Nachbar

Ein ferner Husten, ein Schluck Wasser

     Ineinander verkrümmt wie Wolken

     Über der Wüste, Traum

     Vom Duschen im Paradies – so

     Träumt der Junge vom Krieger

Der aus der Schlacht heimkehrt

     Mit Krusten Schlamm & Flüchen

     Den wiederkehrenden Detonationen

     Im Ohr das von einer Frauen-

Stimme träumt, Vogelsang

     Über einer Wiege im Garten

     Das ein verfluchtes Teil im Ganzen

     Sein Ich zu nennen die Kraft

Nicht aufbringen kann, unendlicher

     Weg zum Haus nebenan, ganz

     Daneben.

Der schöne Schein

Meine Worte sind nicht durch Gedankenfäden versponnen. Einzig das Wasser unterhalb dieser Augen birgt eine strömende Richtung. Abgetrennt der Magen vom Erdbeerfeld, abgetrennt auch der Sturm vom Wetter. Der Luftraum voller Windwesen, allein die eigenen – Gestank: Was da fault unter dem Himmel, du kannst es unter Glas setzen. Die unzähligen Dinge wissen nichts von ihrer Zählbarkeit, und das Murmeln hört nimmer auf. Wie es zittert und zuckt in den Teilen, wie es sich stets neu zu verbinden sucht: Wer wirst du sein nach allem? Asche, Wind, ein Ganzes?

Nichts will ich sein, nichts. Aber es wird nichts nützen. Es kommt auf mich allein nicht an – unter einem Himmel, den ich nimmer fassen werde – Feste zwischen irgendwelchen Wassern – die Maschine zu groß und die Sonne verbogen auf ihrem Weg. Ich kann die Augen schließen und dem Schmerz seinen Namen nehmen, kann ihn an Mauern werfen und zusehen, wie etwas von ihm daran kleben bleibt – allein: er ist mehr als ich sehen kann. Und du – ich sehe mich in deinen Worten – aber wo, wo – hast du den Hammer versteckt, der über jedem Herzen hängt? Wer will sich noch den Kopf absicheln lassen nach allem.

Kunst

Schnee wird sich dieser Landschaft bemächtigen. Flocken aus Kunststoff, Flocken aus Metallsplittern, die beim Feilen in den Fabriken abgefallen sind – oder irgendeine erfundene Substanz treibt im Glas umher, unter einer gläsernen Kuppel mit blauem Boden. Das Glas verzerrt und bricht die Dinge, denen man es entgegenhält. Die Dinge drinnen sind angeklebt und kennen keinen Auftakt, kein Fortschreiten. Ein Fest für den Schnee, die einzige Witterung dort drinnen. Der Schnee ist eine Attrappe für Kinder. Vergessen ist, das der Winter kalt war und zu lange gedauert hatte. Der dort drinnen bleibt da.

Im Glas

Depression gehört zum guten Ton. Ein geschwächter Lebenswille sitzt wie ne Designerbrille. Es glänzt brilliant solange es im Glas sprudelt und auf der dahinteren Wand ein Lichtkreis steht, dieses Kranksein, das wir feiern, dieses verbogene Stück Metall auf einer Frisur. Körperlich Unterwassertiere, Eiklar, Schneegläser, mit Immerwährendkleber befestigte Tränen, Träume aus weißen Flocken, die an die Glasdecke stoßen beim Herumdrehen. Wiegende Nichtigkeiten. Papamobil. Wer steht denn schon freiwilig am Straßenrand und wartet darauf, dass jemand ihm das Evangelium offenbare. Zeremonie, Genreis…

