunft Ausdruck zu verleihen.

Denn sonst (ver)sinken die Flüsse nicht. Sie taumeln nicht verzweifelt – von ihrem Gewicht immer tiefer gezogen – dorthin, wohin die menschliche Seele oder das Schicksal gehen sollte (oder nur gehen kann). Nach unten also, so dass die heraklitische Strömung jenes berührt, was eigentlich schon unbeweglich ist (in dieser Weise stigmatisierte Huxley die Bilder des Heiligen – als Unbewegtes). So ist der Weg in die Tiefe für Peter Gehrisch zunächst ein ebenso impulsiver wie vorsichtiger, getriebener wie beunruhigender Aufstieg entlang der Wand des schwarzen Brunnens zum Licht, ein Abschütteln des Giftes der Dunkelheit. Auf das Licht zu, obwohl wir noch nicht wissen, ob dieses Licht real ist oder von einem unsichtbaren Illusionisten geschaffen wurde. Gehrisch, geboren 1942, überlebte die Teppichangriffe auf Dresden. Das Armageddon. Das Verschwinden der Welt. Das Licht und die Helligkeit über den Stadtteilen im Elbbecken verkündeten die Hölle des Himmels, und die stickigen, stinkenden Keller der Bunker kündigten den Himmel der Gnade an. Das Verschwinden von Prinzipien, die sowohl die Physik als auch die Metaphysik betreffen. Der spätere Schriftsteller, Übersetzer von Norwid und Orpheus-„Gefolgsmann“, beobachtete diese Metamorphose der Realität, glücklicherweise ohne jegliche Vorurteile darüber, wie die Welt sein sollte. Was dabei herauskam, war eine Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Welt: Sein und Nicht-Sein.

Abgesehen von Gut und Böse als gegensätzliche Kategorien, die sich zum einen auf die Erkenntnis der moralischen Schwäche des Menschen im Allgemeinen und zum anderen auf deren Ausdruck in ihrem Verhalten stützen. Denn in der Erfahrung des Kindes sind sie zu einem einzigen Ganzen verdichtet und durchdringen einander. Fast wie in der mythischen Frucht des Guten und des Bösen – dieser eigentümlichen Dyade – sowohl böse als auch gut. Oder wie die männlichen und weiblichen Genitalien in den Zeichnungen von Hans Bellmer – geboren 1902: Er begrüßte den kollektiven Totentanz von Mitteleuropa im Alter von 12 Jahren.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Schrecken auch nach der Aufhebung der Bedrohung aus dem Reflex erwächst, alles von jetzt auf gleich neu zu benennen. Zwischen den Namen und den Bezeichnungen gähnt indessen ein Loch. Zusammen mit dem Heiligen, der Psyche und der Freiheit. Man lebt ja in einem Raum des Nicht-Seins, in etwas, das im Bruchteil einer Sekunde verschwunden ist – einer Stadt zum Beispiel, einem großen Gebäude, Möbeln und Geräten – eben noch waren sie da, und jetzt sitzt man neben seiner Mutter auf irgendeinem Bündel, ohne Dach über dem Kopf. Nun gut, wenn es denn ein Bahnhof wäre, von dem aus man irgendwohin fahren könnte. Langsam kommt der Gedanke auf, dass das Gute eben nicht hier ist, sondern weit weg, vielleicht sogar ein Pol in sich selbst, und dass diese Ferne mit etwas Dauerhafterem als einer Stadt (nach Spengler ist auch sie eine Seele – die Seele der Kultur) abgeschirmt sein sollte, oder einem Königsschloss oder… einer Eisenbahnstrecke: vielleicht mit Bergen herum. Denn es herrscht Angst. Ein verängstigtes Kind versteckt sich hier und nicht-hier. Peter Gehrisch weiß, dass „an allen Ecken der Kindheit die Kuriere der Angst“ stehen, bereit, sich in alle Richtungen zu stürzen. Je mehr Berge er also abdeckt, desto reiner das Gut. Je weniger Wege dorthin führen, desto reiner das Gute. Vereinfacht gesagt, kam das Kind in Dresden mit der Welt in fast vollem Umfang in Berührung, mit der Welt der Märchen und Mythen, mit der Welt der Träume, sogar mit der Welt der Träume aus Sand (Kinder lieben es, im Sand zu spielen, es ist in der Tat so narkotisch wie die Berührung des essentiellen weiblichen Körpers, denn symbolisch geht es um die Berührung der Seele oder des Ichs), und sah sie, wie es der gebürtige Sachse Andreas Altmann ebenso ausdrückte, eingebunden in Orpheus, für einen Moment „mit seinen ersten Augen“.

