So geht das Reisen

So geht das Reisen in diesen Zeiten

Der Maulesel bleibt daheim : der Maulkorb

Wird auf dem Bahnsteig angeschnallt

Die Läden flunkern anhaltende

Schlemmerfreuden vor : Seuchenkrieg

& Kriegsseuche finden keinen Platz

Hinter den Schaufenstern : dem Führer

In der Lok gelingt das Kuppeln nicht

Eine zweite Lok wird vorgespannt

Hü hott : auf geht’s ins bekannte

Niemandsland : das fremdelnd einst

ich mein Zuhause nannte  


					

Synkopen

Spieluhrengleich spielt nachtblind er,

spielt, goldenes Kind, blick dich nicht um.

Umhüllt von Tüll sehe ich die Arme gleich

weißem Rauch,

blass dein Antlitz, schmal die Schultern,

knochig, fast knabenhaft zugleich,

noch höre ich dein Schweigen, tragen sie

feengleich fünfzehn im Reigen.

Nur eine umtanzt in grüngelbem Kleid ihn,

aus Seide gewebtem mit unsichtbarer Hand

von hauchdünnem Faden

im Spinnengewand.

Vom Denken in Geld und dem Glauben an Gott

Getrieben von dem Wunsch, das aktuelle Geschehen zu verstehen, es in einen größeren zeitlichen und historischen Kontext einordnen zu können, schreibe ich diese Zeilen in den Schluchten des Balkans, genauer: in meiner zweiten Heimat Bulgarien, in einer Art Notwehr nieder. Eine Art Notwehr gegen alle Falsch- und Nichtinformationen des Informationskrieges, in dem wir uns nicht erst seit dem angeblichen Krieg gegen Corona befinden. Der räumliche Abstand zu meiner ersten Heimat Deutschland hilft mir dabei, einen kühlen Kopf zu bewahren, meine Gedanken zu ordnen und festzuhalten.

Meine stärkste Assoziation, die bereits bei Beginn der Hygiene-Demos im Frühjahr 2020 in Berlin einsetzte, war die an die Ereignisse des gesamten Jahres 1989 in der DDR. Denn der Protest auf dem Rosa-Luxemburg-Platz, bei denen ich zugegen war, hatten einige Parallelen mit den Demonstrationen in Leipzig, beispielsweise das rigorose Eingreifen der Polizei gegen bestimmte Plakate und das Hochalten der Verfassung. In Leipzig wurde dieser Job noch von Mitarbeitern der Staatssicherheit in Zivil erledigt.

Der bekannte Ausgang der Proteste in Leipzig, deren Augenzeuge ich ebenfalls war, machte mir Hoffnung, aber nicht nur Hoffnung. Im selben Moment machte er mich auch nachdenklich und vorsichtig. Vor allem deswegen, weil bis heute eine charakterstarke, machtvolle Persönlichkeit wie Michail Gorbatschow fehlt, ohne die eine Wende in der Form, wie wir sie 1989 erlebt haben, nicht möglich gewesen wäre. Ein großer Wandel, ganz bewusst kein „großer Umbruch“, ist trotzdem prinzipiell auch heute möglich, so denke ich, auch wenn gerade nicht nur Deutschland und Europa, sondern die ganze Welt den gesunden Menschenverstand verloren zu haben scheint, was Nietzsche so erklärte:

„Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.“

Eine weitere wichtige Erfahrung, vielleicht besser Lehre, aus dem Jahr 1989 ist, dass es am Ende immer anders kommt, als man denkt. In dem Fall, dass aus „Wir sind das Volk“ „Wir sind ein Volk wurde“. Dazu muss man wissen, dass niemand in der DDR auf die Straße gegangen war, zumindest am Anfang nicht, um sich mit der alten Bundesrepublik zu vereinigen, und schon gar nicht um ihr beizutreten, sondern weil man eine bessere DDR wollte. Aber so ist es wohl immer in der Menschheitsgeschichte, oder zumindest meistens, und vermutlich auch diesmal bei Corona. Am Ende kommt etwas anderes heraus, als man es sich erhofft hat – so oder so. Ich befürchte, dass auch diesmal zum Schluss alles wieder nur „besser“ aber nichts „gut“ wird. Das ist auch ein Grund, der mich in der gegenwärtigen Situation lähmt, und ich vermute nicht nur mich.

Andererseits: Was habe ich zu verlieren? Eine mögliche Impfpflicht, für die ich mich ganz „frei“ entscheiden darf. Einen obligatorischen Grünen Pass, den ich für nicht notwendig erachte. Einschränkungen beim Reisen, mehr Kontrolle und Überwachung und vieles andere mehr …  Meine Arbeit als Taxifahrer habe ich bereits vor zwei Jahren verloren. Auch eine Tätigkeit als Krankenpfleger, in meinem erlernten Beruf, ist für mich demnächst nicht mehr möglich. – So gesehen lohnt es sich schon aufzustehen, auch für mich. Nicht nur manchmal hadere ich deswegen mit mir, jetzt nicht in Berlin auf der Straße zu sein, auf der ich einst viele Jahre mit meinem Taxi zu hause war.

Als in der DDR groß gewordener Mensch glaubte ich, ich gebe es offen zu, lange an die allgemeine und stetige Fortentwicklung der Menschheit im Marxschen Sinne. Die marxistische Dialektik besagt aber auch, dass sich jeder einzelne Mensch weiter einwickeln kann, und das tue ich. Die vielen Jahre auf der Straße, meiner Universität, und die zahlreichen Gespräche mit Fahrgästen und Kollegen haben mir dabei geholfen. Es hat etwas gedauert, aber am Ende habe ich die für mich wahrere Deutung gefunden. Diesmal nicht bei Marx, sondern bei seinem Landsmann und Zeitgenossen Nietzsche:

„Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der ‚Fortschritt’ ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute bleibt in seinem Wert tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgendwelcher Notwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.“

Dass es etwas gedauert hat, die Dinge zu durchschauen, mich zu korrigieren und damit auch annehmen zu können, dass ich lange Zeit falsch gelegen habe, liegt auch am falschen Gebrauch der Sprache, den es ebenfalls nicht erst seit Corona gibt. Corona hat es mit dem Missbrauch der Sprache und seinen ganzen Falschwörtern wie „Covidioten“, Coronaleugner“ und „Impfgegner“, um nur einige zu nennen, nur auf die Spritze, Verzeihung, Spitze getrieben. Und dabei hätte ich als Halbbulgare darauf vorbereitet sein können. Denn wenn, wie in Bulgaren, JA NEIN und NEIN JA bedeuten kann, dann muss LINKS-GRÜN, dem auch ich lange Zeit zugeneigt war, nicht automatisch immer und für alle Zeit LINKS-GRÜN heißen. Der falsche Gebrauch der Sprache kann fatale Folgen für das gesamte Gemeinwesen haben, das meinte zumindest Konfuzius:

„Wenn die Worte nicht stimmen, dann ist das Gesagte nicht das Gemeinte. Wenn das, was gesagt wird, nicht stimmt, dann stimmen die Werke nicht. Gedeihen die Werke nicht, so verderben Sitten und Künste. Darum achte man darauf, dass die Worte stimmen.“

Der Missbrauch der Sprache ist DAS Mittel, mit dem uns der Glaube an den Fortschritt verkauft wird. Denn verkauft und gekauft werden muss, am besten jeden Tag ein neuer Glaube, eine neue Wahrheit, obwohl es unter der Sonne kaum etwas Neues gibt. Um wirklich etwas Neues zu erfahren, schaut man am besten in Bücher – je älter, desto besser. Aber selbst das ist keine Garantie, wie ich kürzlich erfahren musste, als ich den berühmten Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ des bekannten tschechischen Autors Milan Kundera aus dem Jahr 1984 erneut in die Hand nahm.

Er beginnt folgendermaßen: „Die Ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht: alles wird sich irgendwann so wiederholen, wie man es schon einmal erlebt hat, und auch diese Wiederholung wird sich unendlich wiederholen! Was besagt dieser widersinnige Mythos?“ – Fast möchte man fragen: Was besagt diese widersinnige Frage? Und zwar deswegen, weil mit der Ewigen Widerkehr, auf die schon andere Philosophen vor Nietzsche gekommen waren, eine Idee, ein Schema gemeint ist, und eben nicht: „alles wird sich irgendwann so wiederholen, wie man es schon einmal erlebt hat, … .“

Wie nun diese Idee, dieses Schema aussieht, beziehungsweise aussehen könnte, darauf bin ich ausgerechnet in Orwells „1984“ gestoßen, das den meisten wegen seinem „Big Brother“, dem „Ministerium für Wahrheit“, der „Gedankenpolizei“ und dem „Neusprech“ bekannt ist. Genau genommen ist es auch nicht Orwells Schema, sondern das von Emmanuel Goldstein, aus dessen Buch „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“ Winston seiner Geliebten Julia im zweiten Teil von „1984“ vorliest:

„Von Anbeginn der geschichtlichen Überlieferung und wahrscheinlich seit dem Ende des Steinzeitalters gab es auf der Welt drei Arten von Menschen: die Oberen, die Mittleren und die Unteren. Sie waren auf vielerlei Weise untergliedert, trugen verschiedenartige Namen, und sowohl ihr Verhältniszahl wie ihre Einstellung zueinander änderte sich von Epoche zu Epoche: doch die Grundstruktur der Gesellschaft hat sich nie gewandelt. Selbst nach ungeheuren Umwälzungen und scheinbar unwiderruflichen Veränderungen stellte sich stets das gleiche Muster wieder her, genauso wie ein Gyroskop sich immer wieder aufrichtet, wie sehr man es auch aus dem Gleichgewicht bringt.

Die Ziele dieser drei Gruppen sind unvereinbar. Das Ziel der Oberen ist es, dort zu bleiben, wo sie sind. Das Ziel der Mittleren, mit den Oberen den Platz zu tauschen. Das Ziel der Unteren, sofern sie überhaupt eines haben – denn es ist ein bleibendes Charakteristikum der Unteren, dass sie von der Plackerei zu ausgelaugt sind, um öfters als nur sporadisch etwas Interesse zu zeigen, das außerhalb ihres Alltagslebens liegt –, ist es, alle Unterschiede abzuschaffen und eine Gesellschaft zu errichten, in der alle Menschen gleich sein sollen. Und so wiederholt sich durch die ganze Geschichte ein in seinen Grundzügen immer gleicher Kampf.

Über lange Zeiträume scheinen die Oberen ungefährdet an der Macht zu sein, doch früher oder später kommt der Augenblick, in dem sie entweder ihr Selbstvertrauen verlieren oder die Fähigkeit, wirksam zu regieren, oder beides. Sie werden dann von den Mittleren gestürzt, die die Unteren dadurch auf ihre Seite ziehen, dass sie ihnen vorspiegeln, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Sobald die Mittleren ihr Ziel erreicht haben, stoßen sie die Unteren wieder in ihre alte Knechtschaft zurück und werden selber zu den Oberen. Schon bald spaltet sich von einer der beiden anderen Gruppen oder von beiden eine neue Mittelgruppe ab, und der Kampf beginnt von Neuem.“

Was mich so sicher macht, auf der richtigen Spur zu sein, möglicherweise das richtige Schema auch für das aktuellen Geschehen gefunden zu haben, das nicht wenige mit der Erfindung des Geldes und des Zinses in Verbindung bringen, ist mein Eindruck, dass „Es geht um Leben und Tod“ Lauterbach möglicherweise gerade dabei ist, wie beschrieben entweder sein Selbstvertrauen zu verlieren oder die Fähigkeit, wirksam zu regieren, oder beides, so sehr verstrickt er sich in Widersprüche. Möglicherweise dienen diese Widersprüche, wenngleich vom sich Widersprechenden angeblich beliebtesten Politiker unseres Landes unbeabsichtigt, aber auch einem anderen Ziel, und zwar dem des „kontrollierten Wahnsinns“, wie Emmanuel Goldstein alias George Orwell es nennt:

„Soll die Gleichheit der Menschen für immer verhindert werden – sollen die Oberen, wie wir sie genannt haben, ihre Stellung dauerhaft behaupten -, dann muss der vorherrschende Geisteszustand kontrollierter Wahnsinn sein.“

Vielleicht denkt man aber auch schon an die Zeit nach Corona und nach Karl Lauterbach. Klaus Schwab geht in seinem Buch „Covid-19: Der große Umbruch“ davon aus, „dass uns die Pandemie zwei Jahre erhalten bleibt.“ Er beruft sich dabei auf Experten, er selbst ist ja keiner. Danach, also ziemlich bald, könnte ein neuer Virus und mit ihm ein neuer „Gesundheitsminister“ kommen, oder ganz und gar ein neuer Krieg. Diesmal nicht gegen einen winzig kleinen Mikroorganismus, sondern gegen das größte Land, obwohl dessen Einwohner  möglicherweise gar keinen Krieg wollen. Zumindest stellte dies ein bekannter Pop-Song in den Achtzigern noch in Frage: „Denkst du, die Russen wollen Krieg?“

Bis es so weit ist, sei rasch noch ein weiteres Phänomen erwähnt, das von Emmanuel Goldstein in Orwells „1984“ wie folgt beschrieben wird, das es bereits in der DDR gab, und das aktuell auch wieder aufgetaucht ist. Es wird als „Delstop“ bezeichnet, im englischen Original heißt es „Crimestop“, die deutsche Umschreibung für das Phänomen ist „schützende Dummheit“:

„Delstop bezeichnet die Fähigkeit, geradezu instinktiv auf der Schwelle jedes riskanten Gedankens haltzumachen. Es schließt die Gabe ein, Analogien nicht zu begreifen, logische Fehler zu übersehen, die simpelsten Argumente mißzuverstehen, wenn sie dem gängigen Narrativ widersprechen*, und von jedem Gedankengang, der in eine ketzerische Richtung führen könnte, gelangweilt und abgestoßen zu werden. Kurz gesagt, Delstop bedeutet schützende Dummheit.“ (* im Original: „Engsoz-feindlich sind“)

Dass das gängige Narrativ aktuell von vielen nicht mehr in Frage gestellt wird, liegt auch daran, dass bereits das Hinterfragen nicht ganz ungefährlich ist. Im Normalfall wird es „nur“ mit sozialer Ausgrenzung geahndet, im dümmeren Fall mit einer Geldstrafe belegt. Der Grund dafür ist, dass aus der Wissenschaft von einst, also aus Rede und Gegenrede, aus These, Gegenthese und Synthese, DIE Wissenschaft geworden ist, eine Art orthodoxer Glauben einer Sekte, den „Zeugen Coronas“, in der Abwägung und Verhältnismäßigkeit unbekannt, Zweifel verboten und Zweifler Aussätzige sind. Von einem gläubigen Sektenmitglied wird ziemlich genau das erwartet, was in Orwells „1984“ von einem Parteimitglied verlangt wird:

„Von einem Parteimitglied wird nicht nur verlangt, dass es die richtigen Ansichten, sondern auch, dass es die richtigen Instinkte hat. Viele der ihm abgeforderten Überzeugungen und Verhaltensweisen werden nie direkt formuliert und können auch nicht formuliert werden, ohne die dem gängigen Narrativ* innenwohnenden Widersprüche aufzudecken. Ist das Parteimitglied von Natur aus orthodox (in Neusprech: ein Gutdenker), dann wird es in allen Lebenslagen ohne Nachdenken wissen, was der richtige Glaube oder die erwünschte Emotion ist.“ (* im Original: „Engsoz“)

Worum es im aktuellen Glaubenskrieg geht, das erklärt folgendes Zitat aus Harald Walachs „Brücken zwischen Psychotherapie und Spiritualität“: „A Catholic knows he is a Catholic. A Muslim knows he is a Mulim. A Jew knows he is a Jew, and a Hindu knows he is a Hindu. Only a materialist doesn’t know he is a materialist. He thinks he is a scientist.“ – Im gegenwärtigen Glaubenskrieg geht es nicht um DEN einen Gott, auch nicht um DIE Wissenschaft, und auch nicht einfach um Besitzstandswahrung, sondern um die Erweiterung des Besitzes an Gut und Geld. Geld, von dem Super-Reiche beispielsweise gerade im großen Stil Land kaufen, ähnlich wie der weiße Mann bei der Besiedlung Amerikas für eine Handvoll Dollar vom „Native American“, dem Indianer, Land kaufte, der gar nicht verstand, wie er etwas verkaufen kann, das ihm nicht gehört.

Mit Glaubenskriegen kennen wir Deutsche uns aus, der bekannteste Glaubenskrieg hierzulande war die Reformation. Sie nahm ihren Ausgang am Ablass, genauer am Ablasshandel, mit dessen Einnahmen der Petersdom zu Rom errichtet wurde. Der Ablass von heute ist die Impfung. Wer sie über sich ergehen lässt, dem wird ewiges Leben versprochen. Derjenige, der sich dagegen entscheidet, ist des Todes, eine Gefahr für die Volksgesundheit, ein Gefährder, ein Ketzer, ein Ungläubiger, praktisch ein Untermensch und so gut wie tot. Wofür die Einnahmen aus dem aktuellen Ablasshandel verwendet werden, kann bisher nur vermutet werden. Möglicherweise für neue, noch perfidere Ablasshändel. Die einmal in Gang gesetzte Spirale ist bereits dabei, sich immer schneller zu drehen, die Abstände zwischen den Impfungen werden immer kürzer.

Der Reformation folgten die Gegenreformation, der Bauernkrieg und später der erwähnte Dreißigjährige Krieg, ein Krieg voller Gräuel. Das ganze währte etwa 150 Jahre. Dem Westfälischen Frieden, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, gingen zweijährige Friedensverhandlungen voraus, so gespalten waren die Kriegsparteien – damals schon. In diesen geschichtlichen Kontexten und auch zeitlichen Dimensionen denke ich mittlerweile, wenn ich an den „Krieg gegen Corona“ denke.

Wallenstein, ein großer Profiteur des Dreißigjährigen Krieges, sagte angesprochen auf die vielen Truppen, die er aufzustellen beabsichtigte, ohne dass er über das dafür notwenige Geld verfügte, sinngemäß, dass der Krieg den Krieg ernähren würde. Und so scheint es mir auch mit diesem Krieg zu sein. Denn auch in diesem Krieg geht es ums Geld. Während weltweit die große Mehrheit der Menschheit immer weiter und schneller verarmt, ist noch nie zuvor eine einzelne Person innerhalb nur eines Jahres um mehr als 100 Milliarden Dollar reicher geworden. Aber nicht nur für Elon Musk ist Corona eine gute Zeit. Die Milliardäre der Welt haben 3,9 Billionen Dollar hinzugewonnen in 2020. Für wen Corona ein einträgliches Geschäft ist, dürfte kaum etwas gegen Corona haben. Vielleicht ginge es mir genauso, wenn ich mit Corona Geld verdienen würde. Da dem nicht so ist, stellt sich mir diese Frage nicht, muss ich sie nicht beantworten.

Ich führe auch keinen Krieg. Ich halte es mit Corona wie Muhamed Ali es mit dem Vietnamesen gehalten hat. Der habe ihm nichts getan, weswegen er nicht einsah, gegen ihn in den Krieg zu ziehen. Ali ging damals ins Gefängnis dafür, dass er nicht gegen den Vietnamesen kämpfen wollte. Heute gibt es bisher „nur“ Geldstrafen, die einen aber schnell in den finanziellen Ruin treiben können, wenn man sich nicht, so wie Ali, fürs Gefängnis entscheidet. Mit Zeitangaben, sowohl was einen Gefängnisaufenthalt, als auch den „Krieg gegen Corona“ angeht, tue ich mich schwer, was daran liegt, dass unsere Zeit schnelllebiger ist als noch zu Luthers, Müntzers und Wallensteins Zeiten.