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Himmelsblau

Am Tag des letzten Goldes überm Acker, der alljährlich die Halme auf ihren Weg in den oberen Raum aus Luft & Geduld zu bringen trachtet, purzelte ein winziges Wesen hinab zur staubigen Erde. Es war in einen Mantel aus Wasser gehüllt und trug in seiner Erinnerungstasche aus verflossener Zeit einen fast hohlen Gedanken mit sich herum – die Frage nach dem Inhalt eines Lebens mit Anfang & Ende. Zwischen beiden Polen des kosmischen Kraftfeldes spannt sich das Gedächtnissegel, worin die ausgleichenden Winde dieser Welt gefangen werden. Das Wesen hatte noch keine Geschichte in sich, da hatte es bereits eine Farbe: jenes Blinzeln der Nerven, welches Luft aufhebt; Luft, fft, die Farbe des ewig steigenden Nichts, die tiefer in die Dynamik der Welt hineinreicht als das göttliche Weiß, in dessen Erscheinung die Fülle des lichtbesiedelten Alls noch die Konkretheit aller Einzelfarben im Spektrum des Seienden übersteigt. Doch Luft, luuf, dieses Steigen & Fallen vor dem Hintergrund eines Auges mit Erinnerung, dessen Keime die blühenden Wesen in sich bergen wie das Wort den Gedanken, ist nicht die Erde, worin das Verschiedene seinen Körper auflöst, um ein Neues zu empfangen. Überm Acker bläht sich ein Segel, das mit dem Wind ein winziges Wesen verbirgt, dessen beginnende Geschichte von jener Farbe ist, für die das menschliche Griechenland noch nicht einmal einen Namen zu verschenken hatte.

Additive Abelsche Gruppe

Sie betrat die Kneipe gegen acht. Ihr Freund würde erst in einer halben Stunde hier eintreffen. Bis dahin wäre genügend Zeit, in Ruhe eine Zeitung zu lesen. Ihr Blick schweifte durch den Raum auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen. Die Kneipe war ziemlich voll. Nur dort hinten in der Ecke sah sie einen Tisch mit vier Stühlen, von denen drei leer waren.
Ohne lange zu überlegen ging sie zu dem Tisch am Fenster und fragte den dort Sitzenden:
– Entschuldigung, ist dieser Platz noch frei?
– Bitte.
Eine einladende Geste wies flüchtig auf den Platz zu seiner linken, doch was sie in diesem Augenblick wahrnahm, war etwas ganz anderes: Zwei Mandelaugen mit leicht gegeneinander verschobenen Pupillen erstrahlten in einem seltsamen Blau, das einen leichten Brummton von sich gab, so als würde die Erde vibrieren und mit niedrigfrequenter Schwingung durch sie hindurch klingen.
Sie stand wie erstarrt und lauschte in den Kneipenlärm hinein, indes ihr Gegenüber seinen Schreibblock beiseite rückte und eine halbleere Kaffeetasse behutsam an die rosigen Lippen führte. Sie setzte sich mühsam auf den Stuhl und versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie fixierte aus den Augenwinkeln die gelenkigen Finger, die nun wieder übers Papier zu gleiten begannen, sie atmete unhörbar durch die Haut ihres geschockten Körpers, aus und wieder ein – so leise wie der Schlaf eines Unsichtbaren in seiner tiefsten Phase.

***

Ein Körper ist das höchst komplizierte Ganze einer Gruppe von Körperteilen. Jedes einzelne Teil ist in der Lage sich zu bewegen, vorwärts wie rückwärts, doch nur in jenem Maße, wie der Körper seinen Teilen Bewegungsfreiheit einräumt. Diese Freiheit ist ewiger Teil seiner Konstitution. Insofern ist auch die Freiheit ein Körperteil, wenn auch ein ideales. Sie ist die Null, ohne die kein Körper er selbst sein kann – die eine einzige Eins, ohne die es keine Null gibt, sie ist die Eins in der Null.