Daher der Glanz der Augen, die Seele, das Schicksal.

Wenn also ein Fluss fließt, die Elbe zum Beispiel, spielt die Sonne auf ihm wie auf einer zarten Saite mit Grün- und Blautönen – man kann sein Wasser trinken, sich darin waschen bis zur völligen Säuberung. In vielen Häusern brach nach der Bombardierung die Wasserversorgung zusammen, und die Mütter hielten sich während des Krieges sauber, vielleicht war sogar der Kampf gegen Schmutz, Läuse, schlammige Böden für die Mütter (jede Mutter symbolisiert die Anima, formt die Seele, das Schicksal) eine Prüfung für die Logik des Lebens und die Fähigkeit zum Rückwärtsgewandten. So mythisch wie die Schlacht an der Front. Ebenso absurd in dem Sinne, den Alice Miller oder James Hillman in der unnützen, nicht funktionalen und sogar verbotenen Tat erkannten: nämlich ihre Analogie zur Sprache des Traums zu sehen. Was der Mythos immer wieder hervorgehoben und zum Gebot erhoben hat, indem er Orpheus befahl, seine Seele zu verlieren, und die Zuhörer oder Zuschauer im Amphitheater aufforderte, in sich selbst zu fühlen: was es bedeutet, ohne Seele zu sein: eine notwendige Phase, eine Phase, die mit der Ionisierung eines bestimmten Atoms vergleichbar ist, wenn etwas es entlastet oder überlastet. Es entsteht ein Loch. Anstelle der Seele auch – ein Loch. Es entsteht eine Art Saugvakuum, ein Umstand, eine andere Materie ins eigene Ich aufzunehmen. Sie ist bereits durch ihren Charakter gekennzeichnet, eine Kombination aus Potenzen und Grenzen.

Ich möchte hier hinzufügen, dass das „Mutterfleisch der Seele“ auf einer symbolischen Ebene Eurydike und natürlich Eva ist, die beide von der symbolischen Schlange in die Erfahrung des Todes geführt wurden, und die beide Orpheus-Adam hineingezogen haben. Sie distanzieren den „Mann“ scheinbar von den Zweideutigkeiten der Zivilisation, also der Ordnung. Denn sie führen in den Krieg, also in die Hölle und die Umkehrung der Normen oder in das axiologische Negativ; der Krieg ist immer von einem Mythos begleitet. Hermes, der Führer, wird, wie wir feststellen, das weibliche Element sein – daher die Schuld des Erstgeborenen der biblischen Eva, der erstaunlichen Walküre, die durch die Entnahme aus Adams Innerem geschaffen wurde. Peter Gehrisch deckt auf, dass Eurydikes Seele eben noch Holz war und sich von Rinde und Fasern befreit hat, und weiterhin noch unfertig, weiterhin im Holz verweilend. Die Rippe verkörpert Adams innerstes Wesen, so geht er dorthin, wo der Verstand ihn verläßt und wo er Schrecken und Entsetzen, Wut und Geschrei erlebt, allein getrieben von dem, was in ihm ist – und was er bisher auf dem edenisch-pythagoreischen Boden sah, nur unter dem Gesichtspunkt von Nützlichkeit und Vergnügen. Ähnlich die hölzern erscheinende Eurydike, steif, hart, knarrend. Vielleicht struppig? Sie hörte Orpheus’ Musik. Ja, aber sie fühlte sich in der Berührung irgendwie verletzbar.