Nachdem ich vor vielen Jahren, damals aus eigener Dummheit, ich saß im verkehrten Bus, der ins Grenzgebiet zu Griechenland fuhr, die Bekanntschaft mit einem Gefängnis in Bulgarien gemacht habe, ganz genau waren es drei verschiedene Gefängnisse gewesen, kann ich dazu mit Bestimmtheit sagen, dass mich nichts dorthin zurückzieht. Andererseits ist es für mich mittlerweile zu einer Frage der Ehre und auch der Würde geworden, mich in dem derzeitigen Krieg zu positionieren, den man mir Tag für Tag aufs Neue aufzwingt, weswegen man auch hier von Notwehr sprechen kann.

Aktuell liegt wie gesagt ein Krieg gegen Russland in der Luft, wobei hier in Bulgarien der Westen von nicht wenigen als Kriegstreiber wahrgenommen wird. Praktisch so wie früher von Linken im Westen, jetzt wohl eher linken Linken, die in Personen wie Bush, Blair und auch Obama noch Kriegstreiber sahen, wohingegen Biden und auch Gates heute ihre Freunde zu sein scheinen, möglicherweise auch Schwab. Wahrscheinlich glauben die „Linken“ von heute wirklich, dass dieselben Herrschaften, die viele Jahre am Mitverursachen des Klimawandels gutes Geld verdient haben, jetzt ernsthaft mit einem „Green Deal“ die Welt retten wollen. Ganz abgesehen von den Akteuren denke ich, dass man mit der Natur, also mit Gott, grundsätzlich nicht dealt.

Wahrheiten erkennt man nicht daran, dass sie einem gefallen, sondern daran, dass sie wahr sind, genauer: wahrer als andere Wahrheiten. Ein möglicherweise bevorstehender Ablenkungs-Krieg gegen Russland ist eine solche tiefere, wahrere Wahrheit. Und auch, dass ein Bürgerkrieg in manchen Ländern des Westens offenbar bereits begonnen hat, angesichts der sich täglich wiederholenden Auseinandersetzungen auf den dortigen Straßen, beispielsweise Brüssels. Bei beiden Kriegen geht es vor allem um Geld und Gut, auch wenn dies nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Mit einer Impfung kann man viel Geld verdienen, mit einer Impfpflicht mehr, mit einer Dauer-Impfpflicht, einem Impf-Abonnement, noch mehr. Billiges Gas aus Russland ist war gut, selbst die Vorkommen zu kontrollieren oder auch nur sein eigenes Gas zu verkaufen, ist besser.

Das Denken, Urteilen und Beurteilen in Geld ist tief in unser Bewusstsein und Unterbewusstsein eingedrungen. Oskar Wilde beschrieb das Phänomen so: „Heutzutage kennen die Leute von allem den Preis und von nichts den Wert.“

Wohin dieses Denken führen kann, dafür habe ich eine Erklärung in einem Buch gefunden, das als Gesamtwerk erstmals 1922 erschien, also vor genau 100 Jahren. Die Rede ist von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“. Das „Schwergewicht“ endet überraschenderweise mit dem Kapitel „Endkampf zwischen Geld und Politik; Sieg des Blutes“. Auch wenn der Schluss insgesamt etwas kryptisch und apokalyptisch klingt, in gewisser Weise erinnert es an die „Offenbarung“, möchte ich ein paar Gedanken aus dem Buch wiedergeben und einige Sätze aus ihm zitieren:

„Die Banken und damit die Börsen haben sich … zur eigenen Macht entwickelt und sie wollen, wie das Geld in allen Zeiten, die einzige Macht sein. Das uralte Ringen zwischen erzeugender und erobernder Wirtschaft (nach Spengler ‚zugleich ein Ringen zwischen Geld und Recht’) erhebt sich zu einem Riesenkampf der Geister, der auf dem Boden der Weltstädte ausgefochten wird. Es ist der Verzweiflungskampf des technischen Denkens gegenüber dem Denken in Geld.“ … „Die Diktatur des Geldes schreitet vor und nähert sich einem natürlichen Höhepunkt …“ … „Der letzte Kampf beginnt, … : der zwischen Geld und Blut.“ … „Das Schwert siegt über das Geld …“. – So weit aus dem zweiten Teil des den fünften und letzten Kapitels vom „Untergang des Abendlandes“, der den Titel „Die Maschine“ trägt.

Was Spengler mit „Denken in Geld“ genau meint, beschreibt er im vorherigen ersten Teil des fünften Kapitels mit dem Titel „Das Geld“ so: „ … an Stelle des Denkens in Gütern tritt das Denken in Geld“, was bedeutet: „Das Wirtschaftsbild wird ausschließlich auf Quantitäten zurückgeführt, unter Absehen von der Qualität, die gerade das wesentliche Merkmal des Gutes ist.“ Was dazu führt, dass: „Wer dieses Denken beherrscht, ist Meister des Geldes. Die Entwicklung geht in allen Kulturen diesen Weg. Lysias stellte in seiner Rede gegen die Getreidehändler fest, dass die Spekulanten im Piräus manchmal das Gerücht verbreiteten, eine Getreideflotte sei gescheitert oder ein Krieg ausgebrochen, um eine einträgliche Panik (sic!) hervorzurufen.“

Spengler führt weitere Beispiele der Menschheitsgeschichte an, unter anderem wie der Finanzverwalter Alexander des Großen für Ägypten mit einer durch Buchkäufe verursachten Hungersnot einen „ungeheurer Gewinn“ erzielen konnte. Eine „einträgliche Panik“, wenngleich nur für einige wenige, die meisten hungerten oder verhungerten einfach, gab es also damals schon, und möglicherweise ist sie nichts anderes als Orwells „kontrollierter Wahnsinn“ oder hat zumindest Parallelen mit ihm.

All dies führt Spengler in „Der Untergang des Abendlandes“ am Ende des vierten Kapitels „Der Staat“ zu folgender Feststellung: „Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem das Geld den Geist vernichtet hat.“

In dem Zusammenhang fällt mir ein Traum ein, den ich neulich hatte, und dessen Hauptakteure bewaffnete Guerilla-Kämpfer waren. Dazu muss man wissen, dass die Guerilla früher zu den Guten gehörte, beispielsweise ein Che Guevara, und das nicht nur bei den Linken. Viele kennen heute nur noch das Guerilla-Marketing, wofür mitunter ein bekanntes Guevara-Foto herhalten muss, das aber mit der Guerilla von einst und ihrem Befreiungskampf nichts zu tun hat. In meinem Traum gibt es noch die gute alte Guerilla à la Che & Robin Hood, und sie dringt dort in das Schlafzimmer von Mark Zuckerberg ein. Oder war es das von Klaus Schwab? Am Ende ist es egal. Man lässt Mark, oder wegen mir auch Klaus, fünf Minuten Zeit seine Sachen zu packen. Offensichtlich soll er irgendwohin verbracht werden. Wohin ist unklar, spielt in dem Zusammenhang auch keine Rolle. Man will ihm jedenfalls nicht ans Leder, es fließt kein Blut, und man hat auch keine Spritze dabei. Irritierend für mich an dem Traum ist, dass Mark beziehungsweise Klaus gar nicht erstaunt sind, sondern im Gegenteil so tun, als hätten sie irgendwie damit gerechnet. Denn sie sagen beide unisono etwas wie: „Ich wusste, dass es irgendwann so kommen würde – am Ende war ja alles nur geklaut.“

Nachdem, geht es nach Spengler, das Schwert über das Geld gesiegt hat, bleibt noch die Frage nach dem Glauben, oder wie Goethe es im „Faust“ formuliert hat: „Wie hältst du’s mit der Religion?“. Ausgerechnet bei Michel Houellebecq findet sich eine Antwort, die sich wiederum auf Nietzsche bezieht, von dem der französische „Skandalautor“ alles andere als ein Fan ist, eher das Gegenteil. Umso ernster sollte man möglicherweise Houellebecq an dieser Stelle nehmen, wenn er sagt:

„..  dass Nietzsche, wenn er heute lebte, vielleicht der erste wäre, der eine Erneuerung des Katholizismus wünschen würde. Während er damals hartnäckig das Christentum als eine ‚Religion der Schwachen’ bekämpfte, würde er heute einsehen, dass die ganze Kraft Europas in jener ‚Religion der Schwachen’ begründet war, und dass Europa ohne sie verloren ist.“

Einen großen Staat regiert man, wie man kleine Fische brät

Kleine Fische werden unansehnlich, wenn man sie beim Kochen ständig umrührt. Das Volk leidet darunter, wenn man einen großen Staat regiert und ständig die Gesetze ändert. Daher heißt es bei Laozi: „Einen großen Staat regiert man, wie man kleine Fische kocht.“

CRISPR

„Der Weise hat Wissen, aber

er wendet es nicht an.“

Zhuangzi

Warum verwechseln wir das „Sein“ mit dem „Sein des Seienden“, wie der Meisterdenker genau analysiert hat? Und diese Verwechslung dauert nun bereits seit fast zweitausendfünfhundert Jahren an. Wie kam es, dass wir das abendländische Technik-Monster in die Welt gesetzt haben und jetzt sei­ner nicht „Herr“ werden? Jenes Monster, das in Kronos sein ultimatives Dispositiv gefunden hat und seither seine Kinder frisst. Warum fanden wir es angezeigt, das Sein dem Sein des Seienden zu op­fern? Welche Sucht hat da in uns geschlummert und ist grausam erwacht? Uns: das ist der Wille der zunächst kleinen griechisch-römisch-christlichen Weltpopulation zur Welt- und Naturbeherr­schung. Die Welt zu etwas Erklärtem machen. Wille, der Wille zum Wissen als Macht ist. Eine Idee, die ei­nem Angehörigen der indigenen Bevölkerung der San oder der Khoikhoi, aber auch einem Hindu, Buddhis­ten, Daoisten oder christ­lichen Mystiker nie ge­kommen wäre. Wir aber „stellen“ die Welt „fest“, machen sie zu einem Ge­genüber, zu einem Ge­gen-Stand, entkleiden sie ihres Geheimnisses. Es bleibt eine schwer zu er­klärende Tatsache, warum ausgerechnet im griechisch-römischen Kultur­raum die Voraussetzungen der Technik entwickeln wurden und sich von dort aus global verbreite­ten. Unsere legitimen Werkzeuge und Hebel wurden zur Prothetik und zu reproduzierenden Maschi­nen, zur automatisierten Mecha­nik, die sich schließlich digital ver­schönert, die sauber ist. Warum ist das schlimm? Weil jene Pro­thetik und jene Maschinen uns den Weg als Akt stehlen und damit die unmittelbare Sinnhaftigkeit unserer Tuns, die wir zur Erfahrung von Werthaftigkeit brauchen. Ein Tee in der Teezere­monie zu­bereitet ist nicht das Gleiche, wie sich einen Tee aus dem Automaten zu ziehen oder Wasser über ei­nen Auf­gussbeutel zu gießen. Unsere Alltags-Akte sollen dem Tag Farbe schenken, das Zeit-Kontinuum der Dauer eröffnen. Aber wir fürchten die Dauer als mögliches „Welten“ der Welt. Das „Welten“ der Welt wollen wir unter Kontrolle bringen und natürlich da zu­erst, wo es uns am gefährlichsten ist: Im eige­nen Körper. Der Körper muss ein Modell des Wissens werden, d.h. artifiziell. Wir züchten Or­gane nach, bauen Kontrollfunktionen ein. Blutdruck, Herz­leistung, Verbrauch von Kohlehydra­ten, Schritthäufigkeit usw. überwachen wir mittels Smart-Watch, also mit Kronos in digi­taler und erweiterter Gestalt, wir implantieren Chips. Normal wartet die Natur, der Körper sich selbst. Aber durch unsere technischen Eingriffe entsteht künstliche War­tungsnotwendigkeit und damit Wartungsabhän­gigkeit. Wer gewährt die kostenreiche Wartung unse­rer Prothe­sen und Chips, wer bezahlt sie, und ist das medizinische Personal verfügbar? Zunächst be­ruhigt uns die Kontrollmög­lichkeit des schwer berechenbaren Körperdings. Kontrolle allein ge­nügt jedoch nicht mehr. Wir müssen mittels synthetischer Biologie uns in das körpereigene Programm al­ler Wesen, ins Genom, einschleusen und dieses umschreiben, um das uns ge­nehme, nicht störende Ziel zu erreichen. Jetzt gibt unser Geist, der ein Geist der Flickschusterei ist, der Natur das Ziel vor. Macht sich zum Herrn. Das nen­nen wir die CRISPR/Cas-Methode (Cluste­red Regularly Interspaced Short Palindro­mic Repeats). Wir dürfen den natürlichen Vorgängen keinen un­gewissen Ausgang mehr erlauben. Erhofftes Ziel ist totale Kon­trolle und Manipulation.

Die Wissenschaft hat noch nie ein „Naturgesetz“ entdeckt, sondern nur, was die Natur als Echolalie auf unsere Fra­gen und Anwendungen liefert. Die Natur ist Chaos und Unschärfe, ist dionysisch, ge­waltsam, ist Schönheit innerhalb einer uns sich entziehenden Ordnung. Darum wollen wir ihr nur erlauben, das zu machen, was wir innerhalb dieser Echo­lalie nachvollziehen können. Darum müssen wir die Genome aller Lebewesen umschrei­ben. Nur so gelangen wir zu un­gestörtem anhaltenden Komfort. Zur er­eignislosen Faulheit.

Technik und Wissenschaft sollten zu Dienern werden, unsere elementaren Lebensvollzüge erleich­tern. Aber das Verhältnis hat sich umgekehrt. Jetzt dienen wir unseren Vorrichtungen. Dabei ist die Technik als Techné, als Handwerk und Fertigkeit, als analoge nicht automatisierte Unterstüt­zung manueller Vorgänge, eine der menschlichen Geistesverfassung eigene Qualität und Hilfe. Aber als wir Gott und Schöpfung trennten, in die Einheit Gottes ein dualistisches Prinzip einfügten, ent­stand die Panpho­bie und wir versuchten fortan, des Pan Herr zu werden. Tierquälerei zu Forschungszwe­cken, Mas­sentierhaltung, Lebensraum-Zerstörung, Transhumanismus und künstliche Intelligenz, und das im großen Stil, sind die logi­schen Folgen und zeigen die vollendete Umkehrung des Herr­schaftsverhältnisses zwi­schen Mensch und Maschine. „Künstliche Intelligenz“ ist eine dem Tech­nik-Programm inhär­ente Falschmünze­rei, und zeigt, dass wir nicht wissen, was echte Intelli­genz ist. „Künstliche Intellig­enz“ ist in Wahrheit ein hochprimitives auf Kybernetik beruhendes kausales Schaltprinzip. Dumm wie, ja dümmer als Bohnenstroh. Was und wofür forschen wir? Ist Forschung noch ein Ge­bot der Vernunft und der Freiheit oder dient sie seit langem nur der Durch­setzung unse­rer kapital-kumulier­enden Pro­jekte?

Wer wollte leugnen, dass unser Gegenstandsbewußtsein von Welt, das uns das Sezieren, Verdrahten, Digitalisieren, Neuzüchten, Clonen ermöglicht, uns nicht große Schritte in Medizin, Mobilität und Produktion hat machen lassen. Nur Schritte wohin? Sicherheit und Gesundheit sind nicht mehr die Abwesenheit von Krankheit oder Verbrechen, sondern sind abso­lute Werte geworden. Als solche funktionieren sie als andauernde fiktionale Nähe. Unser immerwäh­rendes Gegenüber ist die Angst. Die Panphobie hat eine Wand­lung durchgemacht. Da die Welt „gestellt“ ist, die Angst aber nicht aus der Welt ist, was sie nur durch vertrauensbildende Maßnah­men wäre, durch Feier und Fest, durch Nähe und Teilhabe, ist sie zum dauerhaften, abstrakten Agens geworden. Unser Bewältigungsmec­hanismus, die Technik, er­schafft uns die Illusion von Si­cherheit. Im Hintergrund streiten sich zwei Zeiten: die Zeit des Voll­zugs und die Zeit der Schaltun­gen, oder die erfüllte und die leere Zeit. Die leere Zeit verschlingt den Raum, verhindert, dass die Zeit des Vollzugs Wirk­lichkeit wird. So he­cheln wir ständig jedwe­der Neuerung hinterher als eines Versprechens der Verortung. Allein, es ist nur eine Geschwindig­keitssteigerung, ein Wahn.

Die Technik ist eine Herrschaftsmetapher. Mittels der Geräte, der Dispositive, bin ich Teilhaber die­ser Herrschaft. Wir fühlen uns von dieser Teilhabe ausgeschlossen und bekommen Panik, wenn un­ser Smart-Phone, unser PC oder unser Auto nicht mehr funktioniert. Die Communio der Herrschaft hingegen macht uns lüstern, feuert uns an, macht uns gierig. Vor den Artefakten einer innovativen Technik machen wir den Kniefall. Gleichzeitig geraten wir stets tiefer in die innere Ver­wahrlosung. Unser sozia­les Leben stirbt und mit ihm unsere sittliche Bildung. Wir leben in der Wertleere, in der Aushöhlung von Erfahrung, im Alles und Nichts. Das ist der Boden, auf dem die Technokratie die Herrschaft antreten kann im Verein mit Szientismus als Wissenschaftsgläubigkeit und Monopolka­pital. Diese drei zu­sammen bilden das böse Triumvirat.

Die Technik hat zur Bedingung der Möglichkeit, wie oben gezeigt, die Welt als Erklärte. Wir müs­sen über die Welt geistige Verfügungsgewalt erlangen, eh wir sie in unsere Installationen und Pro­gramme hineintreiben können. Aber wie wird die Welt zu einer Verfügbaren? Dafür ist unser Ver­hältnis zum Körper entscheidend. Man nehme als Beispiel die weibliche Brust. Wie anders ist unser Ver­hältnis zu ihr als Liebhaber, als Frau, die sich ihrer Schönheit freut, als Säugling, als Arzt. Ein­mal ist sie Zauber, dann Nahrung, dann sim­ples kausal-mechanisches Prinzip. In der Mammografie wird sie Objekt des Wissens. Wir haben die Welt mammografiert. Sie liegt vor unserem kal­tem Blick hin­gestreckt da. Wir sind ihr keinerlei Dank schuldig. Sie ist ihrem Geheimnis entblößt. Ent­blößung ist unser Projekt. Da kommen wir nicht heraus, es sei denn wir bauen neues Ver­trauen auf. Ein tiefes, seinbegründetes: Die Akzeptanz des Schleiers. Was wir anders der Natur, den Tie­ren, den Pflanzen, den Dingen antun, tun wir uns selbst an. Die Einheit Gottes, des Seins, mit der Welt ist aufgekündigt zu­gunsten einer für unsere Greifwerkzeuge totalen Verfüg­barkeit. Aber jetzt, nach so vielen Jahrhun­derten, schlägt das System zurück. Wir selbst sind Teil der Verfügungs­masse gewor­den. Unsere Körper gehören uns nicht mehr. Der Organhandel floriert, Impfzwang und Totalüberw­achung sind die Folgen der in unser kleines Ein-mal-eins verfrachteten Schöpfung. Kein Gott spricht mehr darin. Aus Pan-Phobie ist Pan-Optik geworden. Bleibt die Fra­ge, wer ist hier Überwa­cher und wer Über­wachter. Die Natur zu erklären durch eine angebliche Entschlüsselung eines ebenso angeblichen Codes, ohne zu merken, dass es sich hier um unsere arg be­schränkten und sim­plifizierenden Be­schreibungswerkzeuge handelt, ist eine spezielle Art von Dumm­heit, Dumm­heit als Hybris und Ma­chenschaft.