Fundus

Ich schlafe nicht mehr unter
freiem Himmel: das Holz,
Aus dem meine Seele einmal
zusammengezimmert worden,
Umgibt nun meinen Körper; da-
zwischen so viel Luft, daß
Es zum Atmen reicht. Die
Die Luft strömt durch die Haut-
Beutel, in denen ich ganz & gar
gefangen bin, so wie das Erz
Erkaltet, eingeschlossen die Erinnerung
an die Sonne bewahrt. Ich
Höre es rauschen im Innern,
das ist die vergängliche
Wirklichkeit, das Wispern der Ge-
danken, von der ein Weiser
Einstmals sagte – „Alles fließt.“
Stattdessen lebe ich nun
Inmitten alter Kleider, ein Hofstaat
aus Augenfreude und dem
Blinzelnden Blick ein Anlaß zum
Träumen. In mir selbst ist
Es ein anderer, der ich sagt
zur Welt; eine Wolke
Bunter Fetzen, aus denen der
wüste Odem der Jahrhunderte
Hervorkriecht und mit nichts,
ja mit nichts außer der
Leichten Brise unmittelbar vor
Sommergewittern zusammen
Bleibt in Umarmung der Lüfte.
Es staubt, wenn draußen
Die Schneeflocken tanzen. Auf
dem Scheitel dieses Gebäudes,
Knapp neben dem Bild des Polar-
sterns – ein Fenster, das
Immer einmal wieder von wirren
wandernden Gesellen, ruhlosen
Kometen des Kosmos geöffnet wird.

Spiel mir das Lied vom Tod

So weit ist es: ich suche dich in fremden Worten.

Den Weg hast du selbst mir freigemacht

bevor die Tür ins Schloss fiel.

Heimlich hab ich schon die Wörter ausgesät

in die du mir jetzt zurückfällst

– und bist mir doch voraus:

ein Wort, ein Lied,

ein Loch im Bauch.

Das musst du füllen,

egal, wie du es hälst –

ich schütze dir den Rücken,

mit dem du dein Gesicht verstellst.

Rattenfänger in der schwarzen Jacke,

wir spielen dein Spiel:

du drehst dich um, du bist errstarrt.

Du, spiel du mir weiter,

ich denke mir die Regeln aus.

Saraj : evo : 2006

An der alten orthodoxen Kirche steht niemand

nach Kerzen Schlange : es fließt wieder

der Strom in den Leitungen : die Werbetafeln

blühen : niemand übernachtet

im Keller : draußen sitzt es sich gut

in kühler Luft an Juliabenden : wer denkt

hier an Granaten : ein Bier

die Tatrabahn humpelt wieder

durch die Straßen : unbeirrt

von ein paar Einschußbeulen : letzte

Zeugen : das irre Kind

das mit verdrehtem Blick : die Pistole

auf dem Spielplatz zückt : es knallt

es knallt : sonst nichts : kein Schuß

nur ein Geräusch : kein Prinz

& keine Schwangere fällt aus der Kutsche

nur die märchenhafte Wiederkehr

des Serail : Orhan Pamuk

liegt bei buybooks : türkische

Almhütten ducken sich

neben die geplatzten Paläste

der Habsburger : Hamburger-

Verkäufer : Habenichtse

in den Schaufenstern die verschleierten

Modepuppen : um fünf Uhr

legt der Muezzin die CD ein

mit dem Schrei in alle Richtungen

sprachlose Türme aus ölreichen Stromländern

wachsen dem Himmel entgegen : nur das Alters-

heim gähnt : schwarz & leer

O Wuppertal

O Wuppertal : daß ich mich deiner erbarme

du Chemnitz des Westens : verlassene Schwerindustrie : verhastete

Arbeiterstadt : nur von Zeit & Regen

verschlissener als deine Schwester im Osten : ein Systemwechsel

ist vonnöten : damit neue Herrscher dich

wiedererrichten auf den zertrümmerten Nachkriegs-

fassaden & dich umbenennen : ein Name
den du verdient hast : Friedrich-Engels-Stadt

Karstige Berge

Montenegrinische Frauen : stolz wie die karstigen Berge

entlang der schmalen Küste : wie es scheint

unbesteigbar : doch auch hier gibt es

für den Wanderer markierte Wege : am Morgen

zeigt sie dir mit Vergnügen die blauen Flecken

am Oberarm : ein verschmitztes Lächeln

huscht über das strenge Gesicht : aber

kein Blick in die Augen : das Spiel in der Nacht

hat ein Nachspiel : im Auto

wird sie dir ein Lied singen : rauchig tief

die Stimme : von den montenegrinischen

Männern können wir schweigen : entweder sind sie

gute Soldaten : stämmig mit rasiertem Kopf : oder

bauchige Paschas : die den Tag verbringen

in der Kafana : es lohnt sich

stolz zu sein : unbesteigbar wie ein karstiger Berg

Im Vektorraum (6)