Und warum? Warum ist die mythische Frau, wie Paul Ricœur, der Pascal Quignard verteidigt, es brillant formulierte, „der privilegierte Ort des Zusammenstoßes von Verbot und Begehren? In der biblischen Geschichte veranschaulicht sie den Punkt der Hingabe, der Schwäche gegenüber dem Verführer“.[3] Zu sich selbst führt also allein ihr Selbst, wie wir soeben festgestellt haben, die Seele. Wiederholen wir also die Frage: Wohin? Denn der Name „Hades“ bliebe eine flüchtige Allgemeinheit. Ricœur sagt, dass die Grate und die hölzernen Knochen und all die Rindenteile, die sie vor zärtlichen Berührungen schützt, auf die Seele von Orpheus und jeden von uns verweisen. Der Orphismus ist nicht erhaben oder künstlerisch veredelt, sondern legt die beschämende, geheime Wahrheit über Orpheus offen: Er ist die Anima der menschlichen Schwäche. „Diese Zerbrechlichkeit ist in der Endlichkeit des Menschen selbst begründet. Die menschliche Endlichkeit ist eine unbeständige Endlichkeit, die sich in eine ‘böse Unendlichkeit‘ verwandeln kann. Als ethische Endlichkeit ist sie ‚leicht‘ verführbar durch die Kurrumpierbarkeit der Etablierten, die die Grenze festlegen. Nicht die menschliche Libido ist der Anlass für den Sündenfall, sondern die Struktur der endlichen Freiheit.“ (Das Vorhandensein dieser Rinde, in welcher Leben ist, dieses Dickhäutigen, das die eigene Wahrheit bewahrt. Und in diesem Sinne wurde das Böse durch die Freiheit möglich gemacht.) „Die Frau illustriert den Punkt des geringsten Widerstands der endlichen Freiheit gegen den Ruf des bösen Unendlichen, gegen Pseudo“.[4]

In den Kindertagen eines konkreten, realen Menschen tummelte sich alles, brummte vor Energie, und die Welt erzitterte.Die Löcher schienen zunächst nur Trichter zu sein, die durch den Einschlag von Bomben entstanden. Schließlich war der Fluss beladen mit Bomben, Leichen, Eisen und… hat Löcher, er sinkt tatsächlich, das ist keine Metapher.Er vergiftet und verschmutzt. Auch hier gilt: Es muss sauber gewaschen werden. Mit Seife und einer Bürste geschrubbt. Und Sand. Also glattgerollte Erde. Erde, die auch ein Symbol der Seele ist. Der Akt der Reinigung des Wassers (Seele und Leben symbolisierend) – durch die Berührung der auseinandergezerrten Psyche. Wer dies schon in der frühen Kindheit gespürt hat, sucht, solange er nicht grausam geworden ist, bereits nach einer Antwort auf die Frage, wer eigentlich zu diesem Licht hinaufsteigt – der Erwachsene, der sich des Preises bewusst ist, den man für die Kunst zahlt für den Sprung von einer Welt, die vorhanden ist, in eine Welt ohne Welt. Wer steigt also hinauf: Ist er es in diesem Moment, oder ist er es als Kind und obendrein gespalten in eine Art Ich und Ebenfalls-Ich, mit dem er gemeinsam, wie jenes Kind, in den Ruinen Himmel und Hölle spielte.

Himmel und Hölle aus Sand. Selbst die großen kollektiven Mythen und Herrlichkeiten sind schließlich aus Sand gemacht.

Blinde Tastorgane

Hier entlang

Zum geöffneten

Tor!

Immer in Richtung Schweigen

Zitternd

(…)

Der rückwärtsgerichtete Kreidepfeil

Von Kinderhand gezeichnet

Auf den geöffneten Flügeln des Tors

– eine Nuance: ein weißer Pfeil wie das Weiß, das (normalerweise) nicht mit den Fingern, sondern mit der ganzen Handfläche gezeichnet wird, wie eine Berührung, die viel intimer ist, oder wie ein Eid, der mit der Berührung der Muttererde abgelegt wird.