Geben wir es zu, wir wissen, dass etwas falsch läuft. Allein, wir wissen nicht was. Probleme mit dem Kli­ma, mit den Ressourcen stoßen uns mit der Nase drauf. Es hat vor fast zweitausendfünfhun­dert Jahren begonnen, als wir uns kraft unseres Willens zur Macht entschieden, das Sein mit dem Sein des Seienden zu verwech­seln, woraufhin sich die abendländische Installati­onswut Bahn brach. Das ist der griechisch-römische Sonderweg, der das politische Christen­tum als Blau­pause benutzte. Zur technischen In­stallation gesellten sich Bildung und Erziehung. Der Seins-, der Götter-, der Got­tesbezug musste nicht mehr bemüht werden. Die klare Zwei­teilung von Gott und Schöpfung öffne­te, wenn Gott erst abgetan war, Tür und Tor. Darin konnten wir nach Herzens­lust operieren, sezie­ren, installieren. Schöpfung musste nur noch Natur und Wis­senschaft Naturwis­senschaft werden. Warum würde sich bei uns ein Angehöriger der indigenen Bevölkerung der San oder der Khoikhoi nicht wohl­fühlen? Er würde denken, er sei in der Hölle. Keine Feier, kein Fest, kein Op­fer, keine Dank­barkeit, keine Verneigung vor Bruder Tier und Bru­der Pflanze, keine Ehrfurcht vor dem Göttlichen, sondern Zerstörung der Natur, Vereinsamung der Menschen, Quälerei der Tiere, Sinnlosigkeit des Daseins, Verlorensein an die Arbeit, was reziprok ist zu dem Verlorensein ans Geld, an sinnlose Pro­dukte, an Bildung, die nichts als Nutzanwendung für all das oben Genannte ist. Wie könnte ich je­nem Indigenen der Khoikhoi oder der San, wie könnte ich Zhuangzi oder Buddha oder Christus klarmachen, dass wir nicht in der Höl­le sind?

Walter Thümler, März 2022

In der Steilwand

Der Titel des neuen Gedichtbandes von Michael Fruth, ENG. WEIT. HIER. NOCH, könnte die deutsche Lyriklandschaft charakterisieren, in die er ein markantes Wegzeichen einrammt. Der Autor ist bescheidener, nennt das Buch eine „poetische Autobiografie“, und doch ist diese nicht nur subjektiv und singulär, sondern repräsentiert zugleich Gesellschaftlich-Historisches und Allgemein-Menschliches. Der Titel des neuen Gedichtbandes von Michael Fruth, ENG. WEIT. HIER. NOCH, könnte die deutsche Lyriklandschaft charakterisieren, in die er ein markantes Wegzeichen einrammt. Der Autor ist bescheidener, nennt das Buch eine „poetische Autobiografie“, und doch ist diese nicht nur subjektiv und singulär, sondern repräsentiert zugleich Gesellschaftlich-Historisches und Allgemein-Menschliches. Die ersten drei Einsilber des Titels gewinnen durch den Punkt eine Härte und Prägnanz, die auf Existenzielles schließen lässt. Alle vier enthalten jedoch auch so viel Suggestivität, dass sich hinter jedem Definitionskreis neue Horizonte öffnen. Das Fehlen des Punktes nach „NOCH“ verweist auf solche Offenheit. Der Titel ist daher Programm nicht nur im Inhaltlichen, sondern auch bei der Kompositionsweise. Fruth folgt Ezra Pounds bekanntem Diktum „Dichten = condensare“, indem er in diesem Spätwerk Erlebtes auf seine Essenz zurückführt, sprachlich, bildlich, emotionsbezogen, wobei die Narrativität einer Autobiografie auf Blitzlichtaufnahmen einzelner Szenen, Erinnerungen und Eindrücke reduziert wird. „In der Steilwand“ etwa beschreibt die von einem Haus nach der Bombardierung übrig gebliebenen Trümmer: „Darunter ragte ein Rest vom Boden, / aus dessen Kante Stroh hervorkam / und aufgewelltes Stragula, / Platz für ein Paar Schuhe und / einen, der sehr aufrecht steht“. Dieser Schluss verschlägt einem den Atem, wie überhaupt viele der Gedichtabschlüsse an die Wucht der Coda-Couplets von Shakespeare-Sonetten erinnern. Die Angst vor dem Absturz, dem passionierten Bergsteiger Michael Fruth wohlbekannt, erfasst hier das ganze Leben, die ganze Kunst.

Fruth ist in der anglo-amerikanischen Dichtung zu Hause, und seine Verwendung von Freivers und open form lassen einen oft an die amerikanische Tradition seit William Carlos Williams denken. Hierzu gehört die Vorstellung von Dichtung als nicht abschließbarem Prozess. Fruth revidiert seine Texte immer wieder, selbst wenn sie bereits publiziert wurden: seine Internet-Lesung beim Leipziger Literaturverlag wich an vielen Stellen von der gedruckten Fassung ab. Wie um dieses Prinzip zu illustrieren, enthält der vorliegende Band zwei Versionen desselben Gedichts, „Nachfolge“, einmal in knapperer Form im ersten Teil, „ENG.“, im Kontext von Familie, Herkunft, Nachkommen; zum anderen etwas ausführlicher im Schlussteil, „NOCH“, im Kontext von Tod und Vergänglichkeit. Beide Male ist die Platzierung plausibel.

Kindheit, die erste „Station“, beginnt bereits mit der unehelichen Zeugung, die „in alchemistischem Eifer/ einen Fremden mit fremdem Geschick“ schafft, dazu eine schwierige Mutterbeziehung, auch die unausweichliche Vatersuche, einen Fremden, der die Unentschiedenheit der Mutter potenziert, sich „in diese Mischung aus Ja und Nein / in jener nicht mehr jungen Frau“ zwängt. Der Lebensbeginn wird im Titel des ersten Gedichtes „bezeugt“: die Identitätssuche wird zu Thema und Text. Wie Kurt Vonnegut als junger Kriegsgefangener erlebt der Autor als Einjähriger die Bombennacht von Dresden. Mit dem Gedicht „Slaughterhouse“ spielt er auf den großen Anti-Kriegsroman des Amerikaners an. Dessen nivellierender Kommentar zu jedem erzählten Todesfall, „so it goes“, findet hier ein Äquivalent im Takt des Maschinengewehrfeuers der Tiefflieger: „dein Leben und deins ist weniger wert als / dasdasdasdasdas. / Und das“. Auch die kindliche Angst im dunklen Kohlenkeller wird erinnernd lebendig, „Nicht nur, wenn ein besonders / stumpfes Schwarz erscheint / wie neulich abends am Berggrat // im klobigen Karst der Fleck / aus weicher Erde, so sinnlos / weit über höchstem Grün“; sie wird hier aber zugleich in ein Gemälde aus Farben, Alliterationen und Assonanzen sublimiert, wie sie immer wieder in diesem Buch erstehen.

Die epigenetische Forschung hat gezeigt, dass frühkindliche Traumata später nicht etwa Ängstlichkeit, sondern Risikobereitschaft hinterlassen. So mag man schließen, dass Fruths Weg vom Dresdener Feuersturm über das Berlin der Kindheit notwendig in die Abenteuerreisen späterer Jahre geführt hat: ein Jahr auf der Panamericana, jener längsten Straße der Welt, die den amerikanischen Doppelkontinent von Alaska bis Feuerland verbindet, drei Jahre in Indien, wo die Begegnung mit dem Fremden zur Erkundung des fremden Selbst werden sollte, dazu andere Länder, die ihre Erinnerungsspuren hinterlassen. Dies ist das Thema der zweiten Station, „WEIT.“, deren Titelwort verbatim und metaphorisch zu verstehen ist. Bei den Gedichten, die die Erinnerungen an Indien aufgreifen und transformieren, steht nicht der Poona-Aufenthalt des Dichters im Mittelpunkt, sondern die Begegnung mit den Obdachlosen, den Entstellten, den Leichenverbrennungen, aber auch, humorvoll und selbstironisch, mit dem Abjekten, wenn in dem die Yoga-Studien parodierenden Gedicht „Unterweisung“ der Besuch einer Bahnhofstoilette geschildert wird: „wo der Einbein-Stand mit Rückenbeugung / und Spreizknie so lang zu halten ist, / dass man ums Gleichgewicht kämpfend / manchmal den schwebenden Fuß / so hastig senkt, dass beim Auftreten / die stinkende Brühe hochspritzt; / dort wurde für billiges Entgelt / die wahre Achtsamkeit gelehrt“. Das Schockierende, Erschreckende, Furchteinflößende dringt immer wieder aus der Erinnerung herauf – Raub, Tierquälerei, Ungeziefer, aber auch die Schönheit und Unergründlichkeit der gesehenen Landschaften, wie in dem als durchlaufende, einzige Spalte gedruckten, fast interpunktionslosen Gedicht über die „San Andreas Fault bei Point Reyes“. Die formale Raffinesse, zum Beispiel der Verzicht auf Kommata (wie etwa bei William S. Merwin), lässt Ausdruck und Aussage zusammenfließen, wie in der Apokoinu-Konstruktion „Angeblich bewegt man sich / vorwärts und gleichzeitig / wächst irgendein Gegenteil mit / jedem Verlust und Verzicht / läuft eine zweite Zeit / weiter und ab“.

Das Verhältnis von Erleben, Zeit und Erinnerung bestimmt das ganze Buch und somit auch die dritte „Station“, HIER. Es wird zum poetologischen Programm: „Einen Stein werfen / in sandige Zeit ein Netz / in die Trockenheit / dass es hallt oder / knistert und ruht …“. Dieser Teil widmet sich dem Thema des Wurzelschlagens, zum Beispiel dem Ankommen des Autors in Oberbayern, wo er seit langem lebt (in der Nachbarschaft einer Sprache, der er 1980 in den zusammen mit C.-L. Reichert verfassten, großartigen Mundartgedichten von Ois Mindnand ein Denkmal gesetzt hat). HIER. weist immer wieder solche Hinführungen zur eigenen Praxis auf: „Bis der Morgen / die Dinge einzeln / benennt und verkennt“, oder „Worte zu suchen zumindest / für die schnelleren höheren Wolken … und für den Mittelpunkt / einer Leere, bevor er / gerinnt zum Ding / mit Namen“. Die schwebenden Zeilenbrüche verstärken die Spannung zwischen, wie goethesch gesagt wird, Dauer und Wechsel, zwischen Erinnern, Assoziieren und Benennen. Hier, in der bayerischen Landschaft, mischen sich andere Dimensionen ein. So in „Zeitmaße“: „Nichts als / der Takt des Felslebens / ist geblieben, der uns / gelassen übergeht“ – Zeilen, deren Rhythmus die erste Duineser Elegie aufruft: „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen.“ An die Stelle des Exotisch-Fremden ist hier das Fremd-Vertraute getreten, nicht minder schmerzlich – „Eingedampftes Erleben … / … Es trägt bitter am Versagen und Entsagen“ –, aber im Angesicht des Erhabenen, Zeitlosen und sich dennoch Wandelnden – „Fels lädt Flechten ein wird Nahrung / wird Staub wird Stein“ – wirkt „Dichtung als Ampelschaltung / im Gedankengetöse“ („Bodensatz“) nahezu hilflos, als menschengesetzte, fast vergebliche Ordnung. Zu den kräftigen Naturbildern (Fruth ist auch Maler und hat wundervolle Naturfotografien geschaffen) gesellt sich „Das Leben der Dinge / die sich selbst gehören“: „Ein Hausschuh / die Nase zum / Schnabelschuh gekrümmt“. Auch diese werden zum Übergang, zur Schwellenerfahrung im wörtlichen Sinn: „Wirst dich später / nur erinnern an / die Schwelle mit Schuh / und die Klinke mit Hand“.

Damit sind wir im Übergang zur letzten Station, NOCH, die, wie der Umschlagtext signalisiert, „Nahtod & Sterben“ thematisiert. Nicht nur das Sterben von nahen Angehörigen – „Er schaut von unten / auf mich herab, / drei Finger winken / meiner Hand“, sondern auch das Massensterben am 11. September 2001 oder in Srebrenica, gar im Holocaust, in Fotografien vermittelt. Dabei überlagern sich fremdes und eigenes Erleben, und immer wieder in diesem Buch auch fremde und eigene Texte, wie in „Überlagert“: „Botho Strauß, wie er / Robinson Jeffers hochleben lässt, wie / der / seine Frau vor dem Haus … sitzen / sieht, /die ihren Tod in sich wachsen spürt wie / ein Kind … so sehe / ich / meine Frau in diesem Sommer, wie / sie nacheinander / den Sohn / den Bauch / die Hände / die Zartheit und / den Augenblick abstreift“. Verlusterfahrung und literarische Verlust-Versprachlichung stellen diese Gedichte in eine intertextuelle Reihe, durch die sich der Autor als im Gespräch mit der (nationalen und internationalen) literarischen Tradition befindlich bekennt. „Das Verrückte bei / dieser Zugfahrt durch die Zeit sei, dass sie / stehen bleibt, kaum dass man aufspringt“. Zeit, Raum und Figuren, wie in einem Drama, machen dieses Buch zu einem denkwürdigen Erlebnis.

Michael Fruth: Eng. Weit. Hier. Noch : Gedichte. Leipzig: Leipziger Literaturverlag, 2021. 104 Seiten, 19,95 Euro. ISBN 978-86660-269-4

TONTICS SEGEN DES EXILS

DIE WUNDER DES SPÄTEN SOMMERS

Stevan Tontic, der wohl bedeutendste serbische Dichter der Gegenwart, ist plötzlich verstorben. Er war mein langjähriger Wegbegleiter und Freund. Nein, ich kann keine Lobrede post mortem für liebe Menschen schreiben, denn bei solch einer Rede dringt stets auch ein Fünkchen Eitelkeit der Lebenden durch. Er schrieb über mich und ich schrieb über ihn. Anstelle von in memoriam überliefere ich lieber ein paar Fragmente, die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte unseres Lebens aufgeschrieben wurden.

Die Chronisten der Belagerung von Sarajevo vergessen nie, die Tatsache zu erwähnen, dass die Koryphäen dieses schändlichen Attentats auf die Stadt serbische Schriftsteller waren. Da aber das Böse immer eine durchdringendere Stimme hat als das Gute, erwähnen heute nur wenige Menschen jene brillanten serbischen und kroatischen Schriftsteller, die sich dieser wahnsinnigen Plage widersetzten, nur noch wenige erinnern sich an die, die sich gegen den Ruf der Kriegsposaunen und die Perversion des Tötens auflehnten. Solche Leute waren auf allen drei brüderlichen Seiten das Ziel nationaler Verfluchungen, doch sie verteidigten eigentlich die Zivilisation, nämlich civis Sarajevo – die Bevölkerung; sie waren in den entscheidenden Momenten der einzige Beweis dafür, dass die Stadt überleben und fortbestehen kann, denn die Stadt war schon immer ein Ausdruck von Pluralität, Vielfalt und ein Mittelpunkt größter kreativer Potenziale des Menschen. Ihretwegen, dank dieser paar Menschen, dachte ich oft, ließ das westliche Bündnis die im Krieg vorbereitete Teilung des Landes nicht zu, weil gerade sie es waren, die in der Defensive der Zivilisation standen, an der Schwelle, die die Kultur von der Barbarei trennt.

Einer von ihnen ist der Dichter Tontic (Grdanovci, Sanski Most, 1946). Dichter, Prosaautor, Essayist, Redakteur, Anthologist, Übersetzer aus dem Deutschen. Tontic studierte Philosophie und Soziologie in Sarajevo. Anfang 1969 war er für kurze Zeit Chefredakteur der Studentenzeitung Naši dani und später Mitglied der Redaktion der Jugendzeitschrift Lica. Mitte der 1980er Jahre wurde er Chefredakteur der Zeitschrift Život, und am längsten arbeitete er als Redakteur beim Verlag Svjetlost. Den Zeitraum von Mai 1993 bis Ende 2001 verbrachte er im Exil in Deutschland, dann ließ er sich wieder in Sarajevo nieder, wo er heute als freiberuflicher Schriftsteller lebt. So lautete eine kurze und trockene biobibliografische Notiz. Aus ihr geht nichts vom Drama eines in die Literatur hinein wachsenden Lebens hervor, so wie auch die Literatur selbst oft, in Sehnsucht nach der reinen Form, die zahlreichen Nebenarme und Gänge des Lebenslabyrinths übersieht.

Das poetische Werk Stevan Tontics entstand und pulsierte in einem Zeitraum von fast vierzig Jahren, seit Beginn der siebziger Jahre, als sein erstes Buch veröffentlicht wurde, bis heute, wo der Autor sozusagen in voller Schaffenskraft und auf dem Höhepunkt seines kreativen Könnens stand. Zehn Gedichtbände sind nicht viel für vier Jahrzehnte, sieht man es vom Standpunkt moderner Textproduktion aus, aber es geht hier um ein Prinzip der Strenge und eine ihm eigene Ökonomie des Ausdrucks; Tontic reihte sich vom ersten Moment an als ein Priester der Poesie ein, der das Schreiben von Versen als eine spirituelle Erfahrung ersten Ranges betrachtete, und der, wie es der Titel eines seiner frühen Bücher ausdrückt, mit einem Gedicht „lästert und heiligt“.

Diese Heiligsprechung durch Lästerung erinnert uns an den magischen Baudelaire, aber in einer modernen Tonart. In Tontics ersten Büchern dominieren Töne von Zynismus und Ironie, die diese „Wissenschaft der Seele“ prägen und abrunden, diese „lustigen Geschichten“ über die Eitelkeit und Absurdität unseres sterblichen Daseins. Die Poesie trug sich als eine „geheime Korrespondenz“ zwischen Engel und Teufel zu. Seine Verse streben nach Kunstfertigkeit, scheuen aber nicht die Realität. Obwohl er informell zur Gruppe der „Schicksalhaften Jungen“ gehörte, unterschied sich Tontic von den meisten von ihnen durch seine große Gelehrsamkeit und sogar durch seine spezifische „Salon“-Kunstfertigkeit. Er etablierte sich zudem als glänzender Kritiker, Anthologist und Intellektueller, dessen diskursives Engagement seine Poetik und Poesie begleitete und „ergänzte“, die jederzeit bereit war, zu überraschen und zu schockieren. Von Anfang an zog der Autor die Aufmerksamkeit der Literaturkritik auf sich und seine Bücher wurden mit bedeutenden Preisen gekrönt.

Seine poetische Metamorphose erlebte Tontic im Kriegs-Sarajevo, wo er ein Jahr verbrachte. Die Realität des Mangels und die Landschaft der Verwüstung fließen in seine Verse ein, aber sie umreißen noch deutlicher den Glanz des Humanismus, „Glanz und Wunde“, wie der Dichter Veselko Koroman sagen würde. Zu Beginn der Belagerung Sarajevos schrieb Tontic einen Brief an die Stadt Belgrad, und die Worte dieses Briefs klingen noch heute kraftvoll wie ein Psalm: „Unsterbliches Belgrad! Ich flehe dich an, mit den Tränen einer halben Million Einwohner Sarajevos, dass du dich sofort, zu dieser Stunde, entscheidest, die Stadt Sarajevo zu retten. Wenn die Stadt Sarajevo stirbt, liebes Belgrad, dann wird sich die Schlinge des Hasses und Untergangs um dich zusammenziehen“ (Književna rec, Juni 1993). Das kriegerische Belgrad hörte jedoch nicht auf die Stimme Tontics, sondern auf die von Karadžic, Nogo und Crncevic. Deren Scheltrede, serbische Mütter hätten sich an der Niederlage der Serben schuldig gemacht, „weil sie sich äußerst unpatriotisch verhielten und feige ihre Söhne versteckten, da sie nicht bereit waren, sie für das Serbentum in den Tod zu schicken“, kommentierte Tontic, indem er sagte, er bezweifle, dass „jemals irgendwo in der weißen Welt eine solche Anklage aus der Feder eines Dichters kam“.