Er saß in seinem Sessel und wartete auf das Essen, das irgendwann in seinen Mund schweben und die wunden Eingeweide mit neuer Nahrung versorgen würde. Er wußte, daß die Dinge ihren Lauf nehmen würden, wie sie immer ihren Lauf genommen hatten, von Anbeginn der Zeiten – seit Kugeln rund sind.

***

Ein Vektorraum ist eine Menge von Punkten, deren Verschiebungen entlang eines Körpers ein ähnliches Bild seiner selbst erzeugen. Ein Vektorraum ist – wie die menschliche Verfassung – ein gedachtes Ganzes idealer Beziehungen. Du sollst dir kein Bild machen.

Tanz’, Brüderchen, aber sieh zu, daß du niemandem auf die Füßchen trittst

WELIMIR CHLEBNIKOW  

Tod der Zukunft

  

I.     Mein Freund, wofür? Verwandter, gewandt! Zurück!

– Den Tempel aus Schüssen in meiner Hand,

Fünf Augen,

Fünf dunkle Flecken.

Ganz in Blut zucken Gimpel röter-röter auf dem Hemd.

Ließen flatternd sich nieder im Gebüsch, meiner Brust.

Ich starb und röchle, wie traurig.

Fünf Löcher in meiner Brust.

  

II.   Stirb nur und röchle.

  

I.     Keine Tat eines Anfängers.

Ich lobe dich, Verbrecher.

Hast mich zum Sieb gemacht.

Und jede Köchin wird dir dafür danken.

Verdammt! so ist es – glücklos.

Dabei wollte ich noch übern Newski schlendern.

Beginnen das Buch der Sonne, ihren Frühling.

Du gestattest die Frage, warum?

Ich werde es gleich erfahren.

Welch großes Buch hier auf dem Tisch.

  

II.   Ich weiß es doch selbst nicht, versteh, o Mensch!

  

I.     Sag, wann wurdest du geboren?

Tag, Jahr, Atemzug, Augenblick?

  

II.   Am sechsten Tag im Spiel der Klüfte,

Ein grüner Stern im Himmel kreuzte

Der Nächte Weg, strahlend wie Gott in der Höhe.

  

I.     Wunderbar, sieh her – Gesetz: jetzt

Öffne ich diese Klammer

Und bringe alles Geteilte nach außen.

Unserer Herkunft

Gemeinsamen Nenner.

  

II.   O nein, nicht so

Hatte der große Alte es verkündet:

Zu kennen Ort und Zeit genügte.

Und auch da müsste es anders sein:

Da stimmen die Potenzen nicht.

Wir vergaßen den Teiler gi-gi.

  

I.     Ha-ha, du kennst die Formel Murmel nicht!

  

II.   Welch schiefer und schwieriger Weg.

Da lob ich mir doch die Methode Wik-Wak-Wok,

Die hilft beim Rechnen.

  

I.     Ha, wundervoller Wahrheit erster Schimmer

Hängt schon überm Feld der Gleichungen.

Ich bin beim Sinn des Ganzen angelangt.

  

II.   Ja-ja, so ist es recht!

Genau das ist der Weg.

Die Klammern müssen verschwinden.

Ganz klar, ich musste töten. Aus diesem Grunde!

Ich danke Euch für die Erleuchtung.

Für des Gedankens präzise Arbeit.

  

I.     Und ich verstehe nicht, von welcher Potenz.

Doch neigen die Ahnen sich mir zu in letzter Wolke.

  

II.   Ich verstehe – und danke dem Getöteten.

  

I.     Ich danke dir, Mörder!

Einen Grund zum Denken gabst du mir.

So drücke ich fest die Hand

Dem grausamen Mörder.

  

(April 1921)  

  

WA SIS TD ASS OZ IALE?