In allem, was Peter Gehrisch geschrieben hat und schreibt, geht es DARUM: Er lädt den Leser ein, auf seinem verschlungenen Weg zu wandern, auf dem an bestimmten Stellen eine Stimme zu hören ist: Bleib bei deinen vier und fünf Jahren! Das liegt auf der Hand. Wozu diese Eile? Wenn man sich in schwierigem Gebirgsgelände verirrt, ist es manchmal das Kind, das Hilfe bringt: irgendwie flink, weniger bedächtig und wahrscheinlich willensstärker; Erwachsene haben wirklich komplexe Motivationen, Hamlet ist überhaupt kein Außenseiter. Er ist auch keine Metapher.

Novalis formulierte es folgendermaßen: „Der Irrtum ist ein notwendiges Instrument der Wahrheit“. Pah, keines dieser inneren Kinder, die (noch) Himmel und Hölle (weiterhin) spielen, kennt keine einzige der seriösen Definitionen von Wahrheit und kann uns nur naiv am Arm packen: Was ist Wahrheit? Alles, was Peter Gehrisch schafft, ist ein Wischen mit verschwitzten Augen und einem Blick, der übrigens heiterer ist, als man denken könnte: Führt der Weg nach oben oder nach unten? Ist er beim Auf- oder Abstieg mit seinen Löchern auf Norwid gestoßen? Und auf Orpheus? In der Sammlung Zraniony s?owem wers (Wortwunder Vers) von vor fast einem Vierteljahrhundert begegnet mir Gehrisch nahezu auf Schritt und Tritt und in jedem Satz, und es sind die schmierigen Pfade, die ich jeden Abend beschreite – „hier ist mein Platz“ – und eine Scheibe, eine Scheibe in einem verschleierten Werk. Die Erde ist vom Wahnsinn verbrannt. Das Papier welkt. Die menschlichen Gesten sind eine Pantomime unter glotzendem Rot. Ein Triumph-Tor aus Trümmern. Wir machen uns Treppenstufen aus Nebel. Man selbst ist eine Kette von Vögeln – keineswegs eine feste Masse, eine statische Form, eine reine Form, sondern nur ein Schlüssel, der instinktiv irgendwohin geht, vielleicht zu seinen eigenen psychischen Asymptoten, zu den Grenzen der erlebten Zeit.

Und es ertönt eine Stimme, uit – uit. Man ist wie einPhallus, unklar suchend / Die Wölbung aus Grün: Es kann Ekstase sein oder aber eine schmerzhafte Grenze, Gehrisch würde sagen: Konversation mit Beton.

Oder vielleicht ein wahrhaft platonischer Dialog? Mit Beton als besonderem Material, denn er ist künstlich, im Zustand für die Zivilisation und gleichzeitig plump und brutal. Taub und doch für Konstruktionen verwendbar. Schließlich will der Mensch konstruieren. Bloße Pfeile und Wegweiser, Wortschöpfungen, Logos reichen ihm nicht aus. Mal hier, mal da, denn schließlich: ist man kein Individuum, sondern man ist eine Kette von Vögeln, eine Vielzahl von Glasperlen, die in der einen oder anderen Reihenfolge angeordnet sind. Einmal folgt unsere innere Eurydike-Eva der Schlange, ein andermal Orpheus-Adam. Orpheus scheint zu suggerieren, alles sei Schicksal oder Seele. Das Schicksal des Einzelnen veranschaulicht sprachlich soziale Phänomene vielleicht am deutlichsten. Und politisch. Die wir jedoch in statistischen und möglicherweise (streng) unpersönlichen Begriffen beschreiben: Es ist eine orphische Sünde, ohne Seele zu sein, ohne Schicksal, ohne Schmied des eigenen Schicksals, d.h. kein Alchimist zu sein, sondern nur zu Masse und Nigredo verdammt.

Aus Schlafsand war uns

Der Weg bereitet

Zum letzten Gehöft –

Hier habe ich nämlich eine Assoziation zu den Gedichten der interessanten Dichterin und Propagandaforscherin aus Ko?obrzeg, El?bieta Juszczak, die in einem etwas anderen, aber ebenfalls belebten Kosmos der Selbstfindung über ein Tor (was würdevoll klingt) gestolpert ist – zur Scheune. Peter Gehrisch klettert durch nebliges Flimmern wie über Sprossen zu ihr hinauf. Jede Sprosse ist ein Ausguck. Auf einer von ihnen ist der Krieg bereits zu Humus geworden, er schüttelt mit einer Granate, und die Monde sind nackte Totenschädel. Gottes Mühlen? – könnte man fragen. Doch die Mahlsteine sind zerfallen.