Mit seinen Nachbarn, vorwiegend Bosniaken, verbrachte er das erste Jahr der Belagerung und schrieb Verse, in denen die Güte triumphiert, in denen der „Akt gefesselter Hände“ verherrlicht wird, die Pracht des Mangels im Angesicht des Todes. Sein ironischer Ton ging verloren und verwandelte sich in eine Art Frömmigkeit und Reue. Im Buch Handschrift aus Sarajevo, sagt Jasmina Lukic, „wird die Stimme desjenigen wahrnehmbar, der nicht damit einverstanden ist, dass er höher oder niedriger taxiert wird, statt ihn als das zu definieren, was er ist: ein Mann, allein, mit einem Namen und nur einem einzigartigen Leben im Chaos des Krieges“. Diese neue „Beschreibung“ der Realität bei Tontic ist auch der Anfang einer Poetik der Verzweiflung und Resignation über die Welt und den Menschen, der, wie der Dichter in einem Gespräch sagte, ein „kosmischer Exzess“ sei, „eine Spezies, die sich selbst zerstört“. Die Erfahrung eines serbischen Dichters in einer Stadt, die unaufhörlich von der serbischen (Para-)Armee mit Granaten beschossen wird, hat jedoch auch eine andere, weniger romantische Seite. Folgendes bezeugt der Dichter über diesen Kreuzigungszustand in seinem essayistischen Text „Kriegs-Antikriegs-Brief“:

„Als mir bald klar wurde, dass diese Hölle, in der wir gelandet sind, andauern würde, und dass auch ich selbst ein ziemlich sicherer Kandidat für den Tod war (so wie jeder Bürger Sarajevos und, wenn Sie erlauben, als Serbe noch ein bisschen sicherer), musste ich in irgendeiner Weise mein Verstummen, meine absolute Hoffnungslosigkeit überwinden. Das heißt – versuchen, über sie Zeugnis abzulegen. Mindestens das, mindestens so viel. Wenigstens, um eine klare menschliche und dichterische Spur zu hinterlassen. Damit jeder – wenn ich nicht mehr unter den Lebenden weile – sehen kann, wie ich mich am ,schrecklichen Ort‘ verhalten habe. Als Mensch oder als menschlicher Lumpen, als Dichter oder als Lobgesang mörderischer Heldentaten. Als Persönlichkeit, die den Kern ihrer Menschlichkeit und ihrer Sprache (doch unzerstörbar!) verteidigte, oder als Verräter an seinen Freunden und an sich selbst, als Verräter am Schönsten in uns. Als ehrlicher und glaubwürdiger Zeuge der Schrecken und dieses ganzen Menschheitsdramas in höllischer Erpressung und Todesbedrohung, oder als Lügner und verkaufte Seele, als letzter propagandistisch verwertbarer Wicht.“

Im belagerten Sarajevo veröffentlichte Tontic im Juni 1992 in der neu aufgelegten Zeitschrift Zemlja einen Artikel mit der Überschrift „Serbe sein“, der Missverständnisse und Zorn bei seinen besten Freunden auslösen und eine bezeichnende Verurteilung des Autors heraufbeschwören sollte. In diesem Text spricht er über Schicksal und Fluch nationaler Zugehörigkeit, tritt aber dafür ein, dass keinerlei Verbrechen auf dem Rücken der Gemeinschaft lasten dürfe. Von seinen Nachbarn als Kollaborateur verdächtigt und von den eigenen Landsleuten zum Verräter erklärt, appelliert er an die Liebe, wohl wissend, dass die Macht der Worte in unruhigen Zeiten nur ein Mittel zur Rettung der eigenen Seele ist. Er sagt in seinem Text, dass die Todsünde und das Versagen der serbischen Politik ein Pakt mit Hochmut und brutaler Gewalt seien, verkörpert durch die Jugoslawische Volksarmee (JNA). Er verurteilt den serbischen Militarismus, analysiert aber auch das Versagen der bosniakischen Politik, erwähnt die Schikanen seiner Landsleute, die in der Stadt geblieben sind und kommt zu dem Schluss: „Ja, es ist wirklich schwierig, ein Serbe zu sein, meine Herren Serben. Erst recht in Sarajevo. Aber es ist immer noch am schwersten, ein Mensch zu sein. Und das ist das Einzige, was Sie tun müssen. Wie sterben. Und jeder Mann – sofern ihm dies vergönnt ist – kann anständig leben und sterben und als – Serbe.“

„Logisch: Ich wurde als Verräter angegriffen und verleumdet, als Diener der muslimischen Regierung in Sarajevo, kein Serbe und dergleichen. Auf der anderen Seite, für die ich eine Art „Dennoch-Serbe“ geblieben war, wurde ich sogar von Freunden als Verteidiger der Cetniks und der Cetnitet (oder Republika Srpska) verleumdet, kein bosnischer Patriot und so weiter. In ähnlicher Weise wurden auch alle anderen (aus allen drei Welten, Völker-Lagern) angegriffen und beschuldigt, die sich nicht als Trompeter des Hasses und Propagandisten des Krieges anheuern ließen; eines Krieges als mächtigstes Mittel der Rassenhygiene, als Mittel der radikalen (in einem Blutmeer) moralischen Wiedergeburt der Nation“, sagt er in dem oben genannten Essay und betont, dass die freiwillige Vertreibung oder das Exil die einzige Rettung sei.

Seine nächste Phase wurde von der Erfahrung des Exils bestimmt, dem „Segen des Exils“, wo sich der Dichter in einer Oase und an einem vor den Schergen sicheren Zufluchtsort seiner Nostalgie und Trauer um die verlorene Geliebte und um die Heimat hingab. Besonders berührend und großartig sind Tontics Liebeselegien, in denen er schreibt, dass er seine Geliebte „von den Schlachtplätzen“ fort trägt, und wehklagt, denn „sie haben mich von Jener getrennt, die ich atme; Todeslieder stottere ich, ohne meinen Himmel und ohne Gestalt“. Im Exil erkannte er, wie unterschiedlich sich die Erfahrungen der Geflüchteten und derjenigen, die in der Heimat geblieben waren, darstellten:

„Ein Mann mit enormer Kriegserfahrung und ein Mann, der den Krieg nicht gekostet hat – sie sind zwei verschiedene Wesen. Wesen, die einander kaum verstehen können, nie voll und ganz und nie bis zum Ende. Das Erlebnis der Kriegsgräuel verändert unsere Grundvorstellungen von der Gesellschaft und vom Menschen, von uns selbst, es stellt das gesamte ,Weltbild‘ auf den Kopf, das in einer Zeit des Friedens und naiver Zukunftsprojektionen errichtet wurde. In der Tollwut eines organisierten, mörderischen, alles zerstörenden Wahnsinns zerfällt all das sofort zu Staub und Asche. Dann gilt es, nicht nur das nackte Leben, sondern auch den Lebenswillen zu bewahren, Geist und Sprache gegen völlige Lähmung und tödliche Hoffnungslosigkeit zu verteidigen. Und das Wichtigste: die eigene Seele nicht an den Teufel zu verkaufen. In absoluter Hoffnungslosigkeit kann man nicht denken und nicht einmal schreiben. Nicht träumen, nicht lieben, nicht singen, nicht atmen.“

Im Exil, dem Paradies seiner Hölle, um mit einer Ujevic-Metapher zu sprechen – ist der Dichter damit konfrontiert, vor einer Wüste zu stehen. Die Welt, die ihm Zuflucht bot, ist nicht seine Welt.

Obwohl er sich als Dichter auch auf Deutsch behauptete, der Sprache seines Exils, wo er eine Reihe bemerkenswerter und von dortigen Kritikern hochgelobter Bücher veröffentlichte sowie mehrere sehr angesehene Literaturauszeichnungen erlangte, träumte er unaufhörlich davon, zu seiner Sprache zurückzukehren, in das Haus seines Kampfes: „Wozu das Leben, wenn ich ein Dichter bin, dem sie die Sprache wegnehmen und vernichten? In der Sprache liegt der Kern, die ganze Kraft und das gesamte Kapital meines zerbrechlichen, noch zu Lebzeiten entwerteten, gleichsam ermordeten Wesens. Und zwar nicht in der Sprache als praktischem Mittel zur Verständigung und Erhaltung der Existenz, sondern in der Sprache als Medium der wahrsten und edelsten, überdies testamentarischen Weisungen und Offenbarungen des Geistes. Der Sprache als bester, sicherster Hüter der gesamten menschlichen Inkarnation in Schönheit, Wahrheit, aber auch im Schrecken des Daseins, als Zeuge jedes bedeutenden Augenblicks aus Leben und Tod, für alle Zeiten.“

So wurde seine Poesie von einer deutschen Zeitung bewertet: „Mag sein, dass diese Strophen auch durch den Kontrast zu der zuvor blutleeren poetischen Umgebung Deutschlands an Durchdringung gewinnen, wo sie wie einsame Felsblöcke wirken, fast unheimlich in ihrer Düsterheit. Darin sind sie der Dichtkunst Paul Celans verwandt, ihrer Tiefe und dunklen Melancholie. Es kommt selten vor, dass uns Gedichte schon beim ersten Lesen im wahrsten Sinne des Wortes erschüttern. Tontic gelingt diese Meisterschaft mit leichter Hand“ (Berliner Morgenpost, 1998).

Ende 2001 verließ Tontic Deutschland nach neun Jahren und ging nach Sarajevo zurück. Diesmal steckte er wie alle Rückkehrer dauerhaft zwischen zwei Welten fest. Unmittelbar nach seiner Rückkehr sagte er mir in einem Interview mit BH Dani, dass er zum Zeitpunkt seiner Abreise nicht geglaubt hatte, jemals wiederzukommen. „Allerdings habe ich nie öffentlich gesagt, dass ich nie zurückkehren würde, weil mir eine solche Aussage etwas unhöflich erschien. Aber in der Stunde, als ich aus dem Höllenkreis herauskam, war ich bereit, nach Grönland oder in die Wüste Gobi zu gehen, nur um Frieden und halbwegs Sicherheit vor zügellosen Landsleuten zu finden – Kriegern, die in den Wahnsinn totaler Verfolgung eingespannt waren und alles niedermetzelten, was nicht auf ,unserer‘ Seite war“. 2014 zog er nach Novi Sad und das war sein letzter irdischer Umzug.

Bei der Nachricht seines Todes erinnerte ich mich an sein Gedicht Grab, das ich hier vollständig wiedergebe:

Auf einem Plateau, bitte

auf einem Plateau,

in klarer Erde,

im geklärten Sternbild.

Im Niemandsland

in klangvoller Leere,

rein von Heimat,

rein von Geschichte.

In Zweiheit mit Jener

die ich liebte

solang ich hier war –

in unerträglicher Freude der Zweisamkeit.

In einem Kristall ohne Namen,

ohne Eigentum.

Zwei Eisberge

in einer Eiskluft

unterm blauen Himmelstuch.

Im klaren Sternenfeuer. Im Abgrund.

Uns gehörend. Ganz bei uns.

Ins Deutsche übersetzt von Cornelia Marks

Bücher von Stevan Tontic im Leipziger Literaturverlag:

Meine Zeit leise

Des Alltags Zeiger tickt sein leise Allegretto

auf weichen Bogen legt der Geiger ruhig seine Hand,

spielt Takt für Takt, spielt wiederholt Punktierte,

streicht zart die Fingerkuppen über rot-braunen Lack.

Übt Sequenzen, stündlich, übt Tonleitern minutiös.

Ordnet langsam Dreiklänge, Frequenzen.

Ängstlich folgt er dem schlagenden Puls,

ein stiller Sonnenstrahl erhellt das Rondell.

Nicht lesbar mehr ist die Sunde, die schnell

immer leiser vergeht, dann vernimmt er nur

noch ein Klopfen, das ihn narrt und folgt

den letzten Klängen, die nicht greifbar erklingen,

zu diffus, um in nahen Korridoren und Gängen

der Sille Drängen zu folgen. Und plötzlich

erklingt im Holz, im Echoklang, im Widerhall

ein Holzwurm, der das Klopfen bang dirigiert.

erst kommen die versteppungen dann die verwüstungen

die spielenden augen der kinder
das gras war schon fort

das zittern in der stimme
kommt von den einschlägen
erklärt er uns
in der stadt wächst die angst


fluchtgedanken nur wenige
wollen bleiben und sterben

es ist ein bisschen wie früher
im winterkrieg
nur dass der schnee langsam taut
die angreifer einmal brüder und schwestern waren

der wald bietet keine
verstecke mehr

sagt er uns und wendet den blick
zu boden
der einmal muttererde hieß
und alle ernährte

wir könnten singen schlägt er uns vor
aber das hilft nicht gegen sterben

und auf einmal singen wir
vom himmel über den kornfeldern
von den kosaken
die ihre mädchen verließen

falken flogen über die dörfer
und schlugen tauben

schöne hinter den bergen hinter dem meer
leuchtet die freiheit
und die augen der kinder spielen weiter
mit dem lange verschwundenen gras

Drehpunkt im endlosen Meer

Nur den Abschied im Blick gehabt,

viel zu lange.

Zeit floss dahin, umfloss den Felsblock mitten im Strom.

Mitte hat keine Ausdehnung. Hätte sie eine, gäbe es die rechte, die linke, die obere, die untere, die vordere und die hintere Mitte.

Der Strom fließt von Pol zu Pol. Brächte man die Pole zusammen, erstürbe Bewegung.

Rasender Stillstand:  erstorbenes Drehmoment einer dimensionslosen Kugel.

Doch Kraft beschleunigt Dinge stets  linear.

Herz umhüllt Mitte, wird zu ihrem Abbild. Es gleicht, ohne selbst zu sein.

Schläge markieren Dauer, erschaffen Umgrenzung.

Grenzland bleibt Drehpunkt im endlosen Meer gleich gültiger Begehrlichkeiten.

die wanderbewegungen des todes

stimmen wandern
und die tiere ihnen voraus

die auf einer bahre getragene
stimme des todes
durch das tor betrat sie die stadt
ging betteln in allen straßen
bis die menschen ihr gaben
alles geld allen reichtum alles glück der welt

aus dem land der löwen
zogen löwenmenschen nach norden
in kalksteinhöhlen in einem kalten land
zu den bären und tigern
den rehen hirschen und eisvögeln
jagten sie den schnee

in die weiche haut des todes
sinken stimmen

Geising

Die Häuschen in der Talsohle

Werden überragt von Gebäuden : die einst

Das Wohnungsbaukombinat Cottbus

Errichtete : Jungpioniere

Aus dem Norden kehren im hohen Süden

Ein : an der Bergscheide des Zinnwalds

Sich paarweise hochziehen

Zu lassen : die Füße im Schnee

Bewaffnet mit Brettern : die Spaß

Bedeuten : von oben hinab

Sausen wir : bis ich dich aus den Augen

Verliere : kleiner roter Punkt

In der Landschaft : der zum Pünktchen

Wird : da sause ich hinterher 

Unten treffen wir uns wieder : um wieder

Von vorn zu beginnen : bis die Fichten

Den Schnee abschütteln wie fleckige

Hunde : unterm Schnee die Kuhweide

Hervorblinzelt : patschig zertreten

Auch das Glitschgeräusch bereitet dir Spaß

Und du bewirfst mich mit Bällen aus Matsch 

Alberiche sind wir

„Und welche Kräfte gibt es in der Welt, die sich Alberich, unserem Zwerg, in seiner neuen Rolle als eingeschworener Plutokrat widersetzen könnten? Schon bald ist er dabei, die Macht des Goldes auszuüben. Für seinen Gewinn sind Horden seiner Mitmenschen fortan dazu verdammt, über und unter der Erde elendig zu schuften, mit der unsichtbaren Peitsche des Hungers an ihre Arbeit gefesselt. Sie sehen ihn nie, ebenso wenig wie die Opfer unserer „gefährlichen Berufe“ die Aktionäre sehen, deren Macht dennoch überall ist und sie in den Untergang treibt. Gerade der Reichtum, den sie mit ihrer Arbeit schaffen, wird zu einer zusätzlichen Kraft, die sie verarmen lässt; denn so schnell, wie sie ihn schaffen, gleitet er aus ihren Händen in die Hände ihres Herrn und macht ihn mächtiger denn je. Sie können diesen Prozess heute in jedem zivilisierten Land selbst sehen, wo Millionen von Menschen in Not und Krankheit schuften, um mehr Reichtum für unsere Alberichs anzuhäufen, und dabei nichts für sich selbst zurücklegen, außer manchmal schreckliche und qualvolle Krankheiten und der Gewissheit eines vorzeitigen Todes. Dieser ganze Teil der Geschichte ist erschreckend real, erschreckend gegenwärtig, erschreckend modern; und seine Auswirkungen auf unser soziales Leben sind so grässlich und ruinös, dass wir nicht mehr genug vom Glück wissen, um uns daran zu stören. Nur für den Dichter mit seiner Vision von dem, was das Leben sein könnte, sind diese Dinge unerträglich. Wären wir ein Volk von Dichtern, so würden wir ihnen noch vor dem Ende dieses elenden Jahrhunderts ein Ende bereiten. Da wir aber eine Rasse von moralischen Zwergen sind, halten wir sie für höchst respektabel, bequem und anständig und erlauben ihnen, sich zu vermehren und ihr Übel in alle Richtungen zu tragen. Gäbe es keine höhere Macht auf der Welt, die gegen Alberich vorgehen würde, wäre das Ende der Welt die völlige Zerstörung.“

Bernard Shaw, Der perfekte Wagnerianer

Dämmerung

„Wir müssen sterben lernen, und zwar sterben, im vollständigsten Sinne des Wortes; die Furcht vor dem Ende ist der Quell aller Lieblosigkeit, und sie erzeugt sich nur da, wo selbst bereits die Liebe erbleicht. Wie ging es zu, daß diese höchste alles Lebenden dem menschlichen Geschlechte so weit entschwand, daß dieses endlich alles was es tat, einrichtete und gründete nur noch aus Furcht vor dem Ende erfand? Mein Gedicht zeigt es.“

Richard Wagner, Brief an August Röckel, Zürich, 25. Januar 1854

Das Ende der Willkür

Als sich der neue König die Krone aufs Haupt setzte, blickte er mit einem Auge auf die Schar der Diener zu seinen Füßen im Saal, die sich, bis die Nasenspitze den Boden berührte, vor ihm verbeugten. Sein anderes Auge ließ den Blick aus dem Fenster schweifen ins weite Land, das nun sein Reich war. Ohne Grenzen erschien es ihm, ihm ergeben, bis zum Horizont, das Volk eine konturlose, knetbare Masse. Seine Fähigkeit, beide Augen verschieden auszurichten, war bemerkenswert: bei gemeinen Menschen wurde sie verächtlich „Silberblick“ genannt, bei ihm galt sie als Indiz eines schlauen Strategen. Er saß noch nicht lange auf den Thron, war dennoch kein junger König, sein verbliebenes stummelkurzes Haar war schon ergraut. Eine Glatze bedeckte die größte Fläche des Schädels. Er hatte bis zur Abdankung seiner Vorgängerin, der Großen Königin, als Schatzmeister gedient. Berühmt geworden war er durch legendäre Ankauf-Verkauf-Geschäfte: Er kaufte den einen drückende Schulden ab und verkaufte die Schulden meistbietend an Superreiche, die damit ihre Steuerlast mindern konnten. Ein Super­deal des Super-Schatzmeisters der alten, schon etwas schwächlich und kurzsichtig gewordenen Königin. Auf diese Weise konnte er trotz Steuersenkung den Staatsschatz steigern und die Superreichen im Reich behalten. Als er nun endlich den Thron von seiner Vorgängerin erbte, be­merkte er, daß sein geliebtes Volk von einer sozialen Krise geschüttelt wurde: einer gras­sierenden Wohnungslosigkeit. 

