Das Gebiet

Es war nah und weit, zum Greifen nahe und unendlich weit, unerreichbar. Ich umkreiste das Gebiet. Es war nicht eingezäunt, es lag offen vor mir, doch ich konnte es nicht betreten. Nicht berühren. Es war vergangen.

Das Grundstück lag hinter dem Hügel. Nach einer kleinen Erhebung fiel der Weg wieder ab, führte hinunter zu einer einstigen Landschaft aus Wiesen, die sich den Hang entlang zogen und von wenigen kleinen Häusern, eher Hütten, kaum sichtbaren Zäunen durchsetzt waren. Die Gegend Tal zu nennen, wäre falsch, denn sie fiel auch unten, am Ende des Wegs, weiter zum Wald hin ab.

Ich sah auf die Wiesen von oben, in einer Entfernung von weniger als hundert Metern vielleicht. Die Wege waren nun geteert, auch enger, als ich sie in Erinnerung hatte. Das Haus war von Fichten umgeben, hohe Bäume, die es damals nicht gab. Ich sah es zwischen den dicht wachsenden Stämmen kaum. Doch ich wußte, dort unten stand es. Ich wartete eine Weile, ehe ich weiter ging.

Dort unten lag ein langes, schmales Viereck, frisch gemähter Rasen, auf dem, winzig von hier oben, eine Reihe von Figuren zu schweben schien. Ich unterschied die einzelnen Silhouetten, denn ich kannte sie, und folgte ihren nachlässigen, wie gleichgültigen Bewegungen. Sie bewegten sich langsam, wie träge, um das Haus in der Mitte. Auch das Haus kannte ich. Ich hatte es entstehen sehen. Es war nicht lange her, einige Jahre. Ich hatte auf dem Fußboden gesessen, das Haus hatte noch keine Wände, nur ein paar Stützpfeiler auf dem schrägen Grund, einem sanft abfallenden Hang, Pfeiler aus gegossenem Beton, auf dem ein Gerüst und ein Boden verlegt waren. Die Wände würden in Kürze entstehen, es gab sie bereits, sorgfältig angepaßte Holzlamellen mit Aussparungen für Fenster und Tür. Ich saß da, auf dem Fußboden, und hämmerte einen Nagel schief ins Holz. Zwei Männer waren um mich. Sie schienen zu arbeiten, konzentriert, als wäre eben das ihr Beruf.

Auch die beiden Männer kannte ich. Einer der beiden war mein Vater, der andere, etwas ältere mit einem Haarkranz um den fast kahlen Schädel, ein Kollege. Beide waren sie Schreiner. Ich war ein Kind.

Die Doppelzange

Wir haben uns in eine Zwickmühle manövriert. Wir behaupten, dass wir aus dem Faschismus gelernt hätten. Damit wiegen wir uns im Recht und vergessen den blinden Fleck, der uns eine wirkliche Erkenntnis und Konsequenz verwehrt. Ich versuche es kurz und in einfachen Worten zu sagen: Wir haben unserer Wirtschaft Regeln gegeben, die zu einer auseinander treibenden Kluft zwischen Reich und Arm führen. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Das ist schon lange so. In der Geschichte hat es hin und wieder Revolten dagegen gegeben – ich erinnere an den deutschen Bauernkrieg, der sich in diesem Jahr zum 500. Mal jährt. Dieses unmittelbare Aufbegehren hat im besten Fall für eine kurze Zeit zu einem sozialen Ausgleich geführt, meistens aber haben die Reichen ihre Schätze schon anderswo gesichert, so dass die Rebellen nicht rankommen. Oder es setzt sich eine andere Gruppe an die Spitze und hortet – wie etwa in Südafrika der Nationalkongress oder der Ortega-Clan in Nicaragua. All diesen vergeblichen Aufständen zur Schaffung von mehr ökonomischer Gleichheit ist gemeinsam, dass sie nicht an die Wurzeln der Ungleichheit gehen. Diese liegen in den Regeln, nach denen wir Zinsen und Steuern erheben. Sie begünstigen diejenigen, die viel haben und halten die kleinen Leute in Not. Natürlich spielen auch Begabungsunterschiede eine Rolle. Doch niemand kann uns weißmachen, dass die Kinder der Reichen mit einem höheren IQ auf die Welt kommen als die Kinder der Armen. Der unverdiente Reichtum, mit dem sie von klein auf umgeben sind und den sie irgendwann erben, hilft ihnen, ihre (in der Regel auch nur mittelmäßige) Begabung zu entfalten. Tatsächlich sichern die Regeln unseres Wirtschaftens die Aufrechterhaltung der sozialen Unterschiede und verschärfen sie mit mathematisch anmutender Präzision. Der Zusammenhang ist nicht linear, sondern exponentiell. Das heißt, in den ersten Jahrzehnten nach dem Kriegsende – für viele Menschen (nicht alle) war das wirtschaftlich gesehen die Stunde Null – hatte der Glaube an realistische Aufstiegschancen noch Substanz. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnete sich nur langsam und viele konnten in den Mittelstand aufsteigen.

Nun aber sind wir schon seit mindestens dreißig Jahren auf dem steil ansteigenden Ast der rasant wachsenden ökonomischen Ungleichheit. Immer weniger Menschen verfügen über fast alle Produktionsmittel auf diesem Planeten. Die Hauptursache für die exponentielle Zunahme der Ungleichheit ist der Zinseszins – dessen religiöse Ächtung etwa vor 500 Jahren – Zufall? – in Europa aufgehoben wurde. Der Wegfall des Zinseszinsverbotes fiel mit dem Beginn des neuzeitlichen Kapitalismus zusammen, der die freie Marktwirtschaft erst durch Akkumulation und Konzentration von Kapital, später durch Monopolbildung und Verquickung von Monopolmacht mit der staatlichen Verwaltung zu Supermonopolen kannibalisierte: das Kapital hat den Markt aufgefressen, die Voraussetzungen für den fairen Wettbewerb um beste Ideen und Lösungen beseitigt, damit Besitzstände gewahrt bleiben. Im Grunde handelt es sich um die ewige Wiederkehr feudaler Strukturen. Daran können die Kartellbehörden herzlich wenig ändern. Sie bewirken hier und da die Zerschlagung eines Supermonopols, das sich dann an anderer Stelle neu firmiert. Vielmehr wäre es notwendig, an die Wurzeln der Ungleichheit zu gehen, d.h. die Regeln unseren Wirtschaftens von der Profitmaximierung auf Daseinsvorsorge, Gemeinwohl und die Erhaltung gleicher Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt auszurichten. Im Wesentlichen sind dazu vier Maßnahmen notwendig:

1. Das Verbot und die Abschaffung des Zinseszins‘ – hier sind die muslimischen Banken ein Vorbild, sie haben im Unterschied zu dem anderen beiden monotheistischen Religionen am Wucherverbot festgehalten – hier können wir lernen, wie Bankwirtschaft ohne Zinseszins funktioniert.


2. Die Vergesellschaftung von Grund und Boden sowie allen Naturressourcen, die sich darin und darüber befinden (Wasser, Luft, Erze, Öle, Metalle), eine Erweiterung der Bodenreform, wie sie Silvio Gesell vorschwebte – privatisiert in Gewinn verwandelt werden, dürfen nur nachwachsende Produkte, als landwirtschaftliche Erzeugnisse – alles andere steht der Gemeinschaft zur Verfügung. Wir sehen an der Volksrepublik China, zu welcher Effizienz die Vergesellschaftung des Grund und Bodens führt: Verkehrswege und Trassen können zügig und zum Gelände passend geplant und projektiert werden, ohne übermäßige Rücksicht auf mittelalterliche Grundstücksgrenzen nehmen zu müssen. So baut man zum Beispiel Magnetschwebebahnen… Die bisherigen Nutzer des Grund und Bodens sollen nicht enteignet oder liquidiert werden wie im „Sozialismus“ Stalinscher Prägung, der in Wirklichkeit kein Sozialismus war, sondern Staatsterrorismus der übelsten Sorte. Die bisherigen Nutzer pachten das Land für ihr Haus oder ihr Feld oder ihre Kohlegrube und werden je nach Nutzungsform unterschiedlich besteuert: die Pacht für selbstgenutzte Wohnhäuser ist am geringsten, die Pacht zur Ausbeutung von Naturschätzen am höchsten. Wenn die Gemeinschaft den Grund und Boden benötigt, z.B. für Infrastruktur, kann der Pachtvertrag aufgelöst werden gegen eine Existenz erhaltende Entschädigung, nicht aber gegen eine Wuchergebühr, wie sie gegenwärtig etwa von Landbesitzern in Windeignungsgebieten verlangt wird und zur Folge hat, das Windstrom niemals billig werden kann.


3. Eine progrediente Erbschaftssteuer, die exponentiell mit dem Vermögen wächst und dafür sorgt, dass die Nachkommen der Reichen wie die Mehrheit der Gesellschaft einer Erwerbsarbeit nachgehen müssen und nicht nur vom Erbzins in Luxus leben können.


4. Die Hüter der Wettbewerbsregeln sind ermächtigt und verpflichtet, zwischen Anbietern einer Marktinfrastruktur und Marktteilnehmern strikt zu trennen und hier konsequente Zerschlagungen vorzunehmen. Das Gegenbeispiel liefert heute Amazon: Diese Firma stellt eine Marktinfrastruktur zur Verfügung, nämlich ihren sogenannten „Marketplace“, agiert zugleich jedoch selbst als Marktteilnehmer. Dazu nutzt es seine Einblicke in gut laufende Geschäfte, um deren Geschäftsidee zu klauen und zu kopieren (sogenannte „Amazon Basic“-Produkte) und die ursprünglichen Unternehmer zur Geschäftsaufgabe zu zwingen – diese Art des Wirtschaftens ist tödlich für einen echten, d.h. fairen Markt.

Diese Konsequenzen aus der seit 500 andauernden kapitalistischen Wirtschaftsmisere, die uns mit atemberaubender Beschleunigung technische Fortschritte gebracht und zugleich dem Abgrund der Selbstvernichtung genähert hat, sind rein wirtschaftlicher Natur. Ich sprach eingangs jedoch von einer Doppelzange. Tatsächlich sind die unfairen Regeln unseres Wirtschaftens nur die halbe Wahrheit, wenn es darum geht, die Spaltung in unserer Gesellschaft zu verstehen und zu erklären. Die andere Hälfte der Wahrheit ist in den Regeln unserer „demokratischen“ Zuweisung von politischer Macht zu finden.

Dass wir Regeln für unser Wirtschaftssystem aufgestellt haben, die die soziale Ungleichheit verschärfen und in schöner Regelmäßigkeit zu sozialen Unruhen, Massenstreiks, Krieg und Revolutionen führen, ist bereits schlimm genug. Es handelt sich übrigens um eine historisch gesehen junge Entwicklung, die erst seit etwa 500 Jahren in den Zustand der Entfesselung übergegangen ist. Doch damit ist es nicht genug. Als Katalysator für die permanente Polarisierung der Gesellschaft kommen die Spielregeln unserer sogenannten repräsentativen Demokratie hinzu, die eben nicht, wie der Name vorgaukelt, zu einer Repräsentanz der maßgeblichen Interessensgruppen der Bevölkerung beiträgt. Dabei sind die Formen der westlichen „Demokratien“ durchaus verschieden: In den englischsprachigen Ländern herrscht das Prinzip „the winner takes it all“ – das heißt, ein marginaler Stimmenvorsprung führt zum Gewinn der absoluten Mehrheit. Die britischen und amerikanischen Parlamente spiegeln nicht die realen Mehrheitsverhältnisse wider, sondern verstärken minimale Unterschiede in den Wahlbezirken, woraus letztlich eine Mehrheit auf Grundlage willkürlich zusammengewürfelter Abgeordneter resultiert. In Frankreich müssen die Bewerber, die im ersten Wahlgang – und das ist üblicherweise der Fall – keine absolute Mehrheit erlangen, in einen zweiten Wahlgang gehen. Bei der letzten Wahl ergab sich im ersten Wahlgang eine Mehrheit der rechten Parteien, im zweiten Wahlgang durch taktische Koalitionen eine linke Mehrheit. Der Präsident beauftragte jedoch rechte Vertreter mit der Regierungsbildung. Als außenstehender Beobachter fragt man sich, wozu die Franzosen dann überhaupt wählen, wenn der Präsident offenbar Befugnisse hat wie Ludwig XIV. Innerhalb von zwei Monaten wurden drei auf diese Weise von oben ernannten Ministerpräsidenten das Misstrauen ausgesprochen – wen wunderts.

Und Deutschland? Deutschland glaubt, es habe aus den Systemfehlern und Schwächen der Weimarer Republik gelernt. 5%-Hürde, zwei Kammern (Bundestag, Bundesrat), Verfassungsgericht, und ein Präsident, der normalerweise Sonntagsreden hält, im Krisenfall jedoch die demokratischen Abläufe bei vorgezogenen Neuwahlen überwacht. Soweit so gut. Tatsächlich hat sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine komplizierte Version des Mehrheitswahlrechts gegeben, nach der Direktstimmen und Listenplätze kombiniert werden. Die Komplikationen, die diese Vermischung nach sich zieht, haben zu einem fortlaufenden Aufblähen des Parlaments geführt, die Zahl der Sitze im Bundestag ist ständig gestiegen. Die jüngste Wahlrechtsreform hat diesem Anwachsen halbherzig Einhalt geboten, indem die Direktstimmen auf den Prozentsatz der Listenplätze zurückgestutzt werden. Damit wird das eigentliche Problem jedoch nur verschleiert: Die Regierung kann von Parteien gebildet werden, die jeweils nur eine winzige Minderheit der Interessensgruppen in der Bevölkerung vertreten, wie z.B. die FDP oder die Grünen – es ist in keiner Weise gewährleistet, dass sie das Resultat einer repräsentativen Demokratie darstellt. In Westdeutschland hat die Regierung vor dem Mauerfall halbwegs und mehr oder weniger zufällig die vorhandenen Interessensgruppen repräsentiert, als sich im Wesentlichen noch die Volksparteien CDU/CSU und SPD an der Macht abwechselten. Doch das Zünglein an der Waage waren in der Regel Kleinstparteien oder Splittergruppen. Die meisten Deutschen verbuchen das unter „Koalitionsfreiheit“ und halten es für normal. Mit „repräsentativer Demokratie“ hat sie aber nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil.