PUNK IM SCHRANK: WIE

EIN GEDANKE DIE WELT

SPALTET IM SICH ANDI R

Chlebnikow

Als Chlebnikow starb, bezeichnete ein überaus vorsichtiger Kritiker sein ganzes Werk als „unsinnige Versuche, die Sprache und den Vers zu erneuern“, und erklärte im Namen „nicht nur der literarischen Konservativen“ sein „unpoetische Poesie“ für nutzlos. Alles hängt natürlich davon ab, was der Kritiker unter dem Wort Literatur verstand. Wenn man unter Literatur die Peripherie der literarischen und journalistischen Produktion, die Oberflächlichkeit vorsichtiger Gedanken versteht, dann hat er recht. Aber es gibt eine Literatur in der Tiefe, die erbitterter Kampf um eine neue Sicht ist, mit fruchtlosen Erfolgen, mit notwendigen bewußten „Fehlern“, mit entschlossenen Aufständen, mit Verhandlungen, Gefechten und Toden. Und die Tode pflegten bei diesem Werk echt, nicht metaphorisch zu sein. Tode von Menschen und von Generationen.

(In: Fritz Mierau (Hrsg.): Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, Leipzig 1987, S. 423)

Im Vektorraum (5)

Dafür tobte in seinem Innern ein Wirbelsturm. Er hätte nicht beschreiben können, an welchem Ort sich die Luftschichten wie wild ineinander schoben, was sie alles mit sich rissen und dem ewigen Kreislauf der Dinge als geschredderte Ursubstanz neu zur Verfügung stellten. Er wußte nicht einmal, ob er es noch war, der dem Toben der Elemente so seelenruhig zusah wie ein Angler den treibenden Blättern im herbstlichen Fluß.

Driftend

Die Schiffe treiben im Nebel. Baumspitzen zwischen Felsen steigen und sinken.

Die Münder verschlossene Flaschen im Keller – die größte der Sorgen, daß der Wein nicht nach Kork schmecken möge.

Die Bacchanten sielen sich in ozeanischer Gesundheit. Der Prophet schluckt herunter, was ihm nicht bekommen kann. Alles fließt, kein Sand weit und breit.

Hauptstraße : Dresden

Sitzen & Gehen : Fischgeruch

ohne Meer : das gelbe Haar der Frauen

Brummen der Fahrzeuge im Hintergrund : anorganisches

Hüsteln der Platane : vergeßliche

Aggregatzustände des Sommers : eingewickelt

in Salzteig : schwer verdauliches

Lachen gerissener Dichter : am Erdende

wer viel verkauft : hat schon verloren

Orpheus : im Sommer

Wo Orpheus singt : ist Sommer

er hat sich gesammelt : nicht gesungen

ich habe nichts gehört : er hat

seine Verkörperungen versammelt : die Geister

blieben unsichtbar : wir haben

geflüstert : gestammelt

hätte er doch : hätte er doch

uns in Tiere verwandelt : dich

& dich & dich & mich : damit

die Legende lebendig bleibt

Im Vektorraum (4)

Egal wie es passiert – es passiert immer wieder. Er streckte seine Hand aus nach dem Gegenstand dort vorn, er versuchte den Arm zu bewegen, seine rechte Schulter schob sich um winzige Unendlichkeiten nach vorn, doch die Hand blieb liegen wo sie war. Er ließ sich in seinem Sessel zurückfallen, sein Rücken versank im gepolsterten Hintergrund wie ein kaum zu Ende gedachter Gedanke. Seit er den Arm nicht mehr bewegen konnte, bewegten sich seine Augen um so mehr. Eigentlich waren es gar nicht seine Augen, die sich bewegten. Von Zeit zu Zeit lief ein Zittern durch die Augäpfel, gefolgt von einem Zucken der Wimpern. Die restlichen Teile seines Körpers lagen so still wie die Planken eines Schiffs auf dem Meeresgrund.