Tatsächlich besaßen etwa 100 Familien 100 Millionen Wohnungen, die sie an die Wohnungslosen vermieteten. Weil aber die Zahl der Vermieter auf eine derart überschaubare Größe geschrumpft war, hörte die Konkurrenz auf. Sie buhlten nicht mehr um Mieter, sondern die Mieter standen Schlange, um sich auf eine Wohnung oder auch nur ein Zimmerchen zu bewerben. Die Mieten schossen in die Höhe, überstiegen erst ein Zehntel des durchschnittlichen Monatslohns, dann die Hälfte.  Als die Mieter etwa drei Viertel ihres sauer verdienten Gehalts den von Monat zu Monat gierigeren Vermietern in den Rachen warfen, wurde die Mehrheit der Woh­nungslosen obdachlos. Sie konnte sich die Miete schlicht nicht mehr leisten.

Der neue alte König mit dem bestechend schlauen, einschläfernden Silberblick erinnerte sich an sein einstiges Erfolgsrezept: die Ankauf-Verkauf-Geschäfte. Ich muß nur die richtigen „Anreize“ setzen, sprach er zu sich, dann kommen wir aus der Krise, das garantiere ich. Also bot er allen Vermietern eine Prämie von 50’000 Talern für den Bau einer neuen Wohnung. Zugleich erkannte der raffinierte Fuchs, daß die Konzentration aller Wohnungen in wenigen Händen die eigentliche Ursache des Übels war, und versprach allen Vermietern, die Wohnungen unbewohnbar machten, eine Prämie von 36’000 Talern. 

Wunderbar. Es dauerte nicht lange – genauer gesagt, nicht einmal 24 Stunden nach Erlaß des legendären „Doppelanreiz-Gesetzes“ – bis die ersten Vermieter dem Vorbild ihres weisen, schiefäugigen Königs folgten und die Vorteile des Ankauf-Verkauf-Mo­dells für sich entdeckten: Sie bauten neue Wohnungen und kassierten Prämie 1, ließen sie leerstehen, indem sie die Baupolizei bestachen, die sie aus Brandschutzgründen für unbewohnbar erklärten, und kassierten Prämie 2, und vermieteten sie schließlich inoffiziell als Ferienwohnung zu überteuerten Preisen an Obdachlose, deren Miete der Staat übernahm. Auf diese Weise übertrumpften sie die Doppelanreizstrategie ihres alternden neuen König mit einem dritten Faktor. Die Zahl der Vermieter ging zurück auf die zehn schnellsten, die den dritten Faktor auszunutzen verstanden. Die übrigen 90 ehemaligen Vermieter reihten sich ein in die Masse der Wohnungslosen (damit waren die Menschen gemeint, die keine Eigentumswohnung besaßen, falls es der Leser noch nicht bemerkt hat.)

Die Mieter aber drängelten sich und bildeten endlose Schlangen, um auch in den Genuß einer der inoffiziellen Ferienwohnungen zu gelangen. Da kam dem Bauminister eine glänzende Idee, die er dem König für eine außerordentliche Spende ver­kaufte: Wäre nicht allen gleichermaßen gedient, wenn er per Definition diejenigen, die „nur“ eine Wohnung besaßen kurzerhand zu Wohnungslosen deklarierte, so daß auch sie sich bewerben könnten für die staatlichen Mietzuschüsse?

Ein geniales Modell. Die Verordnung wurde kurz vor Mitternacht erlassen und galt unanfechtbar vom nächsten Morgen an. Die frisch als wohnungslos Deklarierten, die noch eine Wohnung besaßen, durften sich sofort einfügen in die Masse der Wohnungssuchenden. Ihre eigene Wohnung ließen sie „freiwillig“ von der Baupolizei sperren. Die all­mählich versiegenden Steuergelder flossen in die Fördertöpfe und von dort geradenwegs auf die Konten der verbliebenen zehn Vermieter, die das Land noch hatte. Den König packte Ungeduld. Endlich müsse ihn das Volk einmal bejubeln für seine Fernsicht, Weitsicht und Umsicht. Obwohl er glaubte, die grassierende soziale Krise zum Wohle aller gelöst zu haben, versammelte sich das Volk auf der Straße. Nein, es brauchte sich nicht einmal versammeln, es war schon da. Denn die meisten Wohnungslosen waren nun obachlos geworden. Ein Sturm der Entrüstung fegte den König vom Thron.

Oder gar nichts

Aufstapeln, abräumen,

die Sorten trennen

des Windes vor gräulichem Gewölk.

Verbiestert die Korken

schließen nicht mehr

Hälse, voll von Trauer.

Es steigt in fein ziseliertem Kristall

der Ängste leichtes Brausen,

stürzt sich auf niemals vergorenes Mohnfeld,

ausreichend für 60 Generationen.

So ist das, und wenn wir nicht abhängig bestreiten

des Steingartens gärende Schwären,

erreichen euch niemals der Leere Verbünde.

Haltet aus,

nehmt Anteil und säget verwegen

am Ast, eurem Sitz!

Echo auf: Ilja Repins Bild „Unerwartet“

Es ist ein Nachmittag wie jeder andere, die Kinder des Hauses sind im Wohn-Esszimmer und machen ihre Hausaufgaben, die Mutter spielt Klavier und die Großmutter beaufsichtigt die Kinder, die ihre Hausaufgaben machen und nicht spielen, in diesem Moment geht die Tür auf, die beiden Hausmädchen lassen einen Mann herein, die beiden Frauen  befinden sich in einem Zustand der Wachsamkeit, eine Mischung aus Unsicherheit und Zweifel, ob es richtig war, den Mann hereinzulassen. Eine ältere Frau, bei der es sich wahrscheinlich um die Mutter des Mannes handelt, stand auf, um zu sehen, ob der Mann, der plötzlich hereinkam, ihr Sohn war, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Man kann sehen, wie ängstlich sie ihren vermeintlichen Sohn anschaut, man kann sogar erkennen, dass ihre linke Hand zittert. Auf dem Tisch, über die Tischdecke gelehnt, die, so wage ich zu behaupten, die Farben der Flagge der ehemaligen Sowjetunion trägt, steht ein kleines Mädchen, das den Gast mit ängstlichen, verstörten Augen anschaut, es könnte ihr Vater sein, ihr Onkel, ein Mann, den sie vielleicht noch nie in ihrem Leben gesehen hat. Rechts neben dem Mädchen sieht man das begeisterte Gesicht eines Jungen, der ihn im Gegensatz zu dem Mädchen zu kennen scheint, vielleicht aus den Erzählungen seiner Großmutter, Mutter oder Tante oder von einem Foto, das ihm eine von ihnen gezeigt hat. Im Hintergrund ist eine Frau zu sehen, anscheinend jünger als die andere, sie könnte die Frau des Mannes sein, der hereinkommt, oder seine Schwester, sie sieht ein wenig überrascht aus, ja, noch mehr als das, sie gibt uns den Eindruck, als ob sie sich selbst fragt: Was macht er hier? Wie kommt es, dass er so aus dem Nichts auftaucht? Wo war er die ganze Zeit über? Der hagere Mann mit den abgetragenen Stiefeln und dem etwas ramponierten Mantel hat Augen, die vor Erstaunen und scheinbarer Freude funkeln, und dieses Spiel der Blicke setzt sich  bei der älteren Frau fort, die seine Mutter sein könnte. Wir sehen auch einen Mann, der Furcht und Angst zeigt, dem der Stempel des Leidens und der Bewährung ins Gesicht gedrückt wurde.

Milagros de la Matta

Die jüngste Tochter am Tisch

Mama hat gemeint, ich solle jeden Morgen schreiben üben. Sie sagt, es sei wichtig, dass Mädchen Schönschreiben lernen und gut in der Schule sind. Paul diktiert mir immer Geschichten oder Briefe. Ich höre die Tür knarren. Paul springt hoch und schubst mich. Ich schaue böse zu ihm auf, aber er sieht mich gar nicht an. Warum freut er sich so? Ich drehe mich zur Tür. Da steht ein Mann und schaut Mama erschrocken an. Warum macht er so große Augen? Er sieht so alt aus. Und Mama guckt auch so erschrocken. Er sieht aus wie ein Bettler. Was will er bei uns zuhause? Wird Mama ihm Geld geben, wie den Bettlern auf der Straße? Soll ich ihm die neuen Socken geben, die ich gestrickt hab? Mama hat gesagt, wenn ich die fertig gestrickt habe, soll ich mit ihr mitkommen und sie armen Menschen geben. Aber ich bin noch nicht ganz fertig. Wird er froh sein, wenn er die bekommt? Es fehlen noch fünf Reihen. Nein, vielleicht auch nur vier. Warum weint Mama denn?

Anastasia Keller


Die Rückkehr

Ich habe mir ständig eingeredet, dass ich zurückkehre, obwohl ich es gar nicht vorhatte. Jedes Jahr habe ich zu mir selbst gesagt, wenigstens komme ich mal vorbei, um zu sehen, wie sich die Stadt verändert hat.

Zwanzig Jahre sind vergangen, und jetzt bin ich da. Dort, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin.

Ich habe die ganze Welt bereist. Ich war auf allen Kontinenten, außer in der Antarktis. Nach dem Studienabschluss habe ich mich dem Roten Kreuz angeschlossen und die Möglichkeit bekommen, Afrika zu sehen. Das ist etwas, was ich nie vergessen werde. Nicht nur weil die Natur einfach atemberaubend ist, sondern auch weil ich die andere Seite des Lebens in dieser Welt gesehen habe. Und leider ist sie nicht schön. Die andere Seite ist Armut, Not und Leiden. Zuerst konnte ich meinen Augen nicht glauben. Ich konnte einfach nicht begreifen, warum so viele Menschen in solch schrecklichen Verhältnissen wohnen müssen und warum es im 21. Jahrhundert noch Kriege gibt. Ich erinnere mich daran, wie ich Verwundete und Kranke behandelt habe. Ich erinnere mich daran, wie ich verwaisten Kindern Essen gebracht habe. Ich erinnere mich an ihre Augen und daran, wie sie mich gefragt haben, wann ihre Eltern zu ihnen kommen. Und nie konnte ich die Antwort geben. Ich habe es einfach nicht gewagt. Ich weiß nicht, ob sie sich an die russische Krankenschwester mit blonden Haaren noch erinnern, ob ich ihre Herzen berührt habe. Ich weiß aber, dass sie in meinem Herzen geblieben sind. Jedes Mal, wenn ich sündige, indem ich denke, das Leben sei zu schwierig und könnte doch ein bisschen besser sein, verbanne ich diesen Gedanken aus meinem Kopf. Ich habe doch alles bekommen, was ich mir je gewünscht habe.

Nach einigen Jahren in Afrika war ich in Europa. Ich habe die Zeit dort ganz ruhig verbracht. Sowas wie Partys, Bars oder Klubs hat mich eigentlich nie interessiert. Ich habe nie Alkohol getrunken, mich in Räumen, wo es viele Menschen gibt, immer unwohl gefühlt, und die moderne Musik, die alle so toll fanden, hat mir nie gefallen.

Ich war immer eine Außenseiterin, aber das hat mich nie gestört. War ich einsam? Die meiste Zeit. Habe ich darunter gelitten? Nie. Ich habe meine Einsamkeit genossen, ich habe sie geliebt.

„Einsamkeit ist Unabhängigkeit, ich hatte sie mir gewünscht und mir erworben in langen Jahren. Sie war kalt, o ja, sie war aber auch still, wunderbar still und groß wie der kalte stille Raum, in dem die Sterne sich drehen“.

So wurde meine Einsamkeit etwas, worauf ich auf keinen Fall verzichten wollte. Allein bin ich durch ganz Europa gereist, habe viele nette Menschen kennengelernt, gute Bücher gelesen und mir noch einige Sprachen beigebracht. Und ich habe nie aufgehört zu schreiben. Nur Papier konnte mich völlig verstehen und hatte immer Geduld mit mir.

Ich habe immer gedacht, diese Einsamkeit, die ich so geschätzt habe, war nur für mich. Und plötzlich hat es sich herausgestellt, dass man sie mit einem Anderen teilen kann. Die deutsche Sprache hat dafür ein wunderschönes Wort. Es war nicht mehr Einsamkeit, die wir geteilt haben, es war unsere Zweisamkeit. Mit diesem Menschen habe ich meine Reise fortgesetzt. Ich wollte die Welt sehen. Aber ich habe verstanden, dass ich sie nicht mehr allein sehen wollte. Ich wollte alle Eindrücke und Erinnerungen mit diesem einzigen Menschen teilen. Ich wollte, dass meine Notizen und Gedichte von ihm gelesen werden. Ich wollte, dass er mich etwas Neues lernen sieht. Er war für mich mein zweites Ich, eine männliche Version von mir selbst.

Nordamerika und Südamerika waren wunderbar. Ich würde gerne noch mal zurückkehren, und das werde ich tun. Ich muss noch meine Freunde in Australien besuchen. Sie warten schon seit Jahren auf mich.

Aber zuerst muss ich noch etwas erledigen. Man sagt, die Welt habe keine Grenzen, sie habe keinen Anfang und kein Ende. Eine Reise hat aber beides. Das Ende einer Reise ist dort, wo sie begonnen hat. Meine hat im Jahre 2019 im russischen Fernen Osten begonnen, als ich von zuhause weggezogen bin, um in Moskau zu studieren. Ich war erst achtzehn und habe noch nicht geahnt, wieviel auf mich zukommt.

Jetzt ist meine Weltreise zu Ende. Ich bin wieder zu Hause. Doch das Leben geht weiter. Und bevor ich mich auf eine neue Reise begebe, muss ich die einzigen Menschen, die ich mehr liebe als mich selbst, sehen.

Ich öffne die Tür (den Schlüssel habe ich immer noch) und betrete etwas unschlüssig die Wohnung.

„Hallo, Mama, Papa“, sage ich.

„Da bist du ja endlich“, lautet die Antwort…

Nastja Matjasch

Echo auf: Pessoa, Buch der Unruhe (Tagtraum)

„Wie gut tut es der Seele, unter einer stillen hohen Sonne diese strohbeladenen Fuhrwerke, diese noch zu verpackenden Kisten, diese langsamen Passanten eines in die Stadt versetzten Dorfes schweigen zu sehen! Ich selber, der sie vom Fenster des Büros aus anschaut, in dem ich ganz allein bin, bin übersiedelt. Ich bin auf einmal in einer stillen Ortschaft in der Provinz, ich erstarre in einem unbekannten Dörfchen und, weil ich mich anders fühle, bin ich glücklich.“ (Aus dem Portugiesischen übersetzt von Georg Rudolf Lind)

In diesem Café scheint die Atmosphäre angenehm zu sein. Die Frau an der Theke redet freundlich mit einem Kunden, und ich schlage meinen Freundinnen vor, uns hier reinzusetzen. Wir haben uns schon länger nicht gesehen, und ich freue mich, mit ihnen wieder etwas Zeit zu verbringen. Wir bestellen uns Latte und Kuchen, und Monica erzählt uns, was sie in den letzten Monaten gemacht hat.

„Stellt euch vor, ich war seit November nicht mehr im Kino. Jetzt läuft gerade ein Marvel Film, aber der  scheint nicht besonders interessant zu sein. Sie spielen immer dieselben Sachen ab, ich habe keine großen Hoffnungen.“

              Chris stimmt mit ein: „Ich hab den gesehen. Ich muss echt zugeben, ich bin kein Marvel Fan, deshalb ist meine Bewertung da nicht so zuverlässig. Ich war mit meiner Schwester im Kino, und wir sind beide unzufrieden rausgekommen. Obwohl sie diese Filme normalerweise mag.“

              Ich schau auf die Zuckerdose. „Ich hab gehört, vielen gefällt der nicht, die die vorherigen Filme nicht gesehen haben.“ Ich habe mal wieder vergessen, Zucker zu kaufen.

              „Genau das hab ich mir auch gedacht,“ meint Monica.

              Mein Blick fällt auf ein Poster, dass hinter Chris hängt. Es ist die Aussicht auf London und die Themse. Normalerweise hängt man immer Bilder von berühmten touristischen Sehenswürdigkeiten auf, wie den Big Ben oder London Eye. Dieses Plakat zeigt aber das Kunstmuseum Tate. Viele würden das nicht als London wiedererkennen. Ich war jedoch vor einigen Jahren dort und habe es besucht. Ich erinnere mich an eine ganz bestimmte Ausstellung, bei der ein Film rund um die Uhr lief. Man konnte sich zu jeder Uhrzeit in den Saal setzen und beobachten, wie Ausschnitte aus allen möglichen Filmen die genaue Uhrzeit des Tages darstellten. So hieß der Film auch: „The Time“, weil er rund um die Uhr die aktuelle Uhrzeit anzeigte. Ich fand die Idee schon damals so kreativ und originell, dass ich den ganzen Tag dort hätte verbringen können. Ich habe gehofft, dass ich einige Filmausschnitte wiedererkennen würde, und versuchte, mich an Filme zu erinnern, in denen man explizit die Zeit sagt oder zeigt. Bis auf Neujahrsfilme konnte ich mich an nichts erinnern. Aber ich konnte schlecht bis um Mitternacht im Museum bleiben. Ich weiß, dass es so einen Tag gab, an dem das Museum nachts offen ist und man dann den gesamten Film sehen konnte. Leider war das an dem Tag nicht der Fall. Und ich war sowieso mit meiner Freundin unterwegs, und wir hatten einen Tagesplan. Ich hatte vor, ihr noch Buckingham Palace zu zeigen, bevor sie abreisen musste. Tatsächlich gestand sie mir an dem Tag, dass sie den Film so ruhig anschauen konnte, ohne regelmäßig panisch auf die Uhr zu schauen, weil die Uhrzeit durch den Film immer sichtbar war. Wie ironisch, dass Menschen, die immer hetzen und aktiv die Uhrzeit verfolgen, sich entspannen, sobald die Uhrzeit durchgehend sichtbar ist. Wie verschieden wir doch sind. Ich bin in dem Sinne das genaue Gegenteil. Das erinnert mich; ich habe sie schon länger nicht gesehen. Vielleicht sollten wir uns mal wieder treffen und etwas Zeit miteinander verbringen.

              „Was meinst du? Sollen wir uns den Film zusammen anschauen?“ reißt mich Monica aus meinen Gedanken.

              „Welchen?“ frage ich verwirrt.

              „Hast du wieder nicht zugehört?“

              „Ah, sorry, war nicht mit Absicht.“

              „Dachte ich mir schon. Ich meine den neuen James Bond Film. Ich kann nachschauen, ob der am Freitag läuft, da haben wir alle Zeit.“

              „Ja, das klingt gut. Ich bin dabei.“

Anastasia Keller

Mein Tagtraum

Es ist ein warmer Tag in Moskau. Ich kann kaum glauben, dass ich nicht zur Uni muss, weil die Sommerferien begonnen haben. Ich sitze auf einer Bank im Park, wo ich eine Unmenge Zeit mit Lesen oder einfach mit Nachdenken verbringe. Heute ist es Bernhard Schlink, dessen Roman „Der Vorleser“ ich genieße.

Plötzlich halte ich inne, schaue auf, und Tausende von Bildern gehen durch meinen Kopf. Hanna Schmitz ist ständig umgezogen, und ich muss schon lange in derselben Stadt bleiben. Hanna ist ständig geflohen, und eigentlich würde ich auch gerne fliehen. Weg von allem und allen. Dorthin, wo ich noch nie gewesen bin. Es gibt so viel zu sehen, so viel zu entdecken. Es gibt so viele nette Menschen, die ich noch nicht kennengelernt habe, und so viele Erfahrungen, die ich noch nicht gesammelt habe.