Deutschland droht nach der kommenden Wahl in einen Zustand der Unregierbarkeit zu fallen. Freiwillige Koalitionstabus mit AfD, Linkspartei, Grünen und BSW haben den Spielraum der verbleibenden Parteien nahezu auf Null reduziert. Theoretisch kann nur noch eine Koalition von CDU/CSU und SPD herauskommen – stellt sich die Frage, wozu dann überhaupt noch eine Wahl erforderlich ist. Kann man sich eigentlich sparen. Aber wehe! Was passiert, wenn die ehemaligen „Volksparteien“ zusammen keine Mehrheit mehr erreichen? Dann werden, als hätte es sie nie gegeben, die jahrelangen Beteuerungen, nicht mit dieser oder jener Partei zu koalieren, niemals!, pragmatisch fallengelassen. Irgendeine Splitterpartei wird wieder das Zünglein an der Waage spielen und der Mehrheit ihre abseitigen Pläne aufdrücken dürfen. Die Interessengruppen in der Bevölkerung aber werden noch weniger vertreten sein. Es wundert nicht, dass solche Spielregeln zum Verdruss führen. Wähler, die noch bei Verstand sind, müssen sich veralbert fühlen. Schwerer wiegt jedoch, dass diese halbdemokratischen Spielregeln die ökonomisch angelegte Spaltung der Gesellschaft vertiefen, verschärfen, mit Hass und Verleumdung aufladen. Wir haben es mit einem doppelten Zangengriff zu tun: Sowohl durch die Kluft zwischen Arm und Reich als auch die willkürliche Ausgrenzung großer Interessensgruppen der Bevölkerung wächst die Polarisierung – bis es knallt.

Sind wir gegenwärtig bereits am Ende der Evolution? Hat die demokratische Kultur ihren Zenit erreicht? Folgen nun unausweichlich Barbarei oder Untergang? Mitnichten. Diejenigen, die sich für den Höhepunkt halten, für die progressive Norm oder die „demokratische Mitte“, verkennen, dass sie auch nur Teilchen im Strom der Zeit sind, dass auch sie nur eine Phase ausdrücken, die – wie alles – vorübergehen wird.

Tatsächlich kennen wir mitten in Europa, an seinen geographisch höchst gelegenen Orten eine Insel, besser gesagt, eine große, mehr oder weniger abgeschiedene Berggegend, in der seit 500 Jahren nicht nur Frieden herrscht. Napoleon, Wilhelm II. und Hitler haben um sie einen Bogen geschlagen. In dieser Gegend herrscht nicht nur wenig Armut, sie ist vielmehr für ihren Reichtum berühmt. Vor allem aber hat sie eine Form der Demokratie hervorgebracht hat, die stabil, unaufgeregt, ja geradezu langweilig die realen Mehrheitsverhältnisse der Interessengruppen in der Bevölkerung repräsentiert. Sie haben es bereits erraten: Ich meine die Schweiz.

Und wenn ich die Schweiz als unübertroffene Species der demokratischen Artenvielfalt erwähne, dann meine ich nicht in erster Linie die basisdemokratischen Elemente, so oft wie möglich die Bevölkerung selbst zu fragen und entscheiden zu lassen, wie viele Steuern sie zu zahlen bereit ist und welche Leistungen dafür vom Staat zu gewährleisten sind und was in privater Verantwortung bleibt, wer ins Land als Staatsbürger aufgenommen wird und wer nicht. Basisdemokratie ist wichtig, sie führt zu Anpassungen und auch zu Verschiebungen, die der jeweiligen Zeit oder dem Zeitgeschmack entsprechen. Aber sie ist nicht vor Auswüchsen gefeit, nicht vor Manipulation oder Extremismus – die Basisdemokratie allein garantiert keine gesellschaftliche Stabilität und keinen sozialen Frieden. Das Kernelement des Schweizer politischen Systems ist das Konkordanzprinzip der demokratischen Machtzuteilung. Nehmen wir die Bundesebene. Hier gibt es nur acht Ministerien – schon diese geringe Zahl ist eine Glanzleistung, um den Staat und die Staatsausgaben zu beschränken. Sie hat unweigerlich ein Weniger an Bürokratie zur Folge, denn acht Ministerien erarbeiten naturgemäß weniger Vorschriften und Gesetzesvorlagen als beispielsweise 27 wie in Deutschland mit seinem Heer an Staatssekretären und Ministerialdirigenten. Der Dreh- und Angelpunkt in der Schweiz ist, dass diese acht Ministerposten (Nationalräte) unter den vier stärksten Parteien aufgeteilt werden müssen. Im Durchschnitt bekommt jede Partei also zwei Ministerien. Wenn die Unterschiede im Stimmenanteil bei der Wahl groß sind, kann es vorkommen, dass mal eine Partei drei, die kleinste der vier großen nur einen Posten bekommt. Aber niemals kann es passieren, dass eine Partei die Alleinherrschaft übernimmt, sprich eine Diktatur errichtet. Alle wesentlichen Interessensgruppen der Bevölkerung sind in der Regierung vertreten. Auch die sogenannten Rechten, auch die „Schmuddelkinder“. Sie bilden sogar oft die Mehrheit. Aber sie können nie alleine bestimmen, sondern müssen die Macht mit den Minderheiten und Splittergruppen teilen, die sich selbst für besonders fortschrittlich halten, also mit abgespreiztem kleinen Finger an der Kaffeetasse für Gerechtigkeit oder Klima einsetzen…

Merkt ihr was? Die Aufregung um einstürzende Brandmauern ist bei Verstand gesehen nichts als Hysterie. Die Schweizer Konkordanzdemokratie kennt keine Koalitionsfreiheit, sondern einen Koalitionszwang – die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen politischen Gruppierungen müssen miteinander in der Regierung auskommen, auch wenn sie sich nicht riechen können. Dieser Zwang auf der höchsten Ebene gewährleistet die Freiheit der Bürger. So wird ein Schuh draus. Das Errichten von Brandmauern dagegen führt dazu, dass wir am Ende alle eingemauert sind und von beiden Seiten Feuer gelegt wird – es ist eine brandgefährliche Illusion, ein mittelalterliches Denken, wir könnten uns in einer „demokratischen Festung“ verschanzen.

Freiheit macht Arbeit, sagte ein Künstler einmal, der mit seinen Projekten in Jugendklubs ging statt über ihr abweichendes Verhalten zu klagen. Nun möchte ich die Schweiz nicht idealisieren: Sie hat, wie kein anderes Land auf diesem Planeten die Demokratie in Spielregeln des politischen Systems umgesetzt, um die realen Interessen der Bevölkerung zu repräsentieren. Sie hat seit 500 Jahren Frieden, Chapeau! Aber die Regeln, die zur ökonomischen Ungleichheit führen, den Zinseszins und die Trennung der Gewährleister marktwirtschaftlicher Infrastruktur von Marktteilnehmern hat auch die Schweiz bisher nicht verwirklicht.

Wenigstens ist eine der wirksamsten finanzpolitischen Ideen, um die exponentiellen Krisen des Kapitalismus zu glätten, in Dornach ausgedacht worden. Es war der selbsternannte Prophet Rudolf Steiner*, der in Anlehnung an Pierre-Joseph Proudhon vorschlug, den Geldscheinen ein Verfallsdatum aufzudrucken.  Damit würde Geld seinen vermeintlichen Ewigkeitscharakter verlieren und wie andere Waren mit der Zeit verschleißen. Es lohnt

sich nicht mehr, es zu horten. Es erfüllt allein seine temporäre Funktion als Hilfsmittel im Tausch von Gegenständen und Dienstleistungen – wie einfach und überzeugend ist diese Idee. In Zeiten von Onlinebanking ist dazu nicht einmal ein Stempel erforderlich, es genügt ein negativer Zins, d.h. eine mit der Zeit wachsende Gebühr auf Spareinlagen…

Doch auch in der Schweiz ist es schwierig, für diese uns langfristig rettende Idee des alternden Geldes (Silvio Gesell: „Freigeld“ oder „umlaufgesichertes Geld“, Otto Heyn: „Schwundgeld“, Volksmund: „Stempelgeld“) kurzfristig eine Mehrheit in Volksbefragungen zu erzielen. Doch es war kein Geringerer als John Maynard Keynes**, der darin einen gesunden Gedanken erkannte: „Nehmen wir an, es werde »alterndes Geld« eingeführt. Dann geraten alle, die Geld in der Kasse haben und es um der Zinsen willen anlegen wollen, unter den sanften Kostendruck der mit dem Geld auch verbundenen Kosten. Und genau in dem Umfang, wie sie selbst unter Kostendruck geraten, schwindet ihre Macht auf dem Geld- und Kapitalmarkt und wächst die Unabhängigkeit der anderen von ihnen. Mit den Liquiditätskosten schwindet die Macht, die die Halter von vollen Kassen über die Halter von leeren Kassen ausüben können. Es schwindet aber auch der übermäßige Rentabilitätsdruck überhaupt, der auf Unternehmern unabhängig davon ruht, ob sie mit Fremdkapital oder mit Eigenkapital arbeiten.“ (Dieter Suhr)***

Diesem Zitat ist nichts hinzuzufügen.

* Rudolf Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit – in geänderter Zeitlage. Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach und Bern vom 29. November bis 21. Dezember 1918, (Gesamtausgabe Bd. 186, Dornach, 1979); Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage – in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft (Gesamtausgabe Bd. 23, Dornach, 1961)

** John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Aus dem Englischen von Fritz Waeger, Berlin 1994 (unveränderte 7. Auflage der Erstauflage von 1936), S. 298–302

*** Dieter Suhr, Alterndes Geld – Das Konzept Rudolf Steiners aus geldtheoretischer Sicht, Neukirchen: Novalis 1988

Ludger

Wenn nur dieser Ludger nicht immer neben Ansgar sitzen würde

Wer war Ludger? Esther stützte den Arm auf die Tischplatte. Schon seit Stunden grübelte sie über dieser Frage. Er war eines Nachmittags in Renées Tagebuchskizzen aufgetaucht, erst der Name, danach immer schärfer und konturierter auch seine Person, ihre Finger auf der Tastatur kamen kaum ihren Gedanken hinterher. Ludger, leicht wie eine Schokoladentorte, in die man viel Backpulver eingearbeitet hatte. Etwas pulverisiert und trocken. Und nun kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, diesem Ludger alles an Eigenschaften zuzuschieben, was sie selbst hasste. Ludger war nur eine Nebenfigur in Renées Leben, ein Freund ihres Bruders Ansgar, ein Angeber, ein Aufschneider, ein Hochstapler, der dann auch noch politisch rechts wurde. Ihr war leicht schwindlig, sie fühlte sich unkonzentriert, und die Ellbogen schmerzten. Alles schien schwergängig und mühsam. Sie hatte nicht das Recht, um Ludger eine Geschichte zu stricken. Aber Ludger gehörte zum Freundeskreis um Renée, sie hatten ihn mitgenommen.

Esther dachte an den Rosenkohl, der heute in der Küche verarbeitet werden sollte und der Geruch verband sich mit den Gedanken an Ludger. Er widerte sie zunehmend an.

Feil Granatus

Kleine Weihnachtsgeschichte, lieben Kollegen zugeeignet

Feil Granatus war ein Mann, den man in früheren Zeiten vielleicht einen Macher, genannt hätte. Auf seinem mächtigen Rumpf lagerte ein kugelrunder Kopf, meist bis in die Ohrenspitzen rot gefärbt, ein Ausdruck der Energie, die Feil in sich trug. Er war in der kleinsten Hauptstadt des Landes aufgewachsen, dem idyllischen Schwerin, unweit des Pfaffensees. Von klein auf interessierte er sich für das Bäckerhandwerk. Weniger weil er selbst gern Gebackenes aß, das auch, doch ausschlaggebend war für ihn der Umstand, daß die Bäckerinnung zu den aussterbenden Berufen gehörte. Alle wollten morgens an der Bus- oder Straßenbahnhaltestelle schnell ein Brötchen schnappen, als Proviant oder Lichtblick im tristen Büroalltag oder schon während der Fahrt. Nachts um drei Uhr aufstehen und um vier den Ofen einschalten – das wollte jedoch niemand mehr. Feil Granatus war sich dafür nicht zu schade. Wenn es darum geht, die Welt zu retten, sagte er sich, gilt es, klein anzufangen. Tatsächlich gründete er zusammen mit seinem besten Freund eine kleine Bäckerei in der Stadtmitte, die große Stücke auf sich hielt, mit neuartigen Rezepten und Zutaten zu experimentieren. Cardamom-Brötchen und Chilibaguettes bildeten den Anfang ihrer Serie innovativer Backprodukte. Anfangs hatten die beiden Geschäftspartner das Laufpublikum vor ihrer Ladentür als Zielgruppe im Visier. Immerhin gab es auf dem zentral gelegenen Marktplatz einen Busbahnhof mit zahlreichen Umsteigemöglichkeiten, die für „permanenten Traffic“ sorgten, wie es in der Sprache der Werbefachleute hieß.