So sind uns also die Flügel

Gestutzt

Daß wir uns drehn

In grelle Mäntel gehüllt

Vor der eigenen Ödnis

Noch immer betäubt vom Rumpeln der Bomben, traf Peter Gehrisch irgendwo hier, in diesen Löchern– zum x-ten Mal betone ich es – auf Orpheus. Wie auf einen Ghoul.

Das Gespenst

Geht noch um

In der Bibliothek

Ein glänzender Hohlkopf:

Originalspuk (…)

Eine phosphoreszierende Morgenröte

Hager und gramvoll

Erscheint der Geist

Als Roter Ruben

oder der erwürgte

Säugling (…)

Medaillen und Ketten (…)

Solange sie über die Treppen

Klirren

Im eisigen Turm

Ist Winter (…)

Wenn der Mandelbaum blüht

Weichen die Wände.

Dann kann man sehen, obgleich das Labyrinth weiterhin dauert, dass das Leben gleich Mikrolabyrinthen als eine Schnur von Vögeln dahinfließt

Wie ein bacchantischer Tagtraum.

Ja, nur dass Orpheus’ Begegnung mit Dionysos eine Begegnung mit dessen Anima ist – sagt der Mythos –, von ebenso vielen wütenden Mänaden zerstückelt; auch sie ist keineswegs einheitlich, sondern gleicht einem Schwarm von Vögeln. Jede Mänade entreißt Orpheus eine Handvoll von Fleisch, jede, so glaube ich – das ist meine Intuition – erklärt Gehrischs Vers, dass sie dies tut:

Allem Vernomm’nen mit einer eignen Version zu begegnen

Halb Wahrheit, halb Schein.

Januar 2022

Aus dem Polnischen von Gabriele Wachander.

Anmerkung: Die Zitate zu Peter Gehrischs Gedichten entstammen den Publikationen „Zraniony slowem wers / Wortwunder Vers“, TIKKUN, Warschau 2001, und „Zawirowania dnia / Das Taumeln des Tages“, IBiS, Poezia dzisiaj, Warschau 2020.

Dieser Beitrag im polnischen Original (als PDF).


[1] Tina Rosenberg, „Kraje, w których straszy. Europa ?rodkowa w obliczu upiorów komunizmu“ (Länder, in denen es spukt. Mitteleuropa im Angesicht der Gespenster des Kommunismus), Pozna? 1997.

[2] Orpheus-Projekt – internationale Treffen mit Autoren und Künstlern seit 1999, beginnend in Bad Muskau und in der Folge an verschiedenen Orten in Deutschland und Polen.

[3] Paul Ricœur, Symbolika z?a. Übersetzt von Stanis?aw Cichowicz, Maria Ochab, Instytut Wydawniczy PAX, Warschau 1986, S. 240. / Vgl. Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld. Bd. 2 (1960), Alber, Freiburg/München 2002.

[4] Ebd., S. 241.

Echo auf: Ilse Aichinger, Für das Neue Jahr

Welcher Augenblick wird auch an einem weniger spektakulären als dem Silvestertag zuletzt oder kurz vor zuletzt kostbar gewesen sein? Wer wird die Schatten, die fallen, in solche verwandeln, die einem auf die Sprünge helfen? Auch am Jahresanfang nehmen nur wenige ihre Entscheidungsmöglichkeiten wahr oder werden dazu ermutigt. Schatten aus dem letzten Jahr sind ihnen geblieben, aber es käme darauf an, sie abzuwerfen.