In meinen Gedanken reise ich zuerst nach Polen, dorthin, wo sehr viele meiner Vorfahren herkommen. Danzig (Gdansk), Breslau (Wroclaw), Warschau…Wie sehne ich mich nach diesen Städten, obwohl ich nur eine gesehen habe. Ich würde gerne echte polnische Äpfel probieren, die, die den ganzen Sommer das Sonnenlicht genossen haben. Die polnische Sprache wird für mich wie echte Musik klingen, und ich würde die gerne lernen. So wohl würde ich mich in Polen fühlen, weil es in meinem Blut etwas gibt, was mich mit diesem Land verbindet.

Dann geht es nach Deutschland. Hier fehlen mir einfach die Worte. Jede meiner Fasern, jede einzelne Zelle in meinem Körper liebt dieses Land, seine Geschichte, seine Kultur, seine Sitten und Bräuche. Marina Zwetajewa hat Deutschland ihre Liebe gestanden, Das tue ich auch, indem ich ihr Gedicht zitiere:

Germanien, meine tiefste Neigung,               ???????? – ??? ???????!

Germanien, ach, mein edler Wahn!               ???????? – ??? ??????!

Mehr brauche ich nicht zu sagen…

Und dann geht es weiter…Österreich, die Schweiz, Belgien, Luxemburg, Liechtenstein, die Slowakei, Tschechien, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Schweden. Norwegen, Finnland, Ungarn, Kroatien… Sogar Moldawien, Weißrussland und die Ukraine würde ich gerne sehen. Man sagt, es lohne sich nicht, diese Länder zu besuchen, weil sie arm sind. Aber sie haben doch ihre eigene Kultur und Geschichte. Wie können die Länder, die sowas haben, nur arm genannt werden? Nein, so kann es nicht sein. Ich muss unbedingt dorthin.

Und dann ist noch die ganze Welt vor mir. Ich gehe barfuß durch New York und fühle mich wahnsinnig klein im Vergleich zu den Wolkenkratzern. Und es ist nicht der einzige Ort in den USA, den ich zu Gesicht bekommen möchte…Kalifornien, Florida, Texas und natürlich Alaska.

Und dann weiterreisen, durch ganz Nordamerika. Es gibt noch Kanada, Kuba, Mexiko, Jamaika, Haiti, Costa Rica. Man kann ewig aufzählen. In Südamerika gibt es auch so viel zu sehen. Zum Beispiel habe ich noch nie den brasilianischen Karneval erlebt, und das muss ich unbedingt tun.

Viele Menschen glauben an Stereotype über den Iran. Doch ich weiß, dass das Land nicht so ist, wie man es im Fernsehen sieht. Jetzt sind meine Gedanken in Teheran…Ich kaufe Mandeln und Gewürze auf einem kleinen Markt. Mein Kopf ist mit einem bunten Tuch bedeckt, und ich sehe wie eine orientalische Schönheit aus (nur mit blonden Haaren, aber warum denn nicht?).

Nichts kann mich von meinem Traum, die Welt zu sehen, abhalten. Afrika ist auch eines meiner Reiseziele. Egal, was dort passiert, eines Tages werde ich den Kontinent sehen.

Jetzt gibt es noch Australien, Ozeanien und natürlich Asien. Ich wurde im asiatischen Teil Russlands geboren und es wird an der Zeit sein zurückzukehren. Die letzte Station meiner langen Reise wird meine Heimatstadt sein. Chabarowsk…Vor zwei Jahren habe ich dich verlassen. Ich habe mir ständig eingeredet, ich komme mal vorbei, aber es ist nie passiert. Doch irgendwann muss man zurückkehren, und wenn auch nur für kurze Zeit. Meine Seele will zu dir, auf deine Straßen mit altertümlichen Gebäuden, zu unserem breiten Fluss, schließlich in die Taiga. Ein Teil von mir will auch zu den Eltern. Das kleine Mädchen ist jetzt groß, aber dieser Teil will nie erwachsen werden. Wer weiß, vielleicht ist es besser so…

Ein bellender Hund reißt mich aus meinen Gedanken. Ich lasse das Buch fallen. Der Herr eilt auf mich zu, um sich zu entschuldigen.

„Macht nichts“, sage ich. „Ich habe einfach nachgedacht…“

Nastja Matjasch

Echo auf: Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen (Kapitel „Sonnenuntergänge“)

Für die Wissenschaftler sind Morgendämmerung und Abenddämmerung ein und dieselbe Erscheinung, und schon die alten Griechen waren dieser Ansicht, denn auch sie bezeichneten sie mit demselben Wort, das sie, je nachdem, ob es sich um den Abend oder den Morgen handelte, durch ein anderes Attribut ergänzten. Diese Vermengung veranschaulicht sehr deutlich das vorherrschende Bemühen um theoretische Spekulationen sowie eine eigentümliche Vernachlässigung des konkreten Aspekts der Dinge… (Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer)aus urheberrechtlichen Gründen werden bei allen folgenden Beiträgen von „Echo auf…“ nur Ausschnitte aus dem Text vorangestellt

Beschreibung eines Naturphänomens

Der Anstieg ist lang und anstrengend. Der Boden ist sehr instabil, und man rutscht ständig auf den leichten, schwarzen vulkanischen Steinen aus. Der Atem geht schwer wegen der Gase, und die Luft riecht stark nach Schwefel.  Es ist überall dunkel, das einzige Licht ist da ganz oben, auf der Spitze. Ein intermittierendes rotes Licht erinnert uns daran, wo unser Ziel liegt. Die letzten Meter sind eine riesige Herausforderung, denn der Pfad ist unglaublich steil und rutschig, man muss ständig husten und die Augen brennen. Aber endlich sind wir da. Es ist schwierig, in der Dunkelheit die echte Entfernung abzuschätzen, aber nicht mehr als 50 Meter von uns entfernt zeigt sich auf dem nebenstehenden Gipfel der Krater des aktiven Vulkanes Pacaya. Eine knallrote und blaue Flamme taucht von der Öffnung auf, ragt einige Meter hoch und löst sich im schwarzen Himmel auf . Eine graue und schwere Wolke aus unterschiedlichen Gasen strömt kontinuierlich aus dem Vulkan und steigt entlang dem Berghang ab und verschwindet in der Dunkelheit. Kleine Aschenteilchen schweben in der Luft und erschweren das Sehen. Ein rollendes, dröhnendes Geräusch kommt aus der Tiefe des Vulkans und hebt die ohnehin schon majestätische Szene noch mehr hervor. Entlang einer Seite des Pacayas fließt ein Rinnsal von Lava bergab: die glühende Linie kontrastiert mit dem Schwarzen der Landschaft.

Erica Amistadi

Offene Briefe an die Entscheider

Dieser Beitrag sammelt Offene Briefe, Studien und Dokumente, die für Verhältnismäßigkeit, streitbare Wissenschaft, Kunstfreiheit und kritische Diskussion sprechen. Die Texte formulieren Forderungen, Vorschläge und Bitten, die Engführung der öffentlichen Diskussion auf virologische Panik und Repression zu beenden. Stattdessen gilt es, den bürgerlichen Freiheiten wieder den Rang einzuräumen, der ihnen gebührt. Seit zwei Jahren werden wir mit zunehmender Willkür auf dem Verordnungsweg eingeschränkt, obwohl Verordnungen den geltenden Gesetzen – erst recht dem Grundgesetz – nachgeordnet sind. Sie dürfen Gesetze präzisieren, sie aber nicht außer Kraft setzen. Die angeordnete Ausschaltung der Grundrechte, wie wir sie erlebt haben, bringt die Rechtsordnung insgesamt ins Wanken. Dagegen erhebt sich – zu Recht – Protest, dagegen sprechen die hier versammelten Texte.

Die Texte sind chronologisch geordnet, können durch einen Klick heruntergeladen und als PDF geöffnet werden; inhaltlich geben sie stets die Meinung der Autorin, des Autors oder der Autoren wieder, nicht meine

Echo auf: Virginia Woolf, Ein eigenes Zimmer

„Da Fakten so schwer zu erlangen sind, will ich mir nur einmal vorstellen, was geschehen wäre, wenn Shakespeare eine wunderbar begabte Schwester gehabt hätte, sagen wir, mit Namen Judith.“ (Aus dem Englischen übersetzt von Heidi Zerning)

Das vergessene Leben von Maja Einstein

Albert und Maja waren die Nachkommen von Hermann und Pauline Einstein, einem jüdischen Ehepaar aus der Mittelschicht. Die beiden Einstein-Kinder verbrachten die meiste Zeit ihres jungen Lebens in Deutschland. Ihr Vater war Mitinhaber eines Unternehmens, das elektrische Geräte herstellte, und ihre Mutter blieb zu Hause und kümmerte sich um Haus und Familie. Maja und Albert erhielten eine breite Ausbildung, und Maja promovierte in Romanistik an der Universität Bern.

Aber es kam der Tag, an dem Albert erfolgreicher war als Maja, und die Dinge änderten sich dramatisch. Alle schenkten Albert ihre Aufmerksamkeit, während sie pausenlos lernte, um klüger zu sein als ihr angebeteter Bruder. Eines Tages beschloss sie aus Verzweiflung, das Land zu verlassen und nach Brasilien zu gehen. Dort konnte sie zumindest als die intelligenteste Frau ihrer Zeit anerkannt werden. Man hat nie wieder etwas von ihr gehört.

Paulina Dönmez

Der innere Monolog von Puschkins Schwester

Ein neuer Tag in Sankt Petersburg. Der letzte, den ich hier im Herbst verbringe und dann geht es zurück in das leere und einsame Dorf, wo keine Seele zu finden ist, mit der ich mich unterhalten und der ich meine heimlichen Gedanken anvertrauen könnte. Das Einzige, was ich an der Situation gut finde, ist, dass ich jetzt mehr Freizeit haben werde, um Gedichte zu schreiben. Gedichte, die nie veröffentlicht werden. Ich mag Puschkins Schwester sein. Ich mag so begabt sein wie er (wenn nicht viel begabter). Aber das nützt nichts, denn ich bin vor allem nur eine Frau. Nur eine Frau…Und doch bestimmt diese Tatsache mein Schicksal. Eine Frau kann keine Gedichte schreiben. Eine Frau kann die Welt nicht entdecken. Eine Frau kann ihre Meinung nicht äußern. Alles, was sie kann, ist leise und hübsch sein, um Männern zu gefallen. Männer…unsere größte Unterstützung und unser größter Fluch. Sie gründen ganze Städte, erobern andere, regieren Reiche, kämpfen für den Frieden, werden berühmt und genießen das Leben in vollem Maße, all seine Seiten…

Und was bleibt einer Frau? Der Haushalt, der Mann, der ständig alle Hände voll zu tun hat und sie an einigen Nächten besucht, Kinder, die sie nach diesen Besuchen bekommt, und lange Tage voller Einsamkeit in einem Dorf, wenn die ganze Familie nicht in der Hauptstadt ist.

Es wäre lustig, wäre es nicht so traurig. Ich weiß, was mir zukommt, obwohl ich mein Leben noch gar nicht gelebt habe. Weil ich nur eine Frau bin. Eine Frau und nicht mehr… Aber ich weiß: es kommt die Zeit, und endlich werden Frauen das Recht bekommen, sich zu äußern, dafür zu kämpfen, was ihren Herzen lieb ist. Und sie werden ihr Ziel erreichen. Sie werden mehr sein als „nur Frauen“.

Die Schwester von Alexander Puschkin hat recht. Die Zeit wird vergehen, und bekannt werden solche Frauen wie die Schwestern Bront?, Mary Shelley, Jane Austen, Virginia Woolf, Louisa May Alcott und Margaret Mitchell. In Russland wird man von Marina Zwetajewa, Anna Achmatowa und Bella Achmadulina erfahren. Aber sie, die Schwester von Alexander Puschkin, die noch begabter ist als ihr Bruder, wird nie berühmt sein und in Vergessenheit geraten. Sie und Tausende von anderen unglaublich begabten Frauen, die ihr ganzes Leben ihre Last tragen werden – die Last des Frauenseins.

Nastja Matjasch

Großer Sprung zurück in die digitale Diktatur

Anstelle eines militärischen Anreiz- und Strafsystems, wie Shang Yang es etablierte, nutzt die KP moderne Informations­tech­nologie als durchgreifende Technik des Überwachens und Strafens. Doch Xi ist sich bewußt, daß der Legalismus allein das Potential hat, Revolten zu provozieren. Schließlich wurde Qin’s einiges China schon wenige Jahre nach seinem Tod von Rebellen hinweggefegt, die gegen den Militarismus Qin’s aufbegehrten. Indem Xi den Legalismus (Terror durch Überwachung und Loyalität durch strikte Anreize) und den Konfuzianismus (traditionelle konservative Werte) miteinander verschmilzt, versucht er die „kommunistische“ Herrschaft zu festigen und zu sta­bi­li­sieren.

Die Volksrepublik China hat zu diesem Zweck eine massive Zensur des Internets aufgebaut, die sich auf Techniken wie die „Große Firewall von China“ (Fánghuo chángchéng) oder den „Goldenen Schild“ (Jindùn gongchéng) stützt. Westliche Internetprodukte wie die Googlesuche oder Wikipedia sind nicht erreichbar. Konnten die Zensurmechanismen bis vor Kurzem noch durch Technologien wie VPN umgangen werden, so ist dies nicht mehr möglich und verboten. Wie im Westen begründet die chinesische Parteiführung die Einschränkung des Internets mit dem Schutz der Bevölkerung. Bei einem Vorbereitungstreffen des „Internet Governance Forum“, einer vom UN-Ge­neralsekretär ins Leben gerufenen Diskussions-Plattform, in Genf am 13.5.2009 rechtfertigte ein chi­nesischer Diplomat die Internet-Zensur der KP wie folgt, um die Teilnehmer zur Zurückhaltung mit Kritik auf­zufordern:

„Im Kampf gegen den Terrorismus und andere kriminelle Akte haben alle Staaten das Recht, zur Wahrung der Sicherheit des Staates und der Interessen seiner Bürger Inhalte bestimmter Internetseiten zu filtern. Und ich denke, alle Länder sind im Begriff, eben das zu tun.“ (zitiert nach Monika Ermert vom 14.5.2009)

Der 33jährige Li Wenliang, Augenarzt und KP-Mitglied, bemerkte als einer der ersten anhand klini­scher Beobachtung bei sieben Patienten das Auftreten einer schweren Lungenkrankheit, die an SARS aus den Jahren 2002/3 erinnerte. Seine Geschichte wirft ein Licht auf die Umstände, die zur Ausbreitung des Virus beigetragen haben, Umstände, die typisch sind für die Krisenreflexe einer Diktatur: Am 30. Dezember 2019 schrieb Li in einer WeChat-Gruppe an Arztkollegen, um vor dem Verdacht einer Infek­tions­krankheit zu warnen. Die chinesische Staatssicherheit las – wie ge­wöhnlich – mit. Bereits zwei Tage später, am 1. Januar 2020, berichtete die staatliche Nach­rich­tenagentur Xinhua, daß acht Personen wegen der Verbreitung gesundheitlicher Falsch­nachrichten im Internet belangt würden – ein Topos, der im weiteren Verlauf der Pandemie auch im Westen im Zusammenhang mit Löschungen auf Youtube oder Facebook wieder auftauchte. Zwei weitere Tage später wurde Li von der chinesischen Stasi vor­geladen und gezwungen, öffentlich zu bekennen, daß er unwahre Behauptungen verbreitet habe, die die soziale Ordnung störten. Im Stil der stalinistischen Selbstkritik und Selbstanklagen solle er sei­nen Fehler einsehen und Reue zeigen: „Wenn Sie weiter halsstarrig bleiben, Ihre Vergehen nicht bedauern und mit diesen illegalen Aktivitäten fortfahren, werden Sie strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen – haben Sie verstanden?“ (Quelle: Weibo, Post von Li Wenliang) Einen Monat später entschuldigte sich die Behörde bei ihm – da hatte das Virus bereits angefangen, sich zu verbreiten und weltweit von Regierungen und Nicht­regierungs­organisationen für die verschiedensten Zwecke ausgenutzt zu werden. Ironie des Schick­sals: Li verstarb wenige Tage später an den Folgen einer Lungenkrankheit, obwohl Tests auf SARS-Cov2 bei ihm negativ ausgefallen waren.

Xu Zhangrun, Juraprofessor an der Qinghua-Universität in Beijing, der bereits 2018 durch eine schonungslose Kritik am politischen System der Volksrepublik aufgefallen war, mit Berufsverbot belegt und ständig überwacht wurde, verfaßte vom 4. bis zum 9. Tag des 1. Mondmonats im Jahr Gengzi (28.1.-2.2.2020) eine Brandschrift, in der er den moralischen Zerfall der chinesischen Staats­macht kon­statierte, eine Welle der Empörung im Volk wahrnahm und den baldigen Niedergang der kom­­munistischen Herrschaft vorhersagte. Ursachen des Übels seien der Mangel an Mei­nungs­freiheit, das Monopol der KP, die Regierung zu stellen, und schließlich die Einmann-Herrschaft Xi’s innerhalb der kollektiven Führung.