Doch das Laufpublikum war Feil Granatus zu wenig. Er zahlte seinen besten Freund aus, stellte Mitarbeiter an, die für ihn ab drei Uhr nachts die Öfen bedienten, investierte in einen größeren Standort, schaffte neue Technik an, durch die er die halbe Belegschaft wieder entlassen konnte. Auch das Problem des frühen Aufstehens war Dank Automatisierung und Digitalisierung nun gelöst – die Öfen wurden am späten Abend durch einen Roboter bestückt, die Teiglinge aus Fernost tiefgefroren importiert (ökologisch nachhaltiger Sojaanbau, versteht sich, Weizen war schon lange aus Feils Sortiment verbannt) und der Computer startete um vier Uhr morgens das Backprogramm – es genügte, wenn der Pförtner einen Blick in den Produktionsraum warf, um einen Brand auszuschließen. Feil Granatus hatte erreicht, was man als kleiner Bäcker erreichen kann. Er war ein wahrhafter Macher geworden und auch ein wenig ein Macho. Nicht nur daß er in seinen fünf Läden die Kundschaft bedienen ließ, er versorgte auch die Backautomaten in zwei landesweiten Supermarktketten. Die Konkurrenz war brutal, Lohndumping und Bestechung an der Tagesordnung. Dabei ging es doch nur um Brötchen, wollte man meinen.

Als Feil Granatus auf dem Höhepunkt seines Erfolges angekommen war, passierte unweigerlich, was passieren mußte: Er begann, sich zu langweilen. In der Not besann er sich auf ein Hobby, das ihm schon als Kind Freude bereitet hatte. Er beteiligte sich an Wettbewerben. Je nach Ausschreibung ging es um das kleinste oder das größte, schmackhafteste oder exotischste Brötchen in der Stadt, im Land, schließlich sogar im Bund. Feil Granatus sammelte jahrelang Erfahrung, vor allem legte er Wert auf ein standesgemäßes Aussehen, eine ordentliche weiße Schürze, die seinen mächtigen Rumpf ehrfurchtgebietend umspannte, und eine kegelförmige Mütze, die einen halben Meter hoch von seiner Kopfkugel aufragte – wahrhaft eine imposante Erscheinung. Die Krönung jedoch war sein Produkt: das Granatusbrötchen, im Volksmund die „wohlfeile Granate“ genannt.

Dieses Backprodukt besaß die unvergleichliche Eigenschaft, erst im Mund aufzugehen und sich schließlich im Magen zur seiner vollen Größe zu entfalten. Es genügte also, sich einen Krumen von diesem Brötchen abzuzupfen, es auch nicht allzulange auf der Zunge hin und her zu wenden, sondern lieber schnell hinunter zu schlucken. Damit war der zufriedene Kunde den ganzen Tag über mit Sättigungsgefühlen versorgt. Es wundert nicht besonders, daß dieses innovative Backerzeugnis, wie Feils inzwischen patentierte Erfindung in den Medien genannt wurde, beim Laufpublikum in der Stadt nur auf wenig Gegenliebe stieß. Vielmehr meldete das Militär ein vehementes Interesse an und löste Bestellungen zu unschlagbar hohen Preisen aus. Bäcker Feil sah in den Spiegel, blickte voller Stolz auf seine Mütze, die wie eine Krone auf seinem Schädel thronte, und fühlte sich als König der Branche.

Doch wie der Volksmund sagt, dem Aufstieg folgt der Fall. Es begab sich, daß Feil eines Tages durch die Stadt schlenderte, die Stadt, deren Bewohner ihm zu Füßen lagen, um in den täglichen Genuß seiner Brötchen zu gelangen – da entdeckte er in der hinteren Ecke einer stillen Gasse eine kleinen Laden, der schon fünfzig Meter vor der Tür durch einen unwiderstehlichen Duft die Aufmerksamkeit auf sich zog. Dabei war diese Aufmerksamkeit gar nicht beabsichtigt sondern die notwendige Folge des Geschäfts – es handelte sich um eine stinknormale Bäckerei. Der Teig wurde von der Rührmaschine geknetet, von Hand zu kleinen Brötchen geformt, die nichts weiter auszeichnete als der Geschmack nach einem stinknormalen Brötchen. Feil Granatus war empört. Wie konnte das sein? Wer wagte es, ihm in dieser Stadt, in diesem Land, in seinem Reich Paroli zu bieten?

Postwendend lief er zur Handwerkerkammer und ließ sich beraten, welche rechtlichen Möglichkeiten ihm zu Gebote stünden, die winzige, dennoch unliebsame Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Doch o Gott, rechtlich war nichts zu drehen, das konnte nicht sein! Feil lief weiter zur Redaktion der Lokalzeitung, hier würde er wahrlich eine Granate platzen lassen – die Redakteure stünden auf seiner Seite, dafür würde er notfalls mit ein wenig „Backschisch“ nachhelfen. Doch es kam anders.

Der Redakteur ging mit seinem Taschengeld in die stille Gasse und konnte dem unwiderstehlichen Duft, der ihm die Nase kitzelte, kein Argument entgegen setzen. Von diesem Tag an wuchs die Schlange vor dem kleinen Laden. Der Redakteur wollte wissen, worin die Ursache des Hintergassenerfolgs lag, und lud Feil Granatus zu einem Wettbewerb in die Bäckerei ein. Die sportliche Aufgabe, die er beiden Bäckern stellte, war denkbar einfach: Sie sollten vor laufender Kamera und laufendem Publikum nichts weiter tun, als ein einziges ihrer Brötchen essen.

Auf die Plätze, fertig … Feil wurde eines seiner berühmten Granatusbrötchen aufgetischt, der Hintergassenbäcker erhielt eines seiner unaufgeblasenen Brötchen aus der aktuellen Auslage. Die beiden fingen an zu knabbern. Während sich unser Bäcker aus der Hintergasse Zeit ließ, damit sein Backwerk den Gaumen erfreue, beeilte sich Feil, einen Krumen nach dem anderen in den Mund zu stopfen. Das Unvermeidliche geschah.

Er hatte noch nicht einmal die Hälfte seines patentierten Granatuswunders verspeist, da begannen ihn Blähungen zu plagen. Aufgeregt lief er im Lokal auf und ab, in der Hoffnung, ein wenig Bewegung würde seinem mächtigen Rumpf beistehen, die sich aufplusternde Ware im Mageninnern schneller zu verdauen. Der Redakteur erschrak über die Konsequenzen, die sein harmloser Vorschlag, ein Wettessen zu veranstalten, offensichtlich auslöste, und schrie den Kontrahenten zu, der Wettbewerb sei abgebrochen. Der Hintergassenbäcker kaute noch genüßlich an seinem Minibrötchen, Feil Granatus jedoch fühlte sich herausgefordert und rief entschlossen: „Niemals!“ Ohne innezuhalten, füllte er sich den Bauch weiter mit seiner in Backform gepreßten Innovation.

Der Redakteur sah sich genötigt, den Notarzt zu rufen, damit es nicht dem Darm des armen Feil Granatus’ überlassen blieb, mit einem Knall zu verkünden: „Das ist dein Ende, Junge!“

Anteilnahme 2

wenn das smartphone smart beginnt
weitentferntes blut zu schwitzen
revoltiert man stumm im sitzen
während es zu boden rinnt

friedensfahnen als gardinen
wehen nicht weils windstill bleibt
während man mit ernstem grinen
taubenpics nach osten treibt

schreiben für ein stück vom kuchen
der nach anteilnahme schmeckt
hinterm flimmerbunt versteckt –
wenigstens den krieg verfluchen

Tante Anni und das Meer (Auszug)

Das Dorf

Über ihr, leise zirpend wie Grillen, die Telegrafendrähte vor einem tiefblauen Himmel. Ein Himmel, durchjagt von den ersten Schwalben im Jahr. Eine Weile verfolgt sie die exzentrische Bahn, die sie schießen, dann geht der Blick vom Rücken des Vaters über die Weiden. In der Ferne ein goldener Schimmer, gerade und langgezogen, ein kräftiger Strich. Er verbreitert sich, wird zu etwas wie einem Fächer. War es die Ems, die Fahrrinne vor der Mündung, oder doch schon das Meer?

Vom Telegrafenmast über ihr stehen Kandelaber ab, denen ähnlich, die sie von dem großen Leuchter in der Rysumer Kirche kennt. Nur daß dort oben keine Lichter flackern. Nur dieses vertraute Summen.

Sie ist fünf Jahre alt.

Der Vater nimmt sie oft mit, wenn er mit dem Rad unterwegs ist. Auf seinem Rücken sitzt sie in einem geflochtenen Korb, auch wenn er die Telegrafenmasten emporsteigt. Still und aufmerksam sitzt sie wie im Nest und schaut. Nur wenn er über das Ende der Leiter hinaus noch weiter emporklimmt, bleibt sie unten im Gras. Dann sieht sie des Vaters Rücken, seine langen Beine, die Füße in Stiefeln mit Kufen, als wolle er Schlittschuh laufen mitten im Sommer. Kufen, mit denen er sich einhakt und, Zug um Zug, den Mast emporklimmt, später scheinbar mühelos wieder herabkommt.

Die Kindheit auf dem Rücken des Vaters war ihr präsent in den letzten, von Krankheit gezeichneten Jahren. War‘n lieber Vater, schloß sie die kurze Erinnerung an das Leben im Dorf ab, als ich sie letztmals in ihrer Wohnung besuchte.

Sie war neun, als Hitler an die Macht kam. Wenige Wochen nach ihrem neunten Geburtstag, in der Schule die ersten Fragen: Wann und wo ist Adolf Hitler geboren? Wo ist Braunau?

Zwei Wochen vor ihrem Tod habe ich sie letztmals gesehen. Seit einem Jahr schon saß sie im Rollstuhl, im Heim der Arbeiterwohlfahrt, krank und über die Krankheit verbittert, die es ihr nicht mehr erlaubte, in den eigenen vier Wänden zu leben oder wenigstens selbst zu bestimmen, wann sie das Zimmer verließ. Es langweilte sie, nur immer herumzusitzen und nach draußen unter das Sonnenzelt nur im Kreis der anderen zu kommen, Rollstuhlfahrern wie sie. Sie hatte die Nase voll von der Versammlungsstelle vor dem Haupteingang, die Rollstühle um die Therapeutin gruppiert, die Quizfragen stellte und im Sommer darüber wachte, daß die hilflosen Greise keinen Sonnenstich bekamen.

Das wenige, was ich von ihnen weiß, haben sie über Jahre tröpfchenweise bei meinen Besuchen erzählt. Sie lebten in der Gegenwart, blickten nicht zurück. Es war ihr Alter, das die Anfänge manchmal, selten genug, aufblitzen ließ. Ein Leben auf dem Land, in einem Runddorf, sie, das Hin und Her in der Zeit des besetzten Rheinlands, er, die Splitter einer Granate im Krieg, Borkum, all das präsent in der Mainzer Neustadt, einer Wohnung, die sich über die Jahre hinweg kaum verändert hatte.

Täglich fährt der Vater nach Emden zum Telegrafenamt auf dem Rad hin und zurück, manchmal gar mehrfach, da er auch in den Pausen nach Hause zum Tee kommt. Zehn Kilometer sind es bis Emden.

Sie leben zur Miete, auf einem der Höfe. Bis in den späten Herbst hinein blühen vor dem Hauseingang Hortensien und Rosen. Noch war der Bruder nicht da. Erst zehn Jahre nach ihr, schon auf Borkum, würde er geboren. Die elektrischen Leitungen verliefen am Straßenrand zwischen den Häusern, in Höhe der Dächer. Ein Löschteich am Rand des Dorfs speicherte das Wasser für den Fall eines Brands. Fließendes Wasser gab es nicht. Zwischen den Höfen Landarbeiterhäuser. Jenseits der Straße, die am Dorf vorbeiführt, die Schule. Ein flaches Gebäude, von den anderen Häusern kaum zu unterscheiden.

Aus dem Fenster des Busses taucht zunächst nur der Kirchturm auf, dunkel und spitz, fern noch, dann, nach einer letzten Biegung der Straße, auch Turm und Windrad der Mühle.

Zweimal am Tag kam der Bus.

Ein Warfendorf, erbaut über aufgeschütteter Erde, gut einen Kilometer hinter dem Deich, um es vor der Sturmflut zu schützen. Ein Runddorf. Höfe und Häuser sind in konzentrischen Kreisen um die Kirche errichtet. Alle inneren Straßen führen um die Kirche und den Friedhof herum, als unangefochtene Mitte.

Von nahem sieht der Kirchturm aus wie ein Regenschirm. Groß und schwarz und spitz, auf den Kopf gestellt und zugeklappt. Der filigrane Glockenstuhl darunter, weiß, erinnert an einen Taubenschlag. Die goldene Kugel krönt die Spitze des Turms, darüber der goldene Hahn.

Vom Dach der Mühle geht der Blick über Dächer, über Weiden und Kühe, auf den Deich in der Nähe, bis auf die Ems, auf die Fahrrinne nach Borkum hinaus. Noch immer mahlt die Mühle das Mehl für das Dorf und die umliegende Gegend. Sind die Felder gepflügt, liegt die tiefdunkle Scholle bloß, fast schwarze, aufgebrochene Erde, speckig glänzend in der Sonne. Rasch wechseln Regen und Sonne. In der Nähe des Dorfs fließt ein breiter Kanal zwischen den Weiden zur Ems.

Emsstraße, das war die Adresse.