(In: Ilse Aichinger, Unglaubwürdige Reisen)


Mein Dorf

Wenn man mich fragt, was ich mehr in Griechenland vermisse, dann ist die Antwort immer mein Dorf. Viele Leute fragen mich: Ist es nicht langweilig, in der Wildnis zu sein? Gefällt es dir, so weit von der Stadt entfernt zu sein? Ich bin ein Stadtkind, ja. Ich liebe meine Stadt so sehr und bevorzugte schon immer Großstädte. Aber was das Dorf mir bietet, das bietet die Stadt nicht, oder? Die Landschaften, die ich in meinem Dorf sehe, und die Nähe zur Natur, zu den Bergen, zu den Tieren sind ein einzigartiges Gefühl. Schon die Fahrt ins Dorf ist eine Augenweide. Meer, ausgedehnte Wälder und der ständige Gesang der Vögel. Ich denke, diese Fahrt ist der schönste Moment des Tages. Ich fühle mich ruhig und friedlich. Auf dem Dorf bleibe ich aber nicht ruhig. Ich helfe meinem Opa  auf den Feldern, verbringe viel Zeit mit unseren Hunden und besuche Tanten und Onkel, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Aber das ist nicht für jeden Menschen etwas Schönes. An einem Ort nur von Verwandten umgeben zu sein, ist etwas, das viele Menschen vermeiden. Aber das stört mich nicht. Morgens aufzuwachen und mit Opa auf den Feldern, hoch oben in den Bergen, bis zum Sonnenuntergang zu wandern, ist für mich erfrischend. Solche Momente sind kostbar. Mit meinen Cousins und Cousinen auf dem rauen Terrain der Hügel zu sitzen, zu reden und gleichzeitig das endlose Grün und den Geruch von Erde und Olivenbäumen zu genießen. Wir wussten, dass diese Landschaften bei unserer Rückkehr in die Stadt durch Wohnblocks, den ständigen Lärm und unbekannte Gesichter überall ersetzt würden. Deswegen ist dieser Augenblick immer etwas Außergewöhnliches. Etwas Kostbares.

Petros Dramitinos

Hadleigh Castle

Die Sonne scheint und eine leichte Brise weht durch die Bäume. Der Weg zur Burgruine ist steinig und uneben. Das Meer ist nicht weit, zwischen der Ruine und dem Strand liegt nur die Bahnstrecke. Wir laufen zu dem einzigen Turm, der noch steht. Auf dem Weg dorthin laufen wir an der Mauer vorbei, hinter der man noch hinunter in die Kerker sehen kann. Der Stein ist von der Sonne ganz warm und bröckelig. Wir setzen uns ins trockene Gras. Es piekst und bleibt an unserer Haut kleben, aber das stört uns nicht. Wir breiten ein Handtuch auf dem Boden aus und legen das Baby darauf, das sich lachend hin- und her wälzt, als wir es kitzeln. Es ist ruhig um uns, um diese Uhrzeit sind nicht mehr viele Menschen dort. Ein Hund rennt um uns herum, hechelnd und mit dem Schwanz wedelnd. Genauso glücklich wie wir alle, froh, an einem so schönen Ort zu sein, sich einfach entspannen zu können mit Menschen, die man liebt.

Lea Döhms

Moment der Freundschaft

Es ist 15:26 Uhr, als unser Flugzeug den Flughafen von Athen erreicht. Ich hatte in der Nacht zuvor kein Auge zutun können. Zu groß war die Aufregung gewesen. Nach vier langen Jahren würde ich sie endlich wiedersehen. Ich würde endlich die Person wiedersehen, die mich die Bedeutung von wahrer Freundschaft lehrte und mir eine zweite Familie schenkte.
Nach vier langen Jahren würde ich auch das erste Mal wieder nach Athen reisen. Wie wird es wohl sein? Wird sich die Stadt verändert haben? Wird es sich anders anfühlen, dort zu sein? Ich schüttele den Kopf. Nein. Dies sind keine wichtigen Fragen, und die Antworten darauf sind es auch nicht.
Wichtig ist nicht die Stadt, sondern die Menschen, die in ihr leben. Was die Menschen mich fühlen lassen.
„Meine Damen und Herren, willkommen in Athen.“
Die Ansage der Flugbegleiterin holt mich in die Gegenwart zurück. Die Passagiere fangen an das Flugzeug zu verlassen und in den Bus zu steigen. Die Aufregung wird größer und größer, je mehr sich der Bus dem Terminal nähert. Ich betrete das riesige Gebäude und mache mich auf den Weg, meinen Koffer zu holen. „Nur noch ein paar Minuten“, denke ich mir und würde am liebsten schreien. Nach ein paar Minuten Wartezeit nehme ich meinen Koffer entgegen und laufe Richtung Ausgang. Und da sehe ich sie schon. Meine Definition von Freundschaft. Ich lasse meinen Koffer fallen und laufe auf sie zu. Sofort liegen wir uns in den Armen, und die Welt scheint für einen kleinen Moment vollkommen zu sein.