„Der Grund liegt darin, daß die Staatsgewalt auf allen Ebenen erst die Redefreiheit beschneidet, Tatsachen ver­heimlicht und die Bevölkerung betrügt, anschließend die Verantwortung abschiebt und die Verdienste anderer für sich in Anspruch nimmt, während die beste Zeit zur Vorbeugung und Behandlung der Krankheit vor aller Augen un­genutzt verstreicht … Eigentlich wußten schon unsere Vorfahren: ›Dem Volk den Mund zu verbieten, ist schlim­mer, als einen reißenden Strom aufzuhalten.‹ (aus: Guoyu. Gespräche über den Staat) … Das derzeitige büro­kratische System ist von allgemeinem Mittelmaß geprägt, ausgelaugt und dekadent. Die chaotische Lage in der Provinz Hubei, wo sich zur Zeit die absurdesten und übelsten Szenen ereignen, beleuchtet nur einen kleinen Teil des ganzen Deasasters … Hinzu kommt, daß die staatlichen Autoritäten in den letzten Jahren die Repressionen weiter verstärkt und jede Entwicklung hin zu einer Zivilgesellschaft unterdrückt haben. Die Zensur nimmt von Tag zu Tag zu, wodurch genau jene Mechanismen geschwächt und eliminiert werden, die in einer Gesellschaft früh­zeitig auf Probleme aufmerksam machen. So in der aktuellen Coronavirus-Epidemie, bei der gerade deshalb, weil die Meldungen über erste Erkrankungen abgeblockt wurden, schließlich ganze Städte abgeriegelt werden müssen, und das Abwürgen persönlichen Engagements schließlich zum Tod von Menschen führt. Es ist leicht einzusehen, daß dies begleitet ist von einer skrupellosen Profitgier und dem platten Pragmatismus einer Politik, die schlimmer kaum sein kann. All das zeigt, daß jene Generation, die während der Kulturrevolution aufs Land verschickt worden war und anschließend, unter den besonderen Umständen ihrer Zeit, an die Macht gelangte, heute jeglicher Moralität und Vernunft entbehrt. Man darf zu Recht behaupten, daß diese Generation auf allen Ebenen der staatlichen Macht die unfähigste Führungselite seit vier Jahrzehnten darstellt … Mit repressiven Mitteln der Diszi­plinierung und Überwachung wird nun versucht, den Beamtenapparat dazu anzutreiben, sich weiterhin mit einer sinn­entleerten Abarbeitung von Verordnungen abzurackern und durchzulavieren. Und weil es sowohl an Rede­freiheit als auch an einem modernen bürokratischen System fehlt – von ›loyalen Ministern, die den Kaiser zu kritisieren wagen‹, wie wir sie aus der chinesischen Geschichte kennen, ganz zu schweigen –, hat die Peitsche der Re­pression weder Überwachung noch Einschränkung zu fürchten. Darüberhinaus herrscht die eiserne Faust der [von Xi eingerichteten] Nationalen Sicherheitskommission mit noch härterem Griff. Zuletzt wird alles stufenweise durch den ganzen Apparat nach oben geleitet, wo es in einer einzigen Person zusammentrifft. Diese aber ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, der seiner Aufgabe mitnichten gewachsen ist … So ist es auch beim aktuellen Dea­saster von Wuhan: Konkret ereignet sich zwar alles an der Basis, doch die Wurzel des Problems liegt bei den Macht­habern in Peking, in diesem System, das sich um nichts anderes mehr dreht als um seinen eigenen Macht­erhalt … Das Land und die Bevölkerung werden heute mittels eines totalitären Big-Data-Kontrollsystems und dessen an Terror grenzender Zensur der gängigen Social-Media-Plattform WeChat regiert … Entsprechend hielt der scheinbare Übergang aus einem maoistisch-totalitären System zu einem autoritären Staat nach den Olym­pi­schen Spielen im Jahr 2008 zunächst inne, um dann abermals zu einem maoistisch orientierten Totalitarismus zu­rückzukehren, und zwar im Laufe der letzten sechs Jahr mit immer schnellerer Geschwindigkeit. Weil der Einsatz technologischer Mittel aufgrund unbegrenzter Staatshaushalte sich auf nahezu unerschöpfliche Finanzquellen stützen konnte, erleben wir heute einen Big-Data-Totalitarismus im Orwellschen Stil.“ (Xu Zhangrun, 2020)

Im Westen vollzieht sich eine ähnliche Entwicklung, in umgekehrter Richtung: Im „Krieg gegen das Virus“ geraten die von den Verfassungen garantierten Grundrechte und der Datenschutz ins Hin­ter­treffen, werden Gesetze auf dem Verordnungsweg außer Kraft gesetzt, nachdem sich die Parlamente selbst entmachtet und die Entscheidungsbefugnis an die Exekutive abgegeben haben. Die private Pres­se, die wegen sinkender Werbeeinnahmen von Finanzspritzen amerikanischer Konzerne wie Google  abhängt, schaltet sich mit den öffentlich-rechtlichen Medien gleich. Im Hintergrund betätigt sich die Google-Tochter Youtube als Zensor und löscht Beiträge, in denen Ärzte über Impf­neben­wirkungen berichten – nach chinesischem Vorbild unter dem Vorwand der „medizini­schen Falsch­information“. Mit Hilfe der Digitalisierung von Test- und Impfzertifikaten wird ein Social Credit-System eingeführt: Nur wer sich den Verordnungen beugt, sich testen und impfen läßt und dies auf seinem Smartphone nachweisen kann, darf noch am gesellschaftlichen Leben teilhaben, einkaufen sowie Kultur­ein­rich­tungen und öffentliche Verkehrsmittel betreten. In Australien annulliert ein Minister persönlich das Visum eines von den Behörden ausgestellten Visums für einen ungenehmen Spitzen­sportler. Das System, im Westen bekannt unter den Namen Green Pass, 2G, 2G+ oder 3G, nähert sich dem chinesischen Vorbild an, ja übertrifft es hinsichtlich des Grades der Repression: Während im chinesischen System mehrere Variablen des Wohlverhaltens ausgewertet werden und den Zugang zu öffentlichen Dienst­lei­stungen schaffen, ist das westliche System – zunächst erst einmal – monofaktoriell auf Corona ausgerichtet. Hinsichtlich der  skrupellosen Profitgier und des platten Prag­ma­tis­mus der Politik läßt sich kein Unterschied zur chinesischen Nomenklatura fest­stellen: Maskenskandale und Intensivbettenlüge (DIVI-Gate) bilden nur die Spitze des Eisbergs, zu dem sich die Korruption höchster, demokratisch legitimierter Regierungskreise verdichtet hat. Ohne maßgebliche Interes­senskonflikte, die symp­to­matisch die Durchdringung der Politik mit Lobbyisten der Pharma- und IT-Industrie anzeigen, wäre die Corona-Krise gar nicht ausgerufen worden. Ein überschaubarer Club von Multi­mil­liar­dären, die vor 30 Jahren noch in Hinterhof-Garagen an Schaltkreisen oder Billigsoftware herumbastelten, hat Regierungen und Presseagenturen gekapert. Auch die Mittelmäßigkeit der Beamten, die sich mit einer sinn­entleerten Abarbeitung von Verordnungen abrackern und durchlavieren, unterscheidet den Westen nicht  von China. Die logische Widersprüchlichkeit der „Corona-Schutzverordnungen“ fällt bereits Schulabbrechern ins Auge, nur die Funktionselite hält eisern daran fest. Nachdem Behörden wie das RKI die Ermächtigung erhalten haben, die geltenden „Regeln“ auf ihrer Inter­net­seite zu veröffentlichen und ihnen damit ohne Debatte oder Ein­spruchs­mög­lichkeit sofortige Geltung zu verleihen, muß die rechtsstaatliche Verfassung des Westens zumindest im Bereich der Corona-Politik als außer Kraft gesetzt angesehen werden: Einzelpersonen können nach Gutdünken schalten und walten. Die Willkür der Definition, wer als „ge­impft“ oder „genesen“ gilt, wird  über Nacht für Millionen vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzte Bür­gern spür­bar.

These 12: Der Westen nähert sich im Eil­tempo dem technokratisch-totalitären Regime, für das die IT-Branche die Volksrepublik bewundert.

Xu Zhangrun ahnte, daß dies sein letzter Text sein würde – am 6. Juli 2020 wurde er von zwanzig Polizisten in Beijing verhaftet, wie die deutsche Vertretung in China am 9.7.2020 mitteilte. Der Dichter Yang Lian postete daraufhin: „This is another proof of Chinese government keeps the very nature of Mao’s authoritarian tradition, and taken off their face-mask of ›Reform‹ now, they are nothing but the enemy of Humanity and civilisation. Europe, be clear, stop to play your game of power and money with them!“

Auch Ren Zhiqiang – ein prominenter KP-Kritiker, Immobilienmakler und selbst Teil der Nomen­klatura, von manchen der chinesische Trump genannt – kritisierte in einem Essay, das sich viral verbreitete, die mangelnde Rede- und Pressefreiheit in der Volksrepublik. Die Angst der Macht­haber, öffentlich schlecht dazustehen, verhindere, daß auf akute Gefahren schnell reagiert werden könne, der Parteiführer zeige sich in neuen Kleider, gleiche in Wirklichkeit aber einem nackten Clown – daraufhin verschwand Ren im März 2020 in den Zellen der Stasi und wurde im September in einem Verfahren, das nur einen Tag dauerte, wegen Korruption zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt.    

Die chinesische Parteiführung hatte bereits im Laufe des Januar 2020 aus dem Vorfall gelernt. Zunächst galt es, die heimische Bevölkerung durch zur Schau gestellten Aktionismus zu beruhigen. Im Februar gingen die Bilder vom hektischen Bau zweier Krankenhäuser in Wuhan innerhalb von zehn Tagen um die Welt. Diese Bilder waren es, die die Welt alarmierte, gepaart mit den noch vor­sich­tigen Warnungen der WHO. Die KP verstand es, das Auftreten der ersten Krankheitsfälle in eine internationale Pro­pa­gandaschlacht umzumünzen. Sie sprach von einem „Volkskrieg“ und sogar von einem „totalen Krieg“ gegen das Virus, eine Rhetorik, die in Europa beispielsweise vom fran­zösischen Präsidenten begierig aufgegriffen wurde und auch die damalige deutsche Kanzlerin beeinflußte – d.h., die KP nahm die Fundamentalkritik ihrer internen Widersacher ernst, nachdem sie sie ausgeschaltet hatte, und bemühte sich, das Gegenteil zu beweisen.

Zu den quasi-militärischen Maßnahmen, die die kommunistische Parteiführung ergriff, gehört die Erfindung des „Lockdown“. Es handelte sich um eine vollständige, militaristisch gegen das eigene Volk gerichtete Abriegelung des Reiseverkehrs in beide Richtungen, erst in Bezug auf Wu­han, dann ausgeweitet auf die Provinz Hubei, während die Einwohner in ihren Wohnungen ver­harren sollten. Quarantäne hatte es schon seit Jahrhunderten zur Vorbeugung der Seuchen­ver­breitung gegeben: die von der Krankheit befallenen Menschen wurden isoliert. Die Maßnahme der KP ging über Quarantäne weit hinaus: Es wurden alle Menschen der Region in ihrer Wohnung eingesperrt, unabhängig davon ob sie gesund oder infiziert waren. Wenig später diente der von der kommunistischen Parteiführung erfundene Lockdown als Blaupause für die Pandemiebekämpfung im Westen. Ironie des Schicksals: Als die stellvertretende Minister­präsidentin Sun Chunlan im März 2020 Wuhan besuchte, um die Visite von Präsident Xi auf Potemkinsche Weise vorzubereiten, riefen die eingesperrten Bürger im Chor durch die geöffneten Fenster: „Jiade! Jiade! Dou shi jiade!“ („Fake!, Fake! Das ist alles Fake!“, zit. nach Kai Strittmatter, 2020) – Widerstand gegen die Un­ver­hält­nis­mäßigkeit der Maßnahmen, wie er auch im Westen aufkeimt.  

Die kommunistische Partei erklärte sich nach kurzer Zeit zum Sieger im „Krieg gegen das Virus“, etikettierte China um „vom Krisenherd zum Krisenheld“. Als im Westen zur Zermürbung der nicht genügend impfwilligen Bevölkerung ein Lockdown nach dem anderen verhängt wurde, feierten die Einwohner Wuhans längst wieder Massen­partys. Lokale Virusausbrüche, etwa im Juni 2020 in einigen Teilen Beijings, wurden lokal „aus­getreten“. China heizte seine Wirtschaft an und ver­zeichnete als einziges Industrieland im Jahr 2020 ein Wachstum – nicht zuletzt dank der naiven Milliar­denaufträge des Westens für Masken, Testkits und andere Gesundheitsprodukte.

Nach innen begriff die Parteiführung Corona als strategische Chance für den Ausbau des re­pres­siven Staates: hatte sie in den letzten Jahren bereits den Ausbau  in­for­mationellen Über­wachung (Internetzensur, Überwachungskameras, nachbarschaftliche Denunzia­tion) dank „fortschrittlicher“ künst­licher Intelligenz zum Staatsziel erhoben, so bot der Lockdown in Wuhan und Hubei die Mög­lichkeit, dem Volk ein Exempel zu statuieren, wozu die Regierung im Ernst­fall fähig ist: die räum­liche und informationelle Bewegungsfreiheit weitgehend ein­zu­schränken und den parteilichen Zen­tra­lismus gegen die seit den Reformjahren aufkeimenden Zentrifugalkräfte zu in Stellung zu brin­gen.

„Wie die Analyse der politischen Kommunikation im Lande nahelegt, bringt der durch COVID-19 ausgelöste nationale Krisenmodus eine Reihe von Vorteilen für die Herrschaft der Partei mit sich: Er erlaubt die resolute Durchsetzung zentraler parteistaatlicher Macht innerhalb einer Hierarchie politischer Steuerung, die im Normal­modus zur Fragmentierung neigt, im Krisenmodus aber zur strikten Durchsetzung von Vorgaben zwingt. Zugleich er­laubt er die Mobilisierung massiver materieller und ideeller Ressourcen, deren Einsatz im vaterländischen Krieg gegen das Virus angesichts der existenziellen Bedrohung dazu beiträgt, die Parteiherrschaft zu legitimieren und Kritik zu diskreditieren. Die Legitimität des Top-down-Durchgriffs und die dadurch erzeugte Effektivität des Krisen­managements verstärken einander, solange der Krisenmodus aufrechterhalten wird.“ (Heike Holbig, 2020)

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Solang tanzen wir

Wie tot ist dieses Land : wie ernst

Versucht die Alten es vorm Tod

Zu retten und läßt das Leben

Fahr’n ins Nichts : es könnte

Laut und bunt sein : nur

Im Traum noch : auf der Straße

Eil’n die Menschen

Regungslos vorbei

Verstecken ihr Gesicht : verstecken

Sich :  verfolgt von Angst

Ein Fangespiel ist dieses Treiben

Ersatz für : keiner glaubt’s

Den dritten Großen Krieg : der

Uns erspart nicht bleiben wird

Und solang tanzen wir auf uns’rem

Stern : gebären Chaos

Echo auf: Mustafa Khalifa, Das Schneckenhaus

„Ecos da escrita“, zu deutsch etwa „Echos des Geschriebenen“ – unter diesem Motto stehen einige ausgewählte Texte von Studentinnen einer Germersheimer Übung: Kreatives Schreiben: Zielsprache Deutsch. „Ecos da leitura“, „Echos der Lektüre“, würde es ebenso treffen. Schreibanlässe sind jeweils Auszüge von übersetzter Literatur, auf die die – nichtmuttersprachlichen – Studentinnen sprachlich reagieren sollten.

Ein erstes Beispiel ist der Anfang von Mustafa Khalifas Roman „Das Schneckenhaus“, eine Abschiedsszene auf dem Flughafen Orly…

Mustafa Khalifa, Das Schneckenhaus. Tagebuch eines Voyeurs (Deutsch von Larissa Bender)

Suzanne und ich saßen in einem Café am Pariser Flughafen Orly und warteten auf den Abflug. Nach sechs Jahren würde ich in mein Land zurückkehren.

Sogar in dieser letzten Viertelstunde wurde Suzanne nicht müde, mich zum Bleiben zu überreden. Immer wieder führte sie Argumente an, die ich schon kannte, seit ich ihr vor ein paar Monaten von meinem Entschluß erzählt hatte, in die Heimat zurückzukehren und dort zu arbeiten.

Ich komme aus einer arabischen Familie christlich-katholischen Glaubens. Die eine Hälfte der Familie lebt in Paris, weshalb mir in diesem Land alle Türen für das Studium offen gestanden hatten. Das Studium war mir leichtgefallen, unter anderem weil ich des Französischen schon vor meiner Ankunft in Paris mächtig gewesen war. Ich hatte Regie studiert und war ein ausgezeichneter Student gewesen. Und nun wollte ich nach meinem Abschluß in mein Land und meine Stadt zurückkehren.

Auch Suzanne stammte aus einer arabischen Familie, doch ihre Familie war ausgewandert und lebte in Frankreich. In den letzten beiden Studienjahren waren wir ein Paar gewesen und hätten sogar mit dem Segen beider Familien heiraten können, sofern ich nicht darauf bestanden hätte, nach Hause zurückzukehren, und sie, in Frankreich zu bleiben.

Bei unserem letzten Gespräch im Flughafen sagte ich resolut:

„Suzanne, ich liebe mein Land, meine Stadt. Ich liebe die Straßen und Gassen dort. Das ist keine banale Romantik, sondern ein tief empfundenes Gefühl. Ich erinnere mich noch immer an die Slogans auf den Mauern der alten Häuser in unserem Stadtviertel. Ich liebe sie, ich sehne mich nach ihnen. Außerdem möchte ich ein außergewöhnlicher Regisseur sein, ich habe viele Projekte und Pläne im Kopf. Ich habe große Ambitionen. In Frankreich würde ich ein Fremder bleiben, ich würde wie jeder andere Flüchtling hier jobben, und sie würden mir nur ein paar Brotkrumen hinwerfen. Nein, das möchte ich nicht. In meinem Land habe ich Rechte, dort bin ich niemandem zu Dank verpflichtet. Mit ein wenig Mühe kann ich es dort zu etwas bringen. Abgesehen davon, daß mein Land mich und meinesgleichen braucht. Deshalb ist mein Entschluß zurückzukehren endgültig, und jeder Versuch, mich umzustimmen, ist zum Scheitern verurteilt.“

Ein paar Minuten herrschte Schweigen. Wir vernahmen den Aufruf, es war Zeit für den Abflug. Wir standen auf und kippten den Rest unseres Bieres hinunter. Ich sah sie mitfühlend an, Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie warf sich mir an die Brust. Ich küßte sie flüchtig. Solche Situationen kann ich nicht ertragen.

„Ich wünsche dir alles Gute“, sagte ich.

„Ich dir auch. Und paß auf dich auf!“

Ich bestieg das Flugzeug.

(Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Bonn, 2019. Original: Al-Qawqa’a: Yawmiyy?t Mutala??i?. 2008)

Texte zu Mustafa Khalifa, Das Schneckenhaus

Innerer Monolog Suzannes

Wie kann er mir so etwas antun? Nach allem, was wir zusammen erlebt haben, die vier Jahren an der Uni, das dunkle und feuchte Zimmer im Keller, die gemeinsamen Freunde… wie kann er jetzt alles hinter sich lassen und weggehen? Wir hätten heiraten und eine Familie gründen können. Wir hätten glücklich zusammen sein können, wie wir es bis jetzt gewesen sind. Es wird schwierig sein, ohne ihn. Meine kleine Schwester Fatima wird ihn furchtbar vermissen! Ich werde ihn furchtbar vermissen… Aber ich kann ihm nicht böse sein. Im Gegenteil, ich verstehe ihn. Natürlich musste ich versuchen, ihn zu überreden, dass er hierbleiben soll und, dass er hierhergehört. Das musste ich wieder und wieder versuchen, obwohl ich wusste, dass ich keine Chance hatte, sein Vorhaben zu ändern. Das konnte ich in seinen Augen sehen. Er war immer erfolgreich, ein ausgezeichneter Student und, später, bei seinen ersten Aufträgen und Projekten, ein talentierter Regisseur. Trotzdem habe ich auch in seinen glücklichsten Tagen einen Hauch von Melancholie bemerkt, die er ständig versuchte zu unterdrücken, bis sie ihn überwältigt hat. Ich weiß, dass er mich liebt und es auch ihm schwerfällt, dieser Entscheidung zu folgen. Gegen seine Gefühle kämpfend leerte er sein Bierglas und stand auf, überzeugt davon, seinem Schicksal zu folgen. Er küsste mich und wünschte mir alles Gute. Mir fiel nichts Anderes ein, und ich antwortete nur „Ich dir auch. Und pass auf dich auf“. Letztendlich wusste ich, dass ich ihn gehen lassen musste. Er wollte sich verbessern, bekannt werden, an wichtigeren Projekten teilnehmen. Bis dahin fühlte er sich nicht genügend anerkannt und ausreichend herausgefordert. Außerdem nahm die Sehnsucht nach der Heimat mit der Zeit ständig zu, bis er sich in Frankreich wie ein kompletter Fremder gefühlt hat. Obwohl er die Sprache beherrschte, versuchte er immer weniger Kontakt zu Leuten zu haben, bis er sich nur mit seiner und meiner Familie traf. Und jedes Mal, wenn es um Syrien ging, fingen seine Augen an zu glänzen und ein bitteres Lächeln änderte seine Gesichtszüge. All das war monatelang vor meinen Augen, aber ich habe es immer ignoriert. Ich habe gehofft, dass es nur eine Phase sein würde und, dass er sich eines Tages beruhigen würde und sein relativ neues Leben wieder zu schätzen wüsste. Seine Entscheidung war für mich also nicht ohne Gründe zustande gekommen. Ich konnte sie verstehen und sogar akzeptieren. Deswegen drehte ich mich um und lief Richtung Ausgang.  