Leipziger Sechs

Zwei von ihnen sitzen vorn im Licht
Die Haare grau : die Schultern eingefallen
Wach der Geist und hoch erhoben
Wie ein Zeigefinger : ihre Stimme


So sitzen sie und weilen unter uns
Zwei der dreizehn Bezirksgenossen
Die unsern Weg einst Richtung
Abgrund lenkten : drei schreckten nur


Zurück vorm letzten Schritt : drei
Menschen : Funktionäre : die nicht
Funktionierten : drei Apostel
Die uns was predigten von ferner


Zukunft : während das Land verrottete
Verpestet von Chemie : vom Brot
Wohlstand und Schönheit : durch marode
Hallen marodierender Mob


Strömt in die Stadt : brüllt auf dem Ring
Wir sind die Nibelungen : wir
Sind euer Untergang : wir sind
Der Untergang : den ihr nicht wolltet


Und fern der kranke alte Zeremonienmeister
Im Palast befiehlt den Sturm
Mit Panzern und Gewehren auf die Straße
Arbeiter : erschießt die Arbeiter : damit


Ich überlebe : die Generäle zittern
Blicken stumm vor sich auf den Boden
Noch kein Blut : gleich fließt es : Blut
Aus den Adern derer : die sich


Heiser brüllen auf dem Ring : Verräter
Sind die drei Apostel : wollen sofort
Anstand : Menschlichkeit
Der Zeremonienmeister schüttelt den Kopf


Und dreht sich um im Krankenbett
Geschüttelt vom Fieber : ist das schon
Der Tod : aus Schweigen wird kein Befehl
Die Kampftruppen ziehn ab : Spione


Mischen sich unters Volk
In den Kirchen : aufgeknüpft sollen sie
Werden : rufen die zehn Glaubensbrüder
Ihren drei Verrätern in den eignen Reihen zu


Wir haben die Laternen schon ausgesucht
Für euch : doch aus den Pfählen tönt : das ist
Kein Scherz : eine ruhige : beruhigende Stimme
Sprecht miteinander und keine Gewalt


Die Leute an den Haltestellen knien
Nieder und beten die Lampen an
Welch eine Erleuchtung : Erleichterung
Bringt der Stadtfunk : die drei Apostel


Haben drei Freunde gefunden und einer
Von ihnen spricht : allen aus den Herzen
Heute sitzen sie alt und beinahe vergessen
Vorn am Tisch im Licht : eine junge


Frau tritt ans Pult : als wäre es eine Kanzel
Erzählt die Leipziger Heilsgeschichte : der Kommunismus
Herr : war das nicht jene Kirche
Die Gott mit einer Utopie verwechselte


Und wenn sie nicht gestorben sind
So predigen sie noch heute

Demokratie

Seit meiner Jugend habe ich mich an Älteren orientiert, ich meine nicht oder nur selten an Lehrern, sondern an Philosophen, Künstlern, Handlungsreisenden, Lektoren, Schriftstellern und Übersetzern. Warum eigentlich? Weil ich selbst älter werde mit jedem Tag, wie jeder und jede um mich herum. Wir sammeln Er­fahrungen und Erkenntnisse, die geachtet werden wollen.

Demokratie ist die Volksherrschaft. Im Unterschied zur Autokratie, der Herrschaft des Einzelnen, gesteigert in der Despotie, der Gewaltherrschaft Einzelner. Im Unterschied zur Oligarchie, der Herrschaft der Mächtigen. Im Unterschied zur Meritokratie, der Herrschaft der Fähigen und Ehrwürdigen.

Demokratie ist die beste aller Gesellschaftsformen. Das heißt nicht, daß sie gut ist. Nur sind die anderen Verfassungen noch schlimmer. Um die Demokratie zu erhalten, muß man ihre Schwächen kennen und die Gefahren, die von ihr ausgehen.

Die Demokratie ist die am meisten idealisierte Herrschaftsform, sie wirkt am menschlichsten, gerechtesten und friedlichsten. „Alles für das Wohl des Volkes.“ Damit ist die Spitze der hohlen Phrasen erreicht.

Die Demokratie ist zugleich eine schwierig umsetzbare und instabile Herrschaftsform. Sie kennt Regeln und Spielregeln und damit den Verrat, die Korruption und Bestechlichkeit.

Eine Herrschaft des Volkes, wenn es sie gäbe, wäre eine Herrschaft der Massen, nicht nur der Mehrheit (die Minderheiten unterdrückt), sondern des Pöbels, des Gemeinsinns im Sinne des Gemeinseins gegenüber Anderen, Andersdenkenden, der Ausgrenzung – während sich die Demokratie Integration und Inklusion auf die Fahne schreibt.

Herrschaft wird praktischerweise immer von einer Minderheit ausgeübt. Die Demokratie ist daher eine Gesellschaft der Gremien, des beschränkten Zugangs, der Nadelöhre und Filter. Wer bestimmt, wer oben ist? Sind es die „freien Wahlen“ oder ist es das freie Spiel der Kräfte, der ökonomisch und politisch Mächtigen, die den Zugang zur Macht in Demokratien beherrschen?

In Athen waren es die Bürger, die beim Scherbengericht durch Akklamation die Entscheidungen für die Polis trafen. Doch es waren nicht alle Bürger. Sklaven, d.h. in der Regel Kriegsgefangene, und Frauen waren ausgeschlossen. Die griechische Demokratie, die uns als leuchtendes Beispiel vor Augen steht, war die diskriminierende Herrschaft der Männer, die Sklaven besitzen durften, eine Kungelrunde der Schönen, Überheblichen, Glücklichen und Neider. Sokrates fiel ihr zum Opfer, indem er es ablehnte zu fliehen, bevor ihm der Schierlingsbecher gereicht wurde. Die griechische „Demokratie“ war auf Vorteil und Intrige gebaut, sie unterstützte das Mittelmaß, verachtete Geist und Widerspruch. Heißt es, wenn Streit der Vater aller Dinge sei (Heraklit), er also auch das Kern­stück der Demokratie ist?

Demokratie bedeutet fortwährendes Buhlen um die Macht. In einer freien Wahl haben zwar alle Wahlberechtigten formal den gleichen Stimmumfang, d.h. sie können auf dem Wahlzettel die gleiche Anzahl Kreuzchen setzen. Doch entscheidend ist, wessen Name auf dem Wahlzettel steht und wer hinter diesen Namen steht. Hier hören Freiheit und Gleichheit auf.

Wirklich fair wäre eine Wahl, wenn sie einen Mechanismus enthielte, der ökonomisch und politisch Mächtigen umgekehrt proportional zum Ausmaß ihrer Macht Stimmengewicht wegnimmt.

Demokratie, wie wir sie kennen, verleiht den Mächtigen am Ende noch mehr Macht und stärkt die Akkumulation der Macht. Demokratie, wie wir sie kennen, verwandelt sich stillschweigend, schleichend, schlafwandlerisch, in eine Oligarchie, die sich in demokratische Spielregeln hüllt, als wären sie bunte Kleider und Mäntelchen, Kostüme auf der politischen Bühne. Auf der Bühne werden Scheinkämpfe ausgetragen, es fließt Theaterblut, es werden Scheintode gestorben. Und nach der Aufführung treffen sich die Spieler in der Kantine beim Prosecco.

Hinter den Kulissen drehen verschwitzte Arbeiter mächtige Räder – um die Kulissen zu schieben. Das Volk im Publikum sieht sie nicht, es applaudiert den Helden im Scheinwerferlicht. In den Büros nebenan werden die Karten gemischt, Verträge gebrochen und heiße Kriege erklärt. Das demokratische Ringen kennt nur vorübergehende Sieger. Jeder vermeintliche Held gebiert seine Widersacher.

Nun haben wir in der Demokratie nicht nur die Wahlen. Wir haben auch die Institutionen, die bremsende Bürokratie, die Gewaltenteilung. Wenn sich in checks and balances nach amerikanischem Vorbild zwei gleichstarke Mächte die Waage halten, droht die Eskalation. Demokratie richtet sich im labilen Gleichgewicht ein, um von der Ewigkeit zu träumen. In Wirklichkeit regiert das Militär, die Militär­industrie und alle mit ihr verflochtenen Branchen (IT, Pharma, Banken etc.): Krieg ernährt den Krieg.

Basisdemokratie, wenn es sie überhaupt gibt, sehen wir am ehesten bei den Eidgenossen in den hohen Bergen. Sie haben sich 1291 den Eid geschworen und eine Stimme verliehen, die sie gebrauchen, bei allen möglichen Fragen. Seit 500 Jahren, seit den Burgunder- und Schwabenkriegen leben sie in Frieden, erklärten im Dreißigjährigen Krieg ihre „immerwährende bewaffnete Neutralität“ und scherten nach dem Westfälischem Friedensschluß aus dem „Heiligen römischen Reich deutscher Nation“ aus, was ihnen den Fortbestand des Friedens sicherte. Und doch ist ihre Volksherrschaft wie bei den Athenern auf Ausbeutung und Diskriminierung gegründet: Indem sie die Talbewohner auf allen Kontinenten ringsum als Untertanen in ihr Netz verstrickt haben, indem sie das Gold des Planeten in ihren Tresoren bunkern, indem sie flüchtende Juden an ihren Grenzen abwiesen, Nazigold aber passieren ließen. 

Demokratie muß sich fortwährend verkleinern, indem sie Vertreter der Volksmasse auswählt, Kompromisse eingeht, die sich als faul erweisen, von Partikularinteressen zerrieben und zerrissen wird. Wenn wir heute von Demokratie reden, meinen wir jenes repräsentative Marionettentheater, hinter dessen Kulissen nach Möglichkeit unsichtbare Akteure die Strippen ziehen. Der Verdacht der Ver­schwörung ist der repräsentativen Demokratie immanent. Dazu gehört die Unterstellung, Kritik an der demokratischen Fassade sei undemokratisch. Verschwörungstheoretiker werden von Ver­schwörungs­praktikern bekämpft. Denn sie verdanken ihre repräsentative Reputation allein der Illusion demokratischer Teilhabe, wo tatsächlich der reine Machtwille nach Hegemonie strebt und seine Durchsetzung sucht.

Clarice

DIE STUNDE DES STERNS

     Die Stunde des Sterns war jener Augenblick von plötzlichem Glanz, in dem ein Wort aufschien. Oder ein Verständnis, das gefehlt hatte, sich einstellte, wie das von der Bedeutung des ersten Buchstabens des Alphabets, dem hebräischen Aleph, das nicht die Gesamtheit der Schöpfung bedeutete wie im big bang, sondern, im Gegenteil, das Nichts, die Leere eines Abgrunds, die es zu füllen gälte, durch die Zeit hindurch, mit der künftigen Schöpfung.

     Erzogen im Land des Samba, liebte Clarice es, ab und an nach Europa zu kommen. In Paris die Kunst, in Berlin die Musik.

     Manchmal, in Spanien, mit einem Freund, hörte sie Manuel de Falla, Nächte in spanischen Gärten. Und sie gingen, Hand in Hand, aus dem Konzert zu den Gärten der Alhambra, im Wissen, daß so viel Sinnlichkeit sie gefährlich verstricken würde. Denn jeder hätte in Kürze zu seinem Anfang zurückzukehren, und dies war eine Begegnung des Endes, ohne Wiederbeginn. Sie setzten sich auf die Erde, umarmten sich, schauten zu den Sternen und warteten auf die Morgendämmerung. Die aufgehende Sonne erstickte das Begehren und die Illusionen.

     Zu wissen, daß nichts eine Fortsetzung hätte, machte das Gefühl noch größer.

     Es gibt Liebeskummer in ihren Büchern, sagen einige. Enttäuscht sein vom Leben, doch ohne die Schwierigkeit, es auszustellen, und mit einer solchen Intensität, daß es schmerzt. Ein wildes Herz, ja, doch gezähmt.

     Das schwierige Wort, Schweigen, solange es nicht aufschien. Als könnte das Herz explodieren. Es war nötig, diese gehetzten Schreie zu befreien oder stattdessen zu fliehen. Die Flucht war die Vorbereitung des Schreibens. Und im Schreiben war Clarice endlich für einen kurzen Moment glücklich.

     Als sie jung war, hatte ihr eine ihrer Ärztinnen gesagt, wie amüsant, Ihr Herz hat die Form einer Birne.

     Es ist klein und hat diese Form. Aber kein Problem, es ist alles gut.

     Und so war es bis zu einer gewissen Zeit, als sie Probleme bekam, Angstzustände, die sie Panikattacken nannte und die sie blockierten, unfähig, auch nur aus dem Haus zu gehen. Sie hörte in dieser Zeit immer wieder lange mit dem Schreiben auf, Ideen und Worte blieben aus.

     Sie las Saint-Exupéry, der Pilot, der die Erde der Menschen von oben sah, vom Himmel aus, ein Planet zwischen so vielen Sternen, Galaxien, die man nicht kannte, doch die er schon wie ein Vorläufer als unendlich erahnte und die dem Menschen seinen Platz zuwiesen, klein, demütig, ein Wesen, dem die Neugierde und die Vorstellungskraft etwa des Kleinen Prinzen fehlte. Einen Hut zu sehen, wo ein Elefant war. Über den unmittelbaren realen Anschein hinaus zu sehen. Er zum Beispiel hatte die Erfahrung der Wüste, den großen Spiegel des Himmels. Ach, der Himmel, Clarice dachte bereits an die Stunde des Sterns, als sie ihn las. Er die Erde der Menschen, sie der Stern des Himmels. Die Menschen auf der Erde, die gerettet werden mußten. Der Himmel, der Hoffnung auf Rettung gäbe.

     Zu ihrem Glück war Nuno ein ruhiger Mensch. Er brachte Clarices Unruhe ins Gleichgewicht, die häufigen Höhen und Tiefen. Nuno wurde beschrieben als eine Figur der Fiktion, und sie hatte ihm Substanz zu verleihen, die ihn glaubwürdig machte.

     Es gab viele Schreibkurse, alle sprachen von der notwendigen Substanz für die Figuren. Nicht, daß sie Kurse nötig gehabt hätte, sie war ihr eigener Kurs, die Substanz wurde verliehen durch kleine Details, eine Geste, ein zufällig geäußertes Wort, die Beschreibung der gewöhnlichen Kleidung, solche Dinge. In Wirklichkeit war ihr das nicht wichtig. Clarice lebte in der eigenen Mitte, sie war Autorin und Figur, sie brauchte keine Fiktion.

     Ihr größter Ehrgeiz? Einschlafen und dann schlafen, ohne zu träumen.

     Sie hörte am Klavier die Phantasiestücke von Schumann. Dies war das Warum.

     Warum?