Anna Kandylis

Jewgeni Onegin. Roman in Versen

Von Hochmut erfüllt hatte er zudem noch einen besonderen Stolz an sich, der eine Ursache der Gewohnheit ist, mit demselben Gleichmut wie die rühmlichen, so auch seine dummen und peinlichen Handlungen zu bekennen, eine Folge des Gefühls der Überlegenheit, einer möglicherweise scheinbaren. (Aus einem privaten Brief, frz.)

Nicht, um die stolze Welt zu unterhalten,
Mein Freund, denn Du hörst mir nun zu,
Würde ich gern für Deine Fantasie gestalten,
Was besser ist und würdiger als Du –
Würdiger als Deine schöne Seele,
In der stets heilig Streben wirkt –
Die Poesie, die Klarheit und das Leben,
In dem sich Einfachheit und hohe Kunst verbirgt;
Sei’s drum – so nimm von mir mit heißer Hand
Entgegen eine Sammlung schillernder Kapitel,
Zur Hälfte komischer, zur Hälfte trauriger,
Volkstümlich einfacher und idealer,
Frucht meiner Suche nach dem besten Mittel
Gegen Schlaflosigkeit, den leichten Atem
Unreifer und verflossener Jahre,
Auch des Verstandes kalte Taten
Und was ein glühend Herz schluchzt auf der Bahre.

*

Echo auf: John Steinbeck

In Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ wird im 3. Kapitel eine Schildkröte beschrieben, die mühsam eine Straße überquert und dabei Ziel eines Lastwagenfahrers wird, der das Tier brutal überfährt. Die Szene steht für sich und war in der Schreibübung Anlaß, sich entweder an einer eigenen „Begegnung mit Tieren“ oder an einem „Selbstporträt als Tier“ zu versuchen.

Die Gedanken eines Delfins

Sicherheit und Freiheit. Diese zwei Gefühle geben mir den Antrieb zu lächeln. Meine Freunde und Familie an meiner Seite oder in meinem Herzen, Sicherheit. Die blaue Unendlichkeit mein Zuhause, neue Abenteuer tief und weit, Freiheit. Ich sehe andere Fische wie sie einfach nur schwimmen und nicht lächeln, wie sie jeden Tag in Angst verbringen, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt in dieser vertrauten, aber auch fremden Welt. Als ob wir nicht dieselbe Freiheit teilen, nicht in derselben Tiefe schwimmen würden. Verstehen sie nicht, dass jede Sekunde in dieser blauen Ewigkeit vorübergehend ist? Es ist, als ob sie nicht lebten, sondern nur existierten… Deswegen versuche ich jeden Tag zu schwimmen, so weit ich kann. Zu spielen, so viel ich kann und zu lachen so laut ich kann. Ich dusche im warmen Sonnenlicht der Oberfläche und genieße die eisige Gänsehaut der Tiefe. Manchmal fühle ich auch Trauer oder Verlust, wenn meine Freunde oder Familie nicht wieder kommen, nachdem sie schwimmen waren, für immer verschlungen von der Dunkelheit des Ozeans. So ist aber halt unsere Welt, kälter als der tiefste Untergrund aber wärmer als der hellste Stern, unberechenbar aber wunderschön, furchteinflößend, aber sicher, einschränkend aber frei. Deswegen schätze ich jede Sekunde, genieße jede Sekunde, solange ich noch schwimmen kann und werde grundlos weiter lächeln, einfach so, denn das Leben ist schön.

Kerem Çifçi