Leipzig – Orpheus

Ich schließe die Augen & bin

dir unheimlich

nah spür dich direkt

körperlich sagtest du ich

fühlte mich so

angerührt vollkommen

fertig glaub mir

die bezaubernde

falsche

Nähe im Netz

transportierte Streichel

einheiten ich war richtig

high davon

stranguliert

Im Krater

Augensternwasser rinnt die Himmelskugel hinab, schlimmer als tausend Sternschnuppen kurz vorm Erkalten. Die Kohle glüht unterm Weltengrill, alle Besen bereit fürs große Fegen. So viel Wolkensalat zwischen Himmel und Erde, immer dunstig. Der Geysir erwartet seine Stunde. Wenn die Raumbezirke aneinander reiben und sich zu durchdringen beginnen, wird die kommende Verdunklung spürbar: eine Nacht, länger als hundert Tage, kriecht aus der Schnecke heraus, die das Raum-Zeitgehäuse der körperlichen Welt bildet. Noch hält ihre Kruste; der Druck aber, drohendes Ungleichgewicht der Kräfte, murmelt ein Gedicht von hier nach dort, dort nach hier.

Rätsel um Pi und Baby

Es traf mich als Blitz aus heiterem Himmel. Mein zwölfjähriger Neffe Alfred stellte mir anläßlich eines Sonntagsausflugs die Frage, ob wirklich alle Zahlen gleich seien oder ob es nicht doch Zahlen gibt, die anders sind als die meisten. Sein Freund Brinki habe ihm nämlich neulich ‚was von einer Zahl Pi erzählt – der Zahl aller Zahlen – und wer diese Zahl kennt, so Brinki laut Alfred, der sei ein glücklicher Mensch, der hätte das Geheimnis des Universums in der Tasche, der hätte Zugang zu den wildesten Welten. Ob ich diese Zahl kennen würde: Aber natürlich, und im Nu war ich mitten im Vortrag über rationale und irrationale Zahlen, Grenzwerte – den ganzen Schmuhs, den ich selbst in der Schule und später auf der Universität gelernt hatte, so wie man lernt, daß gelb auf englisch yellow heißt und blau blues. Irgendwann unterbrach mich Alfred mit entsetztem Blick und meinte, wenn das wilde Welten seien, dann wäre das Murmeltier der Tiger unter den Menschen. Sein Einwand entsetzte mich. Die Klarheit dieser Metaphorik hatte etwas von himmelblauer Eisluft. Von einem Augenblick auf den nächsten spürte ich die Langeweile von Jahrmillionen an mir vorüberziehen.

Zahlen, wer wüßte nicht, was das ist. Haste was, dann kannste auch. Aber diese Zahlen waren doch ziemlich langweilig: Mit der Erkenntnis dessen, was Münzen sind – und dazu genügt es wohl, eine, zwei oder drei zur Verfügung zu haben – läuft alles nur noch darauf hinaus, möglichst viel von dem Zeug anzuhäufen. Das mag ja nun tatsächlich ein praktisches Problem sein – Könige, Kaiser, sogar Päpste sind daran gescheitert – aber für die Freiheit der Phantasie läuft alles das aufs immer Gleiche hinaus: Haste noch nich‘ genug, dann nimm noch ‚was dazu. Das einzige Problem, mit dem sich die Phantasie dabei konfrontiert sieht, ist die Frage, wie ich denn einem mitfühlenden Wesen den Umfang meines Reichtums beschreiben könnte. Dann geht es also darum, Namen für das stets Neue zu erfinden. Aber Namen gibt es für alle Dinge, und die Dinge sind ja nun bei weitem interessantere Wirklichkeiten als diese eine Münze, deren unbeschränkt augestapelte Doppelgängerinnen einen Turm ergeben, der als Turm ganz sicher irgendwann zusammenstürzen muß. Bilde ich mir aber ein, ich könnte immer so weiter hochstapeln, dann ist meine Phantasie in der Tat eine kranke – keine wirkliche Welt wird auch nur in dem Schein bestehen können, mich als Hochstapler dauerhaft zu ertragen: den Münzenmann, der nichts als Stapeln kann. Eine solche Welt wäre in der Tat eine kranke. Grüß Gott, Babylon.