     Warum, eine der ersten und häufigsten Wörter. Die ein Kind sagt, wenn es sprechen lernt. Oft hörte sie von den Eltern die Antwort „darum“, wenn es darum ging zu gehorchen.

     Doch jetzt, erwachsen und schon auf dem Weg zum Alter, fühlte sie dieselbe Befragung: warum?

     Warum ihr Leben bis hierher, und wozu? Wenn sie krank wurde, hatte sie dasselbe warum, warum wird man krank, und oftmals ist es nicht der Körper, sondern die Seele.

     Und warum die Seele? Was war die Seele, oder zu glauben, daß man eine hat, und daß sie überdauert, über den Tod und die Zeit hinaus? Warum?


Aus: Yvette K. Centeno, Clarice (ed. glaciar, Lissabon 2023).

Featuring : Juri Shiwago : Boris Leonidowitsch Pasternak

1
Hamlet

Es ist still. Ich trat hinaus ins Helle.
Steh‘ an Holz gelehnt und hör‘ verwundert
In dem fernen Widerhall der Stimmen,
Was noch alles bringen wird mir mein Jahrhundert.

Auf mich zielt des schwarzen Dunkels Wahn
Tausendäugig fokussiert aus düsterer Höhe.
Wenn’s nur irgend möglich wäre, Abba Ahn,
Lass diesen Kelch an mir vorüberziehen.

Denn ich liebe deinen klaren Willen,
Bin, gemäß ihm mitzuspielen, doch bereit.
Aber das, was heute läuft, ist ein ganz anderes Spielen,
Nimm für dieses Mal hier mich beiseite.

Aber ausgedacht bis an ihr Ende muss die Handlungsfolge ewig ruhen,
Unabwendbar bis ans Ziel des Strebens sieht’s der Held.
O, ich bin allein in einer Welt, die zugrunde geht in Pharisäertum.
Dieses Leben zu durchleben ist nicht Überquerung eines offenen Feldes.

(1946)

Du bist wie Rauchen

Du bist wie Rauchen.
„Bald gebe ich auf“,
lüge ich mich zum tausendsten Mal an.
Doch gerade stehst du vor mir und ich frage:
„Wieso hast du denn so viel an?!


Ausziehen! Ja, alles! Und zwar sofort!“
Ich kann dir jetzt gar nicht widerstehen.
Irgendwann gehe ich doch von dir fort.
Hoffentlich wirst du mich dann verstehen.


Du bist wie Drogen,
und ich bin süchtig geworden,
obwohl alles fing so unschuldig an.
Ich lüge mir wieder:
„Bald gebe ich auf.
Werde dich aus meinem Leben verbannen“.


Doch gerade in deinen Armen
Lässt sich die ganze Welt vergessen.
Verdammt! Es fühlt sich so gut an.
Das Vergnügen lässt sich gar nicht messen.


Und ich geb‘ mich dir hin
Ohne Zweifel und ohne Reue.
Ich geh‘ in dir völlig auf.
Flüstere mir selber Kopf:
„Heute nicht, aber morgen…
Morgen gebe ich dich endlich auf“.

Aus: Meine Schwester – das Leben

Boris Leonidowitsch Pasternak

.

Definition der Poesie

Das ist ein steil aufgegossener Pfiff,
Das ist das Stottern von Eisschollen unter Druck,
Das ist Nacht, die die Blätter vereist,
Das ist das Duell zweier Nachtigallen.

Das ist die verstummte verwildernde Zuckerschote,
Das sind Tränen des Alls in den Schulterblättern,
Das ist der Figaro, der als Weinbeere – seine Pulte und Flöten
Verlassend – sich in die Furchen der Reben hinabsenkt.

Alles das, was der Nacht so wichtig aufzufinden ist
In den tiefen Wirrnissen klaffender Umkleidekabinen,
Und dass der Stern bis ins Gärtchen getragen wird
Auf den zitternden feuchten Handflächen.

Flacher noch als Bretter auf dem Wasser ist die Schwüle.
Das Himmelsgewölbe zusammengesunken zur Erle.
Diese Sterne würden dem All noch aufs Gesicht zukichern
An einem stummen Ort wie diesem.

(Sommer 1917)

Die Vergangenheit

Da sitzt sie dir gegenüber

Die Vergangenheit ist nicht

Tot : sie ist nicht einmal

Vergangen : sie sitzt dir

Mit ihrem neuen Freund

Gegenüber : schwätzt

Und lacht : ißt und küßt

Alles an ihr ist Vergangenheit

Sie reist zum Vergnügen

In deine Gegenwart

Was du langweilig findest

Erkundet sie neugierig

Und weiß nichts Von ihrer Zukunft

* *

Falle! Verse seien dein Kissen,
Rosen und Myrthen seien dir Flaum
Unter des Schädels Knochengewissen –
Falle, Feder, frei durch den Raum…

Steig im Herzen zur Höhe der Vögel,
Wissend, dass du kein Vogel bist –
Denn dir im Herzen wohnt dieser Zwist:
Herzscheidewand zwischen Kindern und Kegel.

*

„Wir sind keine Fledermäuse, sagt sie, wir können auf die Echos hören und sehen trotzdem nichts, überhaupt nichts, nein, wenn sie dort entlang geht…“ (B., P.)

. .

Sechs Gedichte : Alexander Blok in unseren Tagen

Ja, als ich die erhabene Flamme der Liebe in mir trug, die aus den immer gleichen einfachen Elementen geschaffen war, aber einen neuen Inhalt, neuen Sinn erhalten hatte, weil die Träger dieser Liebe Ljubow Dmitrijewna und ich waren – „ungewöhnliche Menschen“ ; als ich jene Liebe in mir trug, von der man auch nach meinem Tode in meinen Büchern noch lesen wird – liebte ich es, im armseligen Dorf elegant zu reiten auf einem schönen Pferd; liebte ich es, einen armen Bauern nach dem Weg zu fragen, welchen ich ohnedies wußte, um „vornehm zu tun“, oder ein hübsches Weiblein, daß wir einander flüchtig anblitzten mit den weißen Zähnen, daß es zuckte in der Brust ohne Grund, von nichts, außer etwa der Jugend, dem feuchten Nebel, ihrem sonnverbrannten Blick, meiner gestrafften Taille – und das störte diese erhabene Liebe nicht im mindesten (war es so? Und wenn die späteren Abstürze und Wurmstiche von dort herrührten?), im Gegenteil – fachte die Jugend an, die pure Jugend, und mit der Jugend in eins loderte jene erhabene „a n d e r e“ Flamme auf…

Alexander Blok, Tagebuch, 6. Januar 1919

1

Die europäische Unruhe der Jahrhundertwende gewann in Rußland ihre einzigartige Radikalität durch die Verlagerung des revolutionären Weltzentrums und die Vorboten der Revolution von 1905 bis 1907 und führte in allen Künsten zu neuen Entdeckungen. Der Realismus, den Maxim Gorki, Iwan Bunin und Leonid Andrejew schrieben, begann schon in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die russische und die Weltliteratur unübersehbar zu beeinflussen. Zur gleichen Zeit traten Schriftsteller auf, die angesichts der veränderten Weltsituation diese Erneuerung des Realismus mit Skepsis beobachteten und andere Wege suchten – die russischen Symbolisten.

Der russische Symbolismus war eine Kunst der Synthesen. Die Veränderung, die er in der russischen Kultur bewirkte, ist auf die eigentliche kunstgeschichtliche Phase von 1895 bis 1910 nicht zu beschränken. Andrej Belys „Petersburg“ und Fjodor Sologubs „Der kleine Dämon“ oder Alexej Remisows ornamentale Geschichten in der Prosa, Alexander Blok und Innokenti Annenski in der Lyrik, Wsewolod Meyerhold und Vera Kommissarshewskaja auf dem Theater, das russische Ballett, Michail Wrubel in der Malerei und Alexander Skrjabin in der Musik – sie alle verursachten Umwälzungen, ohne die die sowjetische Kunst undenkbar wäre und deren Tragweite bis heute erkundet wird. Weit besser als diese Kunst der Synthesen kennen wir die Kunst der Analysen, jene 1910 einsetzende mächtige Leidenschaft des Zerlegens und Zerfällens, die selbst noch die ästhetischen Verfahren und Materialien zum Gegenstand ihres Entzückens machte. Die Unvermeidlichkeit dieses Sturms der Analyse, den die Visionäre der Zergliederung entfesselten – Welimir Chlebnikow, Wladimir Majakowski, Sergej Eisenstein, Sergej Tretjakow, Juri Tynjanow und Juri Olescha: jeder auf seine Art -, begreift man aber nicht, wenn man die Weltsynthesen nicht kennt, die ihm vorausgingen. Die Analysen reagierten nämlich kraft neuer revolutionärer Erfahrungen und Funktionsideale kritisch auf die Welteinheit in den Synthesen der Symbolisten, und es ist kein Wunder, daß sich bei Blok nach 1910 ein deutlicher Wandel im Synthesebegriff vollzieht.

Die Anstrengungen der russischen Symbolisten richteten sich vor allem gegen ein simples Nacherzählen der Welt, das sich mit der Ausbreitung von echtem Milieu, von tatsächlichen Zuständen und Vorkommnissen begnügte. Diese Sicht entsprach freilich in keiner Weise der tatsächlichen Leistung der neuen Realisten, die den revolutionären Umbruch nicht nur sozialkritisch sichteten, sondern sozialpädagogisch förderten.

Die Symbolisten suchten nach einer Authentizität kosmischer Art: Der Text sollte im Zusammenstoß der Andeutungen, Analogien und Suggestionen den kosmischen Zusammenhang aller Erlebnisse des modernen Menschen herstellen. Ob aber das gewonnene Symbol des Zusammenhangs allein die Vorstellung des einzelnen Bewußtseins sei oder vielmehr Wiedergabe eines Objektiven, darüber ist es im Laufe der fünfzehn Jahre mehrfach zum Streit gekommen, denn von dieser Entscheidung hing sowohl die Kunstauffassung wie der Begriff der Weltsynthese ab. Als die Dichter 1910 den Zustand des Symbolismus besprachen, prallten die beiden Auffassungen noch einmal scharf aufeinander. Valeri Brjussow verteidigte den Symbolismus als pure Kunst gegen Wjatscheslaw Iwanow und Alexander Blok, die mit dem Symbolismus über Kunst hinausstrebten – „andere Welten schauten“.

Es konnte so aussehen, als vertrete Brjussow hier die Autonomie der Kunst, während seine Gegner, wie er argwöhnte, sie der Religion unterwerfen wollten. Tatsächlich hat gerade Brjussow als Dichter, als Übersetzer, Redakteur und Organisator des Symbolismus für die Emanzipation der Kunst und die Aufnahme der zeitgenössischen westeuropäischen Künste, besonders des französischen Symbolismus, so viel getan, daß ihn Nikolai Gumiljow schon 1910 den Peter den Großen der russischen Kultur nennen durfte. Aber eigentlich ist es doch nicht darum gegangen. Das entscheidende Problem des Streits war das Verhältnis von Kunst und Dichterleben. War die Weltsynthese Kunst oder Leben? Blok 1910: „Ich stehe vor der Schöpfung meiner Kunst und weiß nicht, was ich tun soll. Anders gesagt: was ich mit diesen Welten tun soll, was ich auch mit dem eigenen Leben tun soll, das von nun an Kunst geworden ist, denn seine Schöpfung lebt neben mir – nicht lebendig, nicht tot, eine blaue Vision. Klar sehe ich das Wetterleuchten zwischen den Brauen der Wolken des Bacchus (Eros von Wjatscheslaw Iwanow), klar unterscheide ich die Perlmutter der Flügel (Wrubel – Der Dämon, Die Schwanenprinzessin) oder höre das Rascheln der Seide (Die Unbekannte). Doch all das ist Vision.

Bei dieser Lage der Dinge erheben sich die Fragen nach dem Fluch der Kunst, nach der Rückkehr zum Leben, nach dem gesellschaftlichen Dienen, nach der Kirche, nach Volk und Intelligenz. Das ist eine ganz und gar natürliche Erscheinung, die freilich dem Symbolismus innewohnt, denn es ist die Suche nach dem verlorenen goldenen Schwert, das das Chaos aufs neue durchbohrt, die tosenden violetten Welten ordnet und besänftigt.

Der Wert dieses Suchens liegt darin, daß es die Objektivität und Realität jener Welten augenfällig macht ; hier bestätigt sich, daß all die Welten, die wir besuchten, und all die Geschehnisse, die sich darin abspielten, keineswegs unsere Vorstellungen sind, das heißt, daß die These und Antithese bei weitem nicht nur von persönlicher Bedeutung sind.“

Alexander Bloks Weltsynthesen gehören hier sicher zu den bemerkenswertesten und gefährdetsten: Sie sind ausschließlich das Werk eines Lyrikers. Während alle anderen Symbolisten immer wieder gelehrte Texte schrieben (manchmal beachtlichen Umfangs wie Brjussows Puschkin-Studien, Iwanows Dionysos-Abhandlung, Belys Gogol-Monographie oder Mereshkowskis Tolstoi- und Dostojewski-Darstellungen), blieb Blok Lyriker, was er auch unternahm. Seine Dramen, seine Prosa, seine Briefe, selbst seine Darstellung über die letzten Tage des Zarenreichs sind die eines Lyrikers, und der Versuch, ein erzählendes Poem mit Milieu und Fabel zu schreiben, blieb ein Fragment. In seiner Prosa „Kunst und Zeitung“ ist nachzulesen, wie er vom Dichter fordert, in der Sprache der Poesie auch für die Zeitung zu schreiben. Und Wjatscheslaw Iwanow meinte diese Leistung des Lyrikers, als er im Januar 1921 von Blok sagte: „Im Umgang ist seine Rede so einfach, scheinbar bringt er keine zwei Worte zusammen, aber in seinen Gedichten weiß er intuitiv Sachen von dir, so intime Erlebnisse, die kein anderer weiß.“

Die Skepsis, die tiefe Abneigung, welche Blok in immer neuen Anfällen gegen das Lyrische hegte, zeigt, wie bewußt er sich der Gefahren war. Daß Blok bis zum Schluß so großen Wert auf die Zyklisierung seines gesamten Werkes legte, von kleinen Einheiten bis zur Trilogie, und viele Male Großformen ins Auge faßte, „Nachtigallengarten“, „Vergeltung“ oder „Rose und Kreuz“, hängt mit der Suche nach bündigen Strukturen für Taumel und Gewalt des Lyrischen zusammen. Aber diese vollkommene Übertragung der Menschheitskultur in die Sprache des Gedichts verlieh Bloks Poesie die Bezauberung. Man könnte von Blok sagen, schrieb Ossip Mandelstam 1922, er sei der Dichter der „Unbekannten“ und der russischen Kultur.

Nicht daß die „Unbekannte“ und die „Schöne Dame“ Symbole der russischen Kultur seien, „aber das gleiche Verlangen nach Kult, das heißt nach einer zweckvollen Entladung poetischer Energie, leitete sein Schaffen im Thematischen und genoß ihren höchsten Augenblick im Dienst an der russischen Kultur und der Revolution“.

Blok hielt die Last seiner Weltsynthesen „im Schweben von Bagatellen“, wie es im Juni 1909 in einem seiner italienischen Gedichte steht:

Die Kunst – Last, auszutragen, die die Schultern drückt.
Und doch – wie halten wir, die Dichter, uns im Schweben
Von Bagatellen, die das Leben tauscht, entzückt.
Wie süß, dem freien Nichts der Zeit sich hinzugeben
Mit Nichtstun, spürn im Leib das Blut
Singend wenden,
Sich – hinter einem Federwölkchen – Glut,
Die rote Lieb, erhaschen mit den Händen.

Die Glut erhaschen mit den Händen: Der Dichter befreie die Klänge aus dem Chaos, füge zur Harmonie und trage diese Harmonie in die Welt. Bloks ständige Sorge ist das Tagebuch seines Weges, die Trilogie der Vermenschlichung, wie er seine drei Bücher Gedichte nennt, deren Abteilungen und Texte er viele Male umstellte und änderte. Die peinlich genaue Datierung und wechselnde Anordnung baut eine ausgedehnte, an Gegenden reiche Welt voll Wahnsinn und Vergessen, voll Heiterkeit und heimlicher Freiheit – seine Weltsynthese: von einem Augenblick überhellen Lichts durch den unumgänglichen Sumpfwald zu Verzweiflung, Verdammnis, „Vergeltung“ und zur Geburt eines „gesellschaftlichen“ Menschen, eines Künstlers, der der Welt mutig ins Auge sieht.

Entscheidend war die Vorstellung von der Zeit. Die Trilogie der Vermenschlichung meint kein Nacheinander, und die Ansiedlung der Gedichte in der Kalenderzeit bekräftigt nur deren Entmachtung. Die Poesie vertilge die Kalenderzeit, die etwa technische Fortschritte einander ablösen läßt. Poesie folge jener anderen Zeit, die Blok die musikalische nennt.

Musikalische Zeit meint – in größeren Zeiträumen empfinden, denken, leben: Die Catilinischen Verschwörungen im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung sind eine Seite in der Geschichte der Weltrevolution, und der Sieg über die Tartaren in der Schlacht auf dem Kulikowo-Felde am 7. und 8. September 1380 ist ein Ereignis in der russischen Volksseele von heute. Musikalische Zeit meint – Tatsachen aus allen Lebensbereichen, die dem Dichter in einem bestimmten Augenblick zugänglich sind, zueinanderordnen: Alle zusammen schaffen immer einen einheitlichen musikalischen Stoß. Musikalische Zeit meint – Leben jenseits des eingetretenen Kalendertags. Nicht in der Vernachlässigung des unansehnlichen Alltags vor dem strahlenden Feiertag der Zukunft. Sondern die Empfindungen ausbildend für jeden kommenden Umbruch in Stimmung, Haltung, Lebensart.

Was hier für ein Jahr oder Jahrtausende gilt, galt Block ebenso für jeden Tag und für die Welt überhaupt. Es war die Einheit der Welt, die er auf seine Weise beschrieb – wie hier 1921 in der Puschkin-Rede „Von der Bestimmung des Dichters“: „In den bodenlosen Tiefen des Geistes, wo der Mensch aufhört, Mensch zu sein, in Tiefen, die den Geschöpfen der Zivilisation – dem Staat und der Gesellschaft – unzugänglich sind, schweben Klangwellen, die gleich den das ganze Weltall umfangenden Ätherwellen sind, dort kommt es zu rhythmischen Schwankungen, ähnlich jenen Prozessen, die Gebirge, Winde, Meeresströmungen, Pflanzen und Tiere hervorbringen.“

Musik als Urgrund der Welt und Lyrik als unmittelbar abhängig vom Geist der Musik zu sehen war im Rußland des beginnenden 20. Jahrhunderts ohne Friedrich Nietzsches „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ und ohne Richard Wagners Musik nicht denkbar. Blok hat das 1900 russisch erschienene Buch des deutschen Philosophen 1906 gelesen und lange Passagen mit Genugtuung herausgeschrieben. In seinem Aufsatz „Die Dichtung der Beschwörungen und Zaubersprüche“ von 1906 zitiert Blok als Bekräftigung seines frühen Synthesebegriffs, der Auffassung von der Ungeschiedenheit von Wort und Tat in der Beschwörungsorgie, aus Nietzsches „Fröhlicher Wissenschaft“ den Satz, der die bannende Macht des Rhythmus in der Mythologie erläutert: „… ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott.“ Der Kontext bei Nietzsche ist allerdings eher abfällig. Er fährt fort: „Ein solches Grundgefühl läßt sich nicht mehr völlig ausrotten – und noch jetzt, nach jahrtausendealter Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus …“ Bloks Nietzsche- und Wagnerbild sind genausowenig bekannt wie seine Beziehung zur deutschen Romantik, etwa Novalis – feststeht aber, daß er die beiden Freund-Feinde mit Ibsen und Strindberg als Kronzeugen für seine Ansicht anrief, daß der deutsche und der skandinavische Geist neben dem russischen Geist die größten Opfer im Kampf mit den Gegnern der Elementarkräfte gebracht habe.

Die Oktoberrevolution, die Blok, seinen Weltsynthesen entsprechend, als Teil eines Jahrtausendereignisses – des Anbruchs einer neuen Menschheitszeit – nicht mit der Französischen Revolution, sondern mit den Anfängen des Christentums verglich, ermunterte ihn, Ahnungen und Gewißheiten deutlicher auszusprechen, von denen seine Trilogie der Vermenschlichung längst getragen gewesen war und die Blok in einem neuen Augenblick überhellen Lichts 1918 in die „Zwölf“ geschrieben hat, sein sowohl offenstes wie verschlossenstes Gedicht. Bloks nachrevolutionäre lyrische Prosa befragte die Synthese der „Zwölf“, versuchte eine Rückannäherung, die Wiedergewinnung der nur kurz behaupteten (ertragenen?) Höhe. Sie entwarf mit der musikalischen Zeit in der Geschichte, mit dem Vergeltungsdenken, mit dem Zusammenbruch des Humanismus und seiner Ablösung durch die Welt des Künstlermenschen die Aussicht einer artistischen Sensibilisierung für die wirklichen Vorgänge in der Welt, die der neuen Menschheitszeit entsprechen sollte.

2

Bloks unmittelbar anschauendes Weltverhältnis meidet alle vereinzelnden Zugänge zur Welt, um mit einemmal den Blick auf das Ganze, die Empfindung des Ganzen, das Symbol des Ganzen zu gewinnen – den Geist der Musik, die rhythmischen Schwankungen in der Tiefe. So sind seine Gewißheiten zu verstehen: „In unseren Herzen hat der Seismographenzeiger bereits ausgeschlagen“ (1908). „Mit jeder Faser des Körpers und des Herzens, mit dem ganzen Bewußtsein hört die Revolution“ (1918).

Das Gleichgewicht von Geistigkeit und Körperlichkeit hielt Blok für die Grundvoraussetzung des Lebens in der neuen Zeit. Die Kräftigung des Leibes sah er in einem Wechselverhältnis zur Kräftigung der poetischen Strukturen. 1910 und 1911, als er an dem Poem „Vergeltung“ arbeitete, waren „musikalisches und Muskelbewußtsein“ eins. Wie bei ständiger Handarbeit eine rhythmische Ausbildung der Muskeln an den Armen, dann auf der Brust und auf dem Rücken erfolge, so sollte der Rhythmus des Poems entstehen. Der Verlust des physischen und geistigen Gleichgewichts beraube einen unweigerlich des musikalischen Gehörs, der Fähigkeit, aus der Kalenderzeit, dem über die Welt nichts aussagenden Gang der historischen Tage und Jahre auszubrechen und in jene andere, nicht meßbare Zeit vorzudringen.

Der Ausbruch aus der Kalenderzeit erscheint in Bloks Dichtung als das Wagnis und die Aufgabe der angebrochenen Menschheitszeit. Kalenderzeit war für Blok die chronologisch vereinzelnde Folge der Ereignisse, das Genügen am Tage, die Welt ohne ihren kosmischen Zusammenhang. Kalenderzeit war für Blok ein positivistisches Aufhäufen von Details, aus dem er in die musikalische Zeit der Geschichtlichkeit ausbrechen mußte. Der Dichter dringe in die musikalische Zeit vor, indem er das Gefühl für seinen Weg ausbilde. Im Februar 1909, wenige Monate bevor in Italien das Gedicht „Die Kunst – Last auszutragen“ entstand, beschrieb Blok in seiner Prosa „Die Seele des Schriftstellers“ den Zusammenhang von Weg und Zeit in seiner Kunst:

„Nur wenn solch ein Weg erkennbar ist, läßt sich der ‚Takt‘ des Schriftstellers, sein Rhythmus bestimmen. Nichts ist gefährlicher als der Verlust dieses Rhythmus. Die fortwährende Anspannung des inneren Gehörs, das Lauschen auf eine wie aus der Ferne vorüberklingende Musik ist eine unerläßliche Voraussetzung für das Dasein des Schriftstellers. Nur wer die Musik des fernen ‚Orchesters‘ (und das ist eben das ‚Weltorchester‘ der Volksseele) vernimmt, kann sich ein leichtes ‚Spiel‘ erlauben.“ Blok meinte damit besonders die Sensibilität für Beschleunigung und Verkürzung in der Geschichte. 1910 betonte er, daß die Russen in den vergangenen zehn Jahren mehr durchgemacht hätten als andere in hundert Jahren.

Was Blok hier aussprach, war schon die Erfahrung aus seiner Trilogie der Vermenschlichung. Wer sich dem „‚Weltorchester‘ der Volksseele“ stellt, kennt weder Zuflucht noch Geborgenheit. Das „leichte ‚Spiel'“ war von der Art, die Blok im Gedicht „O dies Spiel“ vom 18. Dezember 1913 vortrug: Der Dichter als der ewig Erblickte, der nicht weiß, wessen Blick ihn trifft. Dies die vierte und sechste der neun Strophen:

Nichts quält schlimmer als dies Ungefähr!
O das Graun des Blicks, den man nicht fängt,
Der uns schamlos einkreist und bedrängt:
Doch wer ists, der uns belauert, wer?

Dieser Blick, ob bös, ob gut gesinnt –
Besser wärs, er nähm uns nie zum Ziel!
Zu viel fremde Kraft, die in uns spinnt,
Unerforschter Energien Spiel…

Blocks Ausbruch aus der Kalenderzeit befestigte in der russischen Literatur einen Begriff von Zeitgenossenschaft, der die Stunde des Dichters immer als die Stunde Rußlands und die Stunde der Menschheit nahm. Blok liebte es, sich mit etwas so Unfaßbarem wie der Atmosphäre der Epochen – „Unerforschter Atmosphären Spiel…“ – zu befassen, weil er selber die Atmosphäre seiner Epoche so stark empfand. Denn was waren ihm seine Dichtungen anderes als das Ausschlagen des Seismographenzeigers in einer Epoche der Stürme und Katastrophen. Je sensibler ein Dichter sei, hieß es in der Catilina-Prosa, um so unzertrennter empfinde er Eigenes und Nicht-Eigenes. Daher seien die zartesten und intimsten Sehnsüchte der Seele des Dichters in Zeiten der Stürme und Katastrophen übervoll von Sturm und Katastrophe.

Das Vordringen in die musikalische Zeit befreit den Dichter aus dem Wust des aktuell Tatsächlichen, das die wirklichen Vorgänge verdeckt. Gegenstand bleiben die Sehnsüchte und Erschütterungen der Seele oder, wie Blok in seiner Wagner-Prosa schrieb, „das rettende Gift der schöpferischen Widersprüche“. Die bedeutendste Äußerung über die Catilinischen Verschwörungen als ein Zeichen für den Zusammenbruch einer Epoche fand Blok daher auch in dem Gedicht Catulls „Attis“, dessen Gelegenheit in nichts an die aktuellen geschichtlichen Vorkommnisse erinnert, das aber in den Galliamben, dem Versmaß der rasenden Orgientänze, den ungleichmäßigen, hastigen Schritt des Verdammten, den Schritt des Revolutionärs, des römischen „Bolschewiken“, in dem der Sturm des Zorns klingt, überdeutlich zu erkennen gebe.

Die Betonung liegt nicht auf der Parallele von Catilina und Catull, sondern auf der Ankündigung des Sturms in Tat und Gedicht. Nur so auch sind Bloks Dichtungen zu verstehen. Übervoll von Sturm und Katastrophe, sind sie nicht Zeugnisse eingetretener Revolutionen, sondern Zeugnisse der ungeheuren schöpferischen Widersprüche einer neuen Zeit, welche sie in ihren Anfängen noch kaum zu benennen weiß.

Mit dieser unerschrockenen Annahme und dem offenen Austrag des Kampfs der Gegensätze in seiner Dichtung wurde Blok auch für sowjetische Dichter bestimmend, die seiner Poetik nicht folgten. Für Ossip Mandelstam, der ihn einen Mann des 19. Jahrhunderts nannte, aber seine Sensibilität für die unterirdische Musik der russischen Geschichte als einzigartig pries. Für Anna Achmatowa, die seine symbolistische „Sternenarmatur“ nicht mochte, aber ihn als „Tschelowek-Epocha“ bezeichnete. Für Boris Pasternak, der die romantische Vorstellung vom Dichterleben verwarf, in dessen Rückschau auf die Revolution nach vierzig Jahren aber unüberhörbar Bloksche Töne klingen: „In diesem bedeutsamen Sommer 1917, zwischen den beiden Daten der Revolution, schien es, als versammelten sich und redeten auf den Meetings auch Bäume, Wege und Sterne. Die Luft schien kilometerweit erfüllt von flammender Inspiration, sie schien Persönlichkeit geworden, beim Namen zu nennen, beseelt und sehend.“ Aber ebenso für die Prosa, für Isaak Babel, Michail Bulgakow, Andrej Platonow und Maxim Gorki, dessen nachrevolutionäre Prosa ohne die Auseinandersetzung mit Blok, Bely und Sologub nicht denkbar ist.

Was sie mit Blok verbindet, sind ihre Vorstellungen von Zeit und Kunst, ihre neuen Weltsynthesen, deren Voraussetzungen Ossip Mandelstam in der Woronesher Zeit mit einer Gefahrenwarnung benennt: „Wenn ein Schriftsteller es für seine Pflicht hält, koste es, was es wolle, ‚das Leben tragisch zu sagen‘, aber auf seiner Palette keine tiefen kontrastierenden Farben besitzt, und vor allem das Gefühl für das Gesetz nicht hat, nach dem das Tragische, auf welch kleinem Abschnitt es immer entstehe, sich unweigerlich in ein allgemeines Bild der Welt einfügt – bringt er nur ‚Halbfabrikate‘ von Schrecken und Borniertheit hervor, Rohmaterial, das Ekel erregt und bei der wohlmeinenden Kritik den zärtlichen Namen ‚Milieu‘ trägt.“

3

Bloks Revolutionsverständnis war an sein Vergeltungsdenken gebunden. Weder seine bedingungslose Annahme des Oktober noch seine spätere Klage über das Verstummen der Musik der Revolution sind außerhalb dieses Zusammenhangs zu begreifen. Soziales Verhalten, geistige Produktivität, schöpferische Widersprüche leiteten sich für ihn nie aus ökonomischen Besitzverhältnissen und politischen Entscheidungen her. Blok verstand die Revolution als verdiente Vergeltung für die sozialen Sünden der Vergangenheit und verteidigte sie gegen die sklavischen Ängste, gegen den Krämerstil der russischen Intelligenz. Er schloß aber, Alexander Herzen folgend, die Bourgeoisie aus dieser historischen Kette aus. Weder durch liberalen Humanismus noch Sentiments, noch politische Ökonomie dürfe das hohe, kalte und zornige Wissen um die soziale Ungleichheit erniedrigt werden. Der Bourgeois wird als unschöpferisch verteufelt. Die realgeschichtlichen Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat spielen für Blok keine Rolle. Die Bolschewiki waren für ihn eine Zeitlang etwas viel Größeres als eine politische Partei, und Lenin akzeptierte er nicht als Marxisten sondern als einen russischen Revolutionär, der das Vermächtnis Bakunins und der russischen Bauernaufstände vollstreckte. In einem Brief vom Februar 1909 hat Blok die Kräfte benannt, die seiner Meinung nach mit Elementargewalt zur Revolution drängen:

„Der gegenwärtige russische Staatsapparat ist natürlich mieses, geiferndes, stinkendes Alter, ein siebzigjähriger Syphilitiker, der mit einem Händedruck die gesunde Jünglingshand infiziert. Die russische Revolution ist in ihren besten Vertretern – Jugend mit einem Nimbus rings um das Gesicht. Auch wenn sie noch nicht ausgereift ist, auch wenn sie oft knabenhaft unweise ist – morgen ist sie erwachsen. Das ist doch klar wie der helle Tag.

In den Fragmenten russischer Literatur von Puschkin und Gogol bis Tolstoi, in den Seufzern der gemarterten russischen Demokraten des 19. Jahrhunderts, in den hellen und unbestechlichen, den nur vorübergehend getrübten Blicken der russischen Bauern ist uns eine gewaltige (nur noch nicht in den eisernen Ring des Gedankens gefaßte) Konzeption eines lebendigen, mächtigen und jungen Rußlands vermacht. Wenn irgendwo diese Vermächtnisse aufbewahrt werden, dann natürlich nicht in den Herzen der ‚Realpolitiker‘ (selbst nicht der realsten und lebendigsten von ihnen – der Kadetten), nicht im stolypinschen, nicht im romanowschen – sondern in jenen Herzen nur, die beunruhigt und geöffnet sind, in den Gedanken, die diese Konzeption in sich aufnehmen wie frische Luft. Wenn etwas lebenswert ist, dann das. Und wo ein solches Rußland ‚heranreift‘, dann natürlich – nur im Herzen der russischen Revolution im weitesten Sinn, einschließend die russische Literatur, Wissenschaft und Philosophie, den jungen Bauern, der sich zurückhaltend Gedanken macht ‚immer über das gleiche‘, und den jungen Revolutionär mit dem vor Wahrheit strahlenden Gesicht, und überhaupt alles Unangepaßte, Zurückgehaltene, Gewittrige, mit Elektrizität Übersättigte. Diesem Gewitter hält kein Blitzableiter stand.“

Nicht daß die beschleunigten Kapitalisierungsprozesse in Rußland Blok verborgen geblieben oder von ihm geringgeschätzt worden wären. Es gibt Versuche, sich diesen Vorstößen zu einem „Neuen Amerika“, wie ein Gedicht aus dem Jahr 1913 heißt, zu stellen. So gewiß er aber den reinigenden Sturm die Welt des Schreckens und der Totentänze hinwegfegen sah, so ungewiß blieb ihm das Kommende. Im Prolog zum Poem „Vergeltung“, an dem er seit dem Tod des Vaters 1910 bis zu seinem Tod 1921 mit langen Unterbrechungen arbeitete, stehen die Verse:

Über Europa reißt ein Vieh
Von Gier gequält auf seinen Rachen.
Wer wird ihn töten, diesen Drachen?
Wir wissens nicht. Wie eh und nie
Hülln unsre Grenzen sich in Dunst.
Was jenseits liegt – wir sehn es nicht,
Wir spürn nur, daß es brandig riecht –
Dort wütet eine Feuersbrunst.

Daß dieser Drachen der Erstarrung und des Widergeists auch durch die „Wiedergeburt Rußlands durch die Fabrik“ besiegt werden könnte, hat Blok in einem Drama zu fassen versucht, über das er zwischen 1913 und 1916 nachdachte. Fertig geworden ist es nicht, und es werde, meinte Blok schließlich, einem anderen zur Vollendung aufgetragen – „keinem Liberalen und keinem Konservativen, sondern einem Ruhelosen wie ich“. Es seien dafür noch mehrere, auch historische Anläufe nötig. Geschrieben haben es vielleicht Wladimir Majakowski in „Wladimir Iljitsch Lenin“ und Andrej Platonow in seinen großen Geschichten und Romanen von den prometheischen Meistern, von den Künstlern auf ihren Lokomotiven und in den Wüsten der dreißiger Jahre. War es doch Blok bei dieser Wiedergeburt um die Erneuerung der Art gegangen, die sowohl die Dämonisierung des Subjekts als auch seine Verflüchtigung in der Funktionalität hinter sich läßt.

Mit der Überwindung des Dämonismus hat sich Blok sein Leben lang herumgeschlagen. Am quälendsten in seinem Poem „Vergeltung“: „In Katastrophen und Stürzen befreien sich meine ‚Rougon-Macquarts‘ allmählich aus der russisch-adligen éducation sentimentale, ‚Aus Kohle wurde Diamant‘, Rußland zu einem neuen Amerika; zu einem neuen, nicht zu dem alten Amerika.“

Ein aufbegehrendes und jäh hinstürzendes russisches Geschlecht sollte von den siebziger Jahren des alten Jahrhunderts bis in die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts verfolgt werden. Blok wollte zeigen, wie der Aufruhr in der ersten Generation entkräftet ist durch den letzten Abglanz von Skepsis und Weltschmerz eines epigonalen Byronismus, aber ebenso durch die ersten Anzeichen der Ermüdung des nahenden Fin de siècle. In der zweiten Generation wird der Aufruhr gedämpft durch die Empfindungsstumpfheit des Sohnes des neuen Jahrhunderts. Und erst in der dritten Generation, die aus der Verbindung des Sohns des „Dämons“ mit der Tochter eines fremden Volkes, des polnischen, hervorgeht, werde das Neue sichtbar auf seine Umgebung einwirken können. So beginne das Geschlecht, das die Vergeltung der Geschichte, des Milieus, der Epoche an sich erfuhr, seinerseits Vergeltung zu üben. Der neue Sproß schaffe es vielleicht, in das Rad der Menschheitsgeschichte zu greifen. Leitmotiv der Vergeltung solle die Mazurka sein, der Tanz, der für Blok die alten Kämpfe zwischen Rußland und Polen begleitete. Im Poem sollte die Mazurka anfangs leicht aus einem Petersburger Fenster erklingen, dann auf einem Ball sich mit dem Sporengeklirr der Offiziere mischen und endlich hinausdringen auf die polnischen Felder, über das nächtliche Warschau, in den Schneesturm.

Die Erneuerung der Art – „Aus Kohle wurde Diamant“ – sah Blok nicht als ein allmähliches Fortschreiten. Gerade dem Zorn gegen die naiven Fortschrittstheorien verdankte das seinem Material nach autobiographische Poem die weiterreichende poetische Idee. In seinem Vorwort von 1919 deutete Blok die Situation an, in der der Plan für die Dichtung entstanden war. Es handelt sich um die Jahre 1910 und 1911. 1910 starben russische Künstler, die für Blok Entscheidendes bedeutet hatten. Mit Vera Kommissarshewskaja starb für Blok der lyrische Ton auf dem Theater. Mit Wrubel die Unersättlichkeit des Suchens bis zum Wahnsinn. Mit Tolstoi die menschliche Zärtlichkeit, die weise Menschlichkeit. 1910: Krise des Symbolismus, Aufkommen der neuen Richtungen – Ego-Fururismus, Akmeismus, Kubo-Futurismus. 1911: die großen Eisenbahnerstreiks in London, „Panthersprung“ nach Agadir, heißer Sommer, der das Gras bis in die Wurzeln verdorren ließ, Interesse für Ringkampf, tödliche Flüge, schließlich im Herbst die Ermordung des Innenministers und Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin, die das Land, das sich bislang noch halb in den Händen des Adels und der Beamten befunden hatte, endgültig unter die Herrschaft der Polizei brachte.

Alle diese Tatsachen aus unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit hätten, so Blok, jenen einheitlichen musikalischen Sinn, den er immer wieder aufzufinden suchte. Allerdings bezeichnet die Arbeit an dem nie vollendeten Poem auch einen wichtigen Einschnitt in Bloks Vorstellungen von der Einheit der Welt. Wenn er in den Jahren vor und nach der Revolution von 1905 bis 1907 seinen Weltsynthesen das mystische Ineinsgehen aller Erscheinungen zugrunde legte, so datiert ab 1910 ein verstärktes „Bewußtsein der Ungeteiltheit und Unvereintheit von Kunst, Leben und Politik“. Der Unterschied ist gravierend. Wort und Tat fallen nicht mehr ununterscheidbar zusammen. Die 1906 durch die Nietzsche-Lektüre gestützte Vorstellung von der Dichtung als Beschwörungsorgie wird distanzierter betrachtet. Eigengesetzlichkeit der einzelnen Bereiche und Unendlichkeit der Übergänge bedingen einander. Synthese so begriffen heißt: Der unendliche Prozeß der Vereinigung und inneren Durchdringung vernichtet nicht die Gegensätzlichkeiten.

Wenn Revolution Vergeltung war, dann offenbarte sich das Schöpfertum der Massen in der Zerstörung. So sah es Blok. Niemand aus seinem Kreis hat mit dieser Unerschrockenheit die Vernichtung der alten Welt selbst in den Grimassen der Revolution angenommen wie Blok. Die Musik der Revolution erklang für ihn im Krachen des Zusammenbruchs. Die Mazurka der „Vergeltung“ schlug um in die Lieder der proletarischen Kämpfe, die im Poem „Die Zwölf“ abgerissen durch den Schneesturm klingen. Natürlich entging ihm auch die Arbeitsseite der Revolution nicht. Aber dies seiner Dichtung zugrunde zu legen, erwies sich als unmöglich.

Im Februar 1920 bezeichnete er noch einmal den Augenblick. In jeder Bewegung komme es zu einer Minute der Verzögerung, einer Minute der Besinnung, der Ermüdung, des Verlassenseins vom Geist der Musik. In der Revolution, wo nichtmenschliche Kräfte wirken, sei das eine besondere Minute. Die Zerstörung ist noch nicht abgeschlossen, geht aber schon zurück. Der Aufbau hat noch nicht begonnen. Die alte Musik ist schon nicht mehr, die neue – noch nicht.

(Konzepte Leipzig, S. 37-52)

Global – International – Final 4

Und wie denkt die sogenannte Linke? Sie durchschaut den imperialistischen Charakter des westlichen Globalismus nicht, verwechselt ihn mit Völkerverständigung und Internationalismus aus ihrer Gründerzeit im 19. Jahrhundert und springt brav über jedes Stöckchen, das ihr das Finanzkapital hinhält, sei es „Big Pharma“ mit „Corona“ oder der altbekannte militärisch-industrielle Komplex mit der Ausweitung des Bürgerkriegs in der Ukraine. Ein neuer Lenin, der das heutige Gesicht des Imperialismus durchschaut und ihm die Maske abreißt, damit sein schiefes Grinsen hervortritt, ist nicht in Sicht. Die Linke zerfetzt sich wie im und nach dem Ersten Weltkrieg gegenseitig und läßt sich vom Kapital vor den Karren spannen, um die Opposition niederzuhalten. Die Mehrheit der Arbeiter, sorry, ich meine „Arbeitnehmer“, hat zum Internationalismus der frühen Arbeiter­bewegung vor dem Ersten Weltkrieg nicht zurück gefunden. In der Nazi-Zeit konnte sie ihr aus sozialer Benachteiligung strukturell gegebenes Minderwertigkeitsgefühl nationalistisch und rassistisch kompensieren. Darin liegt das tiefere Erfolgsgeheimnis des Faschismus, nicht nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stalins „Sozialismus“ ersetzte die „Weltrevolution“ durch das biedere, nicht minder grausame Konzept des „Sozialismus in einem Land“. Er war vom Nationalsozialismus nur noch schwer zu unterscheiden – vielleicht in dem Punkt, daß nicht nur Juden und Kommunisten, verfolgt, weggesperrt und umgebracht wurden, sondern Menschen aller Nationalitäten, Konfessionen und Schichten. Keiner konnte vor der Geheimpolizei sicher sein, vor allem Kommunisten nicht, die noch an die Möglichkeit einer freien und gerechten Welt glaubten. Das heutige Rußland begibt sich auf den Weg in die Autonomie, in die Selbstversorgung – durch die scheinbare Isolation vom Westen gewinnt Rußland jedoch keine eigenständige politische Qualität, sondern ahmt das Hegemonialstreben Amerikas nur nach: Wenn Amerika intervenieren kann, können wir das auch – auf diese Weise wird der russische Bär zum Clon der amerikanischen Hyäne. Indem Putin den Meinungsstreit unterdrückt, Kritiker als ausländische Agenten diffamiert und auszuschalten versucht, die Kultur aushöhlt, setzt der Metzger die Säge an den zuckenden Leib der russischen Seele…

„…symbols obvious: the bolt … winged stethoscope … Pram under fire?“

To the glory of God

Diesen Kinderwagen kann man nicht
Verstehen, nur verzeihen, wie mensch
Den Frack aus Flügeln vergeblich sucht
Inmitten seiner Träume

Die Hieroglyphen liegen für immer
Aufgebahrt, auswendig gelernt in
Einem anderen Universum
Außerhalb von Raum und Zeit

Alle hier sprechen esperanto, nur:
Keiner weiß es. Aufgebahrtes
Verstehen, wieder und wieder
Zu murmeln

Hinter den Mündungen des
Sehnervs in die Netzhaut
Sucht die Gebärdensprache den
Exakten Wert von Pi

.

Gehen, nach Lissabon

Es ist sein erstes Wochenende, der erste Sonntag, seit er hier ist. Er verbringt ihn im Estrela-Park, etwas oberhalb der Stadt, sitzt auf einer Esplanade und schaut sich um. Ein alter Mann steht gut sichtbar vor dem aufgefalteten Stamm eines exotisch aussehenden Baumes und uriniert in den Stamm wie in eine Höhle. Nur der Hut des Mannes, sein Gesicht, ein Teil des im Anzug steckenden Körpers sind von dort, wo er selbst sitzt, zu sehen. Es scheint das Natürlichste von der Welt. Den Mann scheinen keine Gewissensbisse zu plagen. In aller Ruhe zieht er den Reißverschluß seiner Hose nach oben, die Beine etwas gespreizt, setzt sich den leicht verrutschten Hut wieder zurecht und geht auf den asphaltierten Wegen des Parks davon. Er wird den Mann später noch öfters sehen, im selben Park, stets trägt er seinen grauen, etwas zu weit wirkenden Anzug, Hemd und Krawatte und den altertümlichen Hut. Er kann an ihm nichts Asoziales finden, obwohl er sich sicher ist, daß nicht jeder alte Mann zum Pinkeln in einem Baum verschwindet.

In den ersten Tagen, den ersten Wochen sitzt er jeden Morgen vor Carlos‘ Bar auf dem Gehsteig an einem der kleinen grünen Tische, auf einem gleichfalls grünen Metallstuhl, und frühstückt. Am hinteren Ende der Straße prangt ein riesiges Plakat quer über die Mauer oder die ganze Hauswand. Es ist Werbung, die hier größer und maßloser ist als alles, was er aus Berlin kennt. Ein gigantisches Foto mit gelbem Hintergrund, so daß es aussieht, als scheine immer die Sonne. In dem hellen Licht des Vormittags, dem Licht der staubigen Straße, auf der immer wieder Autos vorüberfahren, Autos parken, ist es ein Anhalt. Er wüßte die Straße nicht von dem Plakat zu trennen. Die Straße macht dort hinten an der Hauswand einen leichten Knick, führt an der Hauswand vorbei, daher ist das Plakat gut sichtbar, es scheint wie eine Überschrift, eine Schlagzeile in Gestalt eines Bildes, auch wenn er sofort wieder vergißt, wofür es wirbt.

Die grauen Rolläden vor den Fenstern der Häuser sind immer geschlossen. Vielleicht erscheinen ihm die Fenster deshalb als Schlitze. Täglich sieht er einen Schreiner oder jemanden, den er dafür hält. Einen kleinen, alten Mann im blauen Kittel, der vor einer Werkstatt oder einem Laden herumläuft, den Zollstock in der Hand. Der Mann scheint alle Zeit der Welt zu besitzen. Das Holz aber sieht aus wie Abfall, es sind Spanbretter, kein richtiges Holz. Die wenigen Möbel, die er beim Vorgehen sieht, scheinen ihm wacklig und häßlich, eher ein Alibi als ein Möbelstück. Häufig sieht er einen Mann mit Holzbein, der schnell und ohne Krücken den Gehweg auf der anderen Seite der Straße entlangläuft, ewig mürrischer Blick. Böse sieht er herüber, immer hat er es eilig. Nie sieht er ihn in Carlos‘ Bar. Einmal glaubt er sich in einem Gruß eingeschlossen, der seiner Straßenseite gilt, allen vor dem Café Versammelten, und grüßt überrascht zurück. Es bringt den Mann sofort auf, der Mann schreit etwas, das er nicht versteht, Carlos schreit etwas zurück, was er gleichfalls nicht versteht. Nur dem Tonfall entnimmt er, daß das erste eine Beleidigung war, Carlos‘ Replik eine Art Verteidigung seiner Person. Er sieht einen Bauarbeiter, einen Farbigen mit offenem Hemd, leicht ergrauter, gekräuselter Bart, der am Rand der Straße Tag für Tag ein Feuer entzündet. Dazu sucht er Holz aus den entlegensten Ecken, kleine Zweige genügen ihm, um Feuer in einem Grill zu entfachen. Der Grill besteht aus einer Reifenfelge. Jeden Mittag grillt der Mann darauf sein Essen. Manchmal ißt er auf dem Gehweg vor Carlos‘ Bar eine Suppe, wie er selbst, auf einem der grünen Stühle an den kleinen Tischen. Einmal essen sie gemeinsam. Carlos nennt den Farbigen einen guten Mann, fleißig, aus Cabo Verde. Der Mann ist leicht verlegen, doch er scheint zu dieser Straße weit mehr dazuzugehören als er selbst. Auch er ist verlegen. Sie blasen in die Suppe auf ihrem Löffel. Der Mann aus Cabo Verde deutet auf die grüne Rispe auf dem Löffel, nennt das Wort, feijão. Nie hat er mit einem Afrikaner zu Mittag gegessen, war er einem Menschen aus Cabo Verde derart nah. Der Mann zieht sich nach dem Essen wieder zurück. Gegenüber, ein Stück von Carlos‘ Bar entfernt, da, wo die Straße in einer Biegung von hundertachtzig Grad in die Tiefe führt, entsteht ein neues Haus. Dort arbeitet der Mann, von dorther bringt er manchmal das Holz mit.

Abends sieht er weiter vorne, am Beginn der Straße, einen nicht mehr jungen Mann mit dichtem, langem schwarzem Bart, der vor einer Autowerkstatt umhergeht. Stets in offenem Mantel, leicht gebückt, als gehöre er zu der Werkstatt. Die Werkstatt führt tief in die Eingeweide des Hauses, eines großen Eckgebäudes, auch hier schert die Straße aus und macht Kapriolen, gabelt sich zu einer Kreuzung, führt in alle Richtungen weg, in einem Bogen. Über die Kreuzung steigt der Weg noch einmal an, zu der Straße, in der er wohnt, in beiden anderen Richtungen führt er abwärts, schroff und steil in der einen, allmählich erst und dann zunehmend steiler auf der anderen. Er sieht den Mann ausschließlich abends, daher fällt es ihm umso mehr auf, daß er auch an den noch warmen Abenden einen Mantel trägt. Immer sieht er ihn an der Werkstatt nur vorbeigehen, nie sieht er ihn aus ihr heraustreten oder in sie hineingehen, doch er gehört zum Dunstkreis der Werkstatt, dieser riesigen, weit nach hinten sich verzweigenden Räume. Stets dringt ein Geruch nach Gummi, nach Autoreifen von dort, seltsam modrig, stets dringen Geräusche heraus, als werde dort noch spät abends gearbeitet. Ein Hämmern, Schleifen, vielleicht Schweißen. Der Mann trägt eine dicke Hornbrille und sieht aus wie ein gescheiterter Student, vielleicht ist er es, ein Intellektueller, etwas auch wie ein Obdachloser. Doch er hat großen Respekt vor dem Mann, vor seinen ernsten Augen, den bedächtigen, oft auf den Boden gerichteten Blicken. Er wagt es nicht, ihn anzusprechen. Immer aber wird dieser Mann für ihn da sein, an dieser Häuserecke, wo die Straße sich weitet, der Gehweg auf beiden Seiten ganz schmal ist, man auf der Straße geht, fast ohne es zu wollen.

Jewgeni Onegin. Roman in Versen. Erstes Kapitel

LX

Da ich erwogen die Form des Plans,
Des Helden Namen, wohin er reist,
War des entstehenden Romans
Fertiggeschrieben Kapitel eins;
Ich ging dann alles durch, und siehe:
Der Widersprüche ziemlich viele,
Doch daran ändern will ich nichts.
So tue der Zensor seine Pflicht, und
Der Jounalisten hungrigem Treiben
Überlasse ich mein Werk,
Soll’n sie nun beschreiben,
Was da gestrandet ist an der Newá:
Den Berg, an dessen Gipfelkreuz ich lehne,
Die Kreuzigung, nach der nicht ich mich sehne.

Global – International – Final 3

Nun kann Amerika – der Westen überhaupt – mit den Füßen stampfen, Sanktionen und Importzölle verhängen, auf Trumpsche Art feilschen, oder neue Kriege anzetteln – die Unipolarität der letzten 30 Jahre ist vorbei, perdu, Geschichte. Bemerkenswert an den militärischen Aktionen des Westens in diesen Jahrzehnten ist, daß wohl hier und da mit überlegener Technik Blitzerfolge erzielt wurden. Doch nirgendwo in den mit Krieg überzogenen Ländern konnte sich das westliche Modell durchsetzen: Korea ist gespalten, Vietnam bis heute kommunistisch, Pinochet längst abgetreten, aus dem besiegten Irak erhob sich der IS, und Afghanistan – ohne Worte. Russland versucht seit der Finanzkrise 2008, die eigentlich die Pleite des westlichen Wirtschaftens bedeutet, die mittels massiver Finanzspritzen – man könnte auch sagen Insolvenzverschleppung – hinausgezögert, aber nicht aufgehalten wird, eine eurasische Koalition mit China und Indien zu schmieden. China bringt auf den Wegen und Kanälen der „Neuen Seidenstraße“ immer mehr Entwicklungsländer wie auch schwächelnde europäische Länder und Regionen (Ungarn, Griechenland, Duisburg) in seine Abhängigkeit.  Der Westen mag Rußland boykottieren – Rußland wird Asien mit Rohstoffen und Energie versorgen und damit noch stärker werden, während Europa ins Schlingern gerät und un­ver­meidlich vom hohen Ast fällt, auf dem es sitzt. Wenn der Westen China boykottiert, um seine liebgewonnene Unipolarität zu retten, eine Illusion, dann wird Europa nicht untergehen – aber hoffnungslos verarmen. Bestenfalls kehrt sich das jetzige Verhältnis um und die Chinesen entdecken Europa als Billiglohnland. Vielleicht geben sie einen kleinen Teil ihrer Produktionskapazitäten ab und lassen in den zu Kunstgalerien umfunktionierten Textilfabriken T-Shirts nähen für ein paar Millionen Chinesen… Ich glaube aber nicht, daß die Chinesen so dumm sein werden, den substanziellen Kern ihrer Produktionskapazitäten auszulagern.

„Schau‘ mal, Halloren-Kugeln“, Schnitt, und
__ wenn die Haifische Menschen wären,
Mit den Fingern an der Scheibe, sind es
__ immer die Augen, die durchdringen.
Durchdringen. Eindringen. Unter die Haut

Gehen. In einem Land vor unserer Zeit
__ spielte sich eine andere Kindheit
Ab – nach Hause, nach Hause … v
__ Moskwu, v Moskwu! A
My, wer waren wir anderes ..?

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Drei noch, alter Junge, dann wird sie
__ wieder bei sich sein, die Dreiheit.
Und nach den Toden die Enkel, und
__ nach den Enkeln die Kinder:
Nichts als Relationsbegriffe, wo wir waren