Erica Amistadi

Der innere Monolog von Suzanne

(Mustafa Khalifa, Das Schneckenhaus)

Da sitzt er, der Mann, mit dem ich mein Leben verbinden wollte, der die letzten zwei Jahre mein ein und alles war, was ich ihm eigentlich nie gesagt habe. Und jetzt ist es zu spät für lange Reden über nicht ausgedrückte Gefühle. Wenn ich ihn jetzt anschaue, kommt er mir irgendwie fremd vor. Seine andere Seite ist zu sehen, diejenige, die in Syrien verliebt ist und dem Land zuliebe wirklich alles hinter sich lassen würde. Diese Seite habe ich bisher nicht gekannt.

Fremd wie nie beschrieben

Sieht mich mein Schicksal an

So schrieb Rilke. Und wie sehr passen diese Zeilen zur Situation.

Es ist an der Zeit, sich zu verabschieden. Ich bin bereit, Abschied zu nehmen, aber ich glaube, ich werde ihn nie ganz loslassen können. Er geht von mir weg, aber bei ihm bleibt etwas. Bei ihm bleibt ein Herz, und das Herz ist mein.

Anastasiia Matiash (Nastja Matjasch)

Innerer Monolog Suzannes

Es ist dann das Ende. Wer konnte damit rechnen, dass diese emotionale Verbundenheit mit unserem Land, die uns vor zwei Jahren zusammenbrachte, uns jetzt wieder trennen würde? Oder hätte ich es eigentlich noch früher bemerken können, dass das Heimweh, von dem wir ständig gesprochen haben, nicht wirklich so ein geteiltes Gefühl war, wie es das in meiner Vorstellung ist? An meine Kindheit in Syrien denke ich eigentlich gern zurück, aber nur als eine nostalgische Erfahrung, wenn es im Leben nichts gibt, um das ich mich sorge oder über das ich mich freue, also ja, Romantik, in seinem Wort. Aber wirklich zurück in das Land? Lieber nicht. Um ehrlich zu sein, verstehe ich ihn auch nicht ganz. Ist es nicht besser, die Erinnerung halt Erinnerung sein zu lassen? Und Regie, natürlich, seine Lebenskarriere. Ich liebe es tatsächlich, wenn er über seinen Traum spricht. Dass er sich die ganze Zeit über so sicher ist, was er will und sich von nichts abhalten lässt, erscheint mir wie immer so attraktiv, auch wenn uns diese Entschiedenheit jetzt zur Trennung führt. Ich konnte mir schon gut vorstellen, dass er mich eines Tages wegen seiner Arbeit verlassen würde. Es kommt immer ein „Syrien“ vor, wenn er mich nicht in seiner Zukunft sieht.

Ich hoffe nur, dass es in Syrien wirklich was Spannendes gibt, das auf ihn wartet, wie er es sich jetzt vorstellt. Alles Gute, meine Liebe.

Jing Lin

Ein Hintern, der „dezente Zurückhaltung“ ankündigt?

[…] Tapeten und den Landschaftsbildern umher, die er
für eine größere Seminararbeit sezierte, und dennoch entging
ihm nicht dieser Hintern, der ihm im Grunde dadurch auffiel,
dass er zunächst nichts Besonderes an sich hatte, dezente
Zurückhaltung ankündigte – ja sogar ein wenig dafür sorgte, […]

[…] Er war Gast in der Bibliothek, hielt hier und da Vorträge, schritt mit den Alten einher. Sortierte Karteikästen, nur um gesehen zu werden. Er hatte einen Schrank gemietet. Schrank, so nannten wir die Kabinette, in denen man allein für sich arbeiten konnte. Wer hierzu den Schlüssel besaß, hielt sich für einen Grundbesitzer. Wir, in den Reihen an den Tischen dagegen, wir waren das Fußvolk, waren die Knechte, die Lakaien.

Das Fünf-Punkte-Programm: Dekrete zum Ausstieg aus der Corona-Krise und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt

Über Ausstiegszenarien aus der Corona-Krise wird gegenwärtig nicht diskutiert. Jedem Versuch dazu wird mit dem „Argument“ begegnet, man müsse sich alle Möglichkeiten (zur Repression) offen halten, ja es gebe nun keine roten Linien, also kein Halten mehr, wenn es um Rücksicht auf irgendwelche verfassungsrechtlichen Grundsätze, sprich bürgerlichen Freiheiten geht. Im Anschluß an die im Parlament beschlossene „Beendigung der Notlage“ wurde – mit welcher Logik eigentlich? – ein Bundeswehr-General bestellt, der  das kommende Durchgreif-Kommando logistisch ko­ordinieren soll, obwohl die Bundeswehr im Innern doch gar nicht einfach so eingesetzt werden darf – der stolz verkündete Tabubruch läßt Schlimmes ahnen. Die deutsche Coronapolitik hat nunmehr den unrühmlichen Titel des Repressions-Weltmeisters erobert, noch vor Italien, China und Österreich – erschreckend daran: viele Deutsche merken es nicht.

Um so wichtiger ist es, ernsthaft den Ausstieg aus der Corona-Krise ins Auge zu fassen. Denn immer offensichtlicher treten die Folgen einer einseitigen Ausrichtung aller Politikbereiche auf ein einziges Thema zutage. Die Regierung, die gern anderen das Verbreiten von Falschmeldungen vorwirft, hat sich selbst in ein Kartenhaus aus Irrtümern und Achtelwahrheiten verkrochen. Der Blick aus dem Fenster ins Offene erscheint unmöglich. Tatsächlich aber kann sich die Bekämpfung von Infektionskrankheiten auf vier Säulen stützen:

1. Säule: Schutz der gefährdeten Menschen, im Falle von Covid der Hochbetagten und einschlägig Vorerkrankten

2. Säule: medizinische Versorgung der symptomatisch Infizierten, insbesondere eine wirksame Früherkennung und Frühbehandlung

3. Säule: Kontakteinschränkungen

4. Säule: ergänzend Impfungen, wenn die Wirkstoffe und die Art der Verabreichung die Übertragung der Infektion verhindern

2020, im ersten Jahr der Corona-Krise, bezogen sich fast alle Maßnahmen – ob es sich um Masken, Abstand oder Ausgangssperren handelte – auf Säule drei: Kontakteinschränkungen. 2021, im zweiten Coronajahr, kam Säule vier dazu. Die Impfung war an das Versprechen gekoppelt, daß sie der wichtigste Wirkfaktor sei, mit dem die Pandemie bekämpft werden könne. Sobald alle Menschen ein Impfangebot erhalten haben, sollte der Ausnahmezustand beendet werden, hieß es noch im März 2021 von höchster Regierungsseite. Es kam anders. Die Impfung hielt nicht, was von ihr versprochen wurde. Sie verhindert weder die Übertragung der Infektionskrankheit noch mindert sie in einem Umfang schwere Verläufe, daß man sie zum Eigenschutz als verläßlich bewerten kann. Impfdurchbrüche dominieren das Geschehen. Von den (teilweise als Immunreaktion beabsichtigten) Impfnebenwirkungen und den (langfristigen) Impffolgen ist dabei noch keine Rede. Die Kosten-Nutzen-Bilanz der Impfung sieht bisher enttäuschend aus. Wie geht die Politik damit um? Sie verschärft das Impfangebot zur Impfflicht, wohl wissend, daß damit der Ausbreitung der Infektion nicht Einhalt geboten werden kann, sondern im Gegenteil Escape-Varianten wahrscheinlicher werden, vor allem wenn die Impfkampagne mitten in eine laufende Welle hinein agiert.

Doch wie steht es um die Säulen eins und zwei? Die gefährdeten Menschen auf menschliche Weise zu schützen, ist keine leichte Aufgabe. Isolation und Wegsperren der Hochbetagten, wie es in vielen Pflegeheimen geschehen ist, bedeutet eine massive psychische Belastung, die in etlichen Fällen tödlich endet, vor allem bei dementen Heimbewohnern – nicht unbedingt in Form von Suiziden, sondern in Form von Verkümmerung und Vereinsamung. An die Stelle des Todes tritt der elende Tod – damit erreichen die „Schutzmaßnahmen“ das Gegenteil von dem, was sie vorgeben, erreichen zu wollen: die Dehumanisierung des Menschen. Also, Freunde, christlich ist das nicht! Denn der Mensch ist weder eine Maschine noch ein rein biologisches Wesen, sondern eine biopsychosoziale Einheit. Psychoneuroimmunologische Konzepte sind gefragt, wenn es um  den Schutz der vulnerablen Menschen geht. Abstandhalten und Tests können nur einen physischen Schutz bieten. Wichtiger aber ist es, das täglich alternde und vielfach geschwächte Immunsystem zu stärken: in erster Linie durch sozialen Kontakt, aber auch durch Bewegung, Spiel, Freude, Vitamine, frische Luft – Aus­gangssperren sind immunologisch Gift! –, Eigenverantwortung und Selbst­wirk­sam­keitserleben – sogenannte weiche Faktoren, die von bestimmten Interes­sens­vertretern nicht nur unterschätzt, sondern belächelt und letztlich ignoriert werden. Wer Forschungsansätze und die Therapiepraxis dazu kennenlernen möchte, findet reichlich Lektüre, z.B. bei Christian Schubert von der Uni-Klinik Innsbruck.

Säule zwei ist bisher in Deutschland ausgefallen. Zumindest hören wir von der Regierung nichts dazu und in den öffentlichen Medien wenig. Wenn wir einmal den Vergleich zu HIV ziehen: ein wirksamer Impfstoff wurde in den letzten Jahrzehnten nicht gefunden. Kontakteinschränkungen sind für die Infizierten geboten und strafrechtlich sanktioniert: als ungeschützter Geschlechtsverkehr, ansonsten nicht. Die soziale Integration HIV-positiver Menschen ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die zu einem funktionierenden flächen­deckenden Netzwerk der Aidshilfe geführt hat. Die Entwicklung wirksamer, effektiv lebens­erhaltender Medikamente hat Quantensprünge gemacht: HIV-positive Menschen können fast normal leben.

Es wird Zeit, vom heimlichen Vorbild der Pocken-Impfung wegzukommen, wenn es um eine Strategie im Umgang mit der Corona-Krise geht, und sich am Umgang mit dem HI-Virus zu orientieren: eine Impfung, die zur Ausrottung des Coronavirus führt, hat sich als Illusion erwiesen; die Nebenwirkungen und Risiken sind momentan nicht kalkulierbar, weil unzureichend erfaßt. Also erscheint es vernünftig, sich auf ein Leben mit dem Virus einzustellen – was für die überwiegende Mehrheit der Menschen, die dank ihres natürlichen Immunsystems nur einen asymptomatischen Verlauf zeigt, den mit Abstand gesündesten Weg darstellt. Die Politik steht vor der ehrenvollen Aufgabe, die Irrtümer zuzugeben, das Machtspiel zu beenden, die Deeskalation einzuleiten, die Weisheit der Bevölkerung ernst zu nehmen, statt sich auf handverlesene Experten zu verlassen, die in Interessenskonflikte verwickelt sind. Dazu wäre ein politischer Charakter von Nelson Mandela oder Martin Luther King vonnöten. In Aussicht ist er nicht.

Also sind die medizinischen Ressourcen auf die Früherkennung und frühe Behandlung von symptomatisch infizierten Menschen zu lenken. Hier gibt es – weitgehend unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung – in den letzten beiden Jahren erhebliche Fortschritte, mit denen es möglich ist, schwere Verläufe in den allermeisten Fällen zu verhindern. Zahlreiche Länder machen es vor und haben uns, was den Rückgang der Infektionszahlen betrifft, weit überholt: Mexiko, Schweden, Südafrika… Als Hindernis steht dabei hierzulande die medizinisch grob fahrlässige Quarantäne-Regel im Weg: Statt den betroffenen Menschen mit symptomatischer Infektion me­dizinisch beizustehen, schicken wir sie in die Isolation und geben dem Virus 10 oder 14 Tage die Chance, sich ungestört im Körper zu vermehren. Hier kommt es aber auf Geschwindigkeit an, um die Virenvermehrung zu stoppen – und dazu gibt es mittlerweile eine Reihe erfolgversprechender Mittel. Medizinische Einzelheiten finden sich beispielsweise in den Präventions- und Behandlungs­protokollen für der „Front Line COVID-19 Critical Care Alliance“ (FLCCC). Als Beispiel möchte ich außerdem  Carragelose erwähnen, ein natürlicher Stoff, der aus Rotalgen gewonnen wird, einen Schutzfilm als physikalische Barriere bildet und auf diese Weise verhindert, daß Viren die Schleimhaut infizieren, ihre Erbinformation in die Schleimhautzellen einschleusen und sich dort vermehren und ausbreiten. Vorteilhaft ist nicht nur, daß der Wirkstoff dort ansetzt, wo auch der Virus angreift, nämlich im Nasen-Rachen-Raum statt in der Muskulatur wie bei der herkömmlichen Impfung in Oberarm oder Gesäß. Vielmehr funktioniert dieser Mechanismus bei vielen weiteren Erkältungsviren, nicht allein dem Coronavirus, auf das die öffentliche Diskussion gegenwärtig in geradezu psychopathologischer Weise fixiert ist. „Ein Carragelose-haltiges Nasenspray bewirkt eine 80-prozentige relative Risikoreduktion für eine Infektion mit SARS-CoV-2“, sagt Prof. Dr. Ulrich Schubert, Forscher am Virologischen Institut des Universitätsklinikums Erlangen. Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene empfiehlt dem Klinikpersonal auf COVID-19-Stationen schon seit Dezember 2020 die Verwendung von Carragelose-Nasen­sprays. „Aber auch die Allgemeinbevölkerung kann damit ihre persönlichen Schutz­maßnahmen zur Vorbeugung erweitern“, sagt Ulrich Schubert. „Angesichts der In-vitro-Daten bin ich davon überzeugt, daß der breite Einsatz von Carragelose-Sprays gerechtfertigt ist und einen Nutzen haben kann. Zum einen wirkt Carragelose praktisch nebenwirkungsfrei gegen SARS-CoV-2, zum anderen schützt sie auch gegen verschiedene Erkältungsviren, wofür es umfangreiche Belege aus dem Labor und aus klinischen Studien gibt. Jede verhinderte oder verkürzte Erkältung reduziert insgesamt die Belastung unseres Gesundheitssystems, das jede Entlastung gebrauchen kann.“

Was haben wir davon in den öffentlichen Medien gehört oder gesehen? Welche Nasenspray-Experten wurden in die endlosen Talkshowrunden eingeladen? Welche Rückendeckung und finanzielle Unterstützung finden Ansätze zur medizinischen Versorgung von Covid-Patienten im Frühstadium sowie zur aktiven Gesundheits-Selbstfürsorge bei den „Gesundheitsministern“? Statt positiv und konstruktiv dem Einzelnen Sinn und Orientierung, Zukunftsperspektiven und Eigenverantwortung zuzusprechen und damit den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken, hagelt es von Seiten der Regierenden falsche oder leere Versprechungen, Halbwahrheiten und Widersprüche, einseitige Fixierung auf die vierte Säule der Impfungen, schließlich gesellschaftlich hochgefährliche Ausgrenzung, Diskriminierung, Verbote, Drohungen, Schwarzmalerei, Panikmache, Hysterie und eine Generalisierung der Angst. Wieviel Naivität ist nötig, um bei einer derart hohen Dosis an toxischer Kommunikation noch auf demokratische Zustimmung in der Bevölkerung zu hoffen?

Hier soll es weder um eine Abrechnung mit den allgemein beklagten Mißständen noch um eine detaillierte medizinische Handreichung für die Therapie von Covid-Patienten gehen. Vielmehr ist zunächst eine grundsätzliche Neuorientierung gefragt, eine Strategie, die aus der Sackgasse, in die uns die Politik der ehemals bürgerlichen Parteien gelenkt hat, herausführt zur Normalität, d.h. zu den bürgerlichen Grundrechten und Freiheiten. Ich fasse die notwendigen Schritte in fünf Punkten zusammen:

1. Covid ist als eine normale Infektionskrankheit zu behandeln: d.h. symptomatisch Erkrankte erhalten eine Differentialdiagnostik nach den üblichen Regeln der ärztlichen Kunst, damit die unspezifischen Erreger der Erkältungssymptome nach ihrer jeweiligen Ursache unterschieden und medizinisch behandelt werden können; das vermeintliche Verschwinden der Grippe und des Keuchhustens im Zuge der sogenannten Corona-Pandemie ist eindeutig als Artefakt infolge einseitiger Tests zu interpretieren. Allgemein gilt im Falle von Virusinfektionen der Grundsatz: Auf die Früherkennung kommt es an. Reine Quarantäne als überholtes, mittelalterliches Rezept der sozialen Isolation ist zu vermeiden, vielmehr sollen Symptome durch Multiplextests im breiten Spektrum nicht nur auf ein mögliches, sondern auf sämtliche bekannten Erkältungsviren überprüft werden, damit Ärzte die entsprechenden Therapeutika evidenzbasiert im Früh­stadium anwenden können. Die Fixierung auf ein einziges Infektionsvirus ist obsolet. Die Berücksichtigung der natürlichen Vielfalt der krankheitsverursachenden Erkältungsviren bei symptomatisch Erkrankten soll wieder medizinischer Standard werden, um eine individuell angemessene Behandlung zu ermöglichen.

2. Flächendeckende PCR-Tests und Antigen-Schnelltests bei gesunden Personen entsprechen nicht den Validierungsvorschriften dieser Verfahren, sind als ungültig zu bewerten und mit sofortiger Wirkung zu unterlassen. Insbesondere sind die Corona-Massentests an Schulen einzustellen, da sie weder epidemiologisch noch medizinisch ins Gewicht fallen. Um sowohl im Einzelfall, z.B. beim Besuch hochbetagter Verwandter, als auch für die öffentliche Gesundheit zu einer konstruktiven Teststrategie zu wechseln, sind Tests zum Nachweis der T-Lymphozyten („Gedächtniszellen“) als langanhaltende Immunantwort auf die verschiedenen Infektionsviren heranzuziehen. Mit dem Test auf aktive Gedächtniszellen sind folgende Vorteile verbunden: a) das Testergebnis gibt Auskunft über den Status der aktiven Immunabwehr der getesteten Person, b) das Testergebnis gilt nicht nur kurzfristig für 24 oder 48 Stunden, sondern langfristig über Jahre und ist daher geeignet, der positiv getesteten Person Selbst­vertrauen in ihre natürliche Immunabwehr zu geben. Es entsteht ein psychoneuroimmunologischer Kreislauf der Selbstverstärkung des Immun­systems. Zugleich wird das Gesundheitssystem massiv entlastet. Überflüssige Intensiv­kapazitäten, die im weltweiten Vergleich vor allem in Deutschland gewuchert sind, können dann tatsächlich abgebaut werden. Denn sie werden letztlich nur mit Patienten „aufgefüllt“, um die Profitinteressen der Krankenhausbetreiber zu befriedigen. (Wie kommt es, daß Schweden mit 5 Intensivbetten besser klarkommt als Deutschland mit 27 Intensivbetten pro 100’000 Einwohner?)

3. Menschen, die über keine T-lymphozytäre Immunantwort verfügen, können auf Wunsch Ganzvirus-Impfstoffe erhalten, im Fall von Corona z.B. „Sinovac“, „Valneva“, „Soberana“ oder am besten „Mambisa“ – diese Impfstoffe regen eine breitere Immunreaktion an als die momentan eingesetzten gentherapeutischen mRNA-Präparate, die bestenfalls eine Immunantwort auf Fragmente des Spikeproteins hervorrufen, das sich infolge permanenter Mutationen rasch ändern kann. Die europäische Medizinagentur EMA, die sich in den letzten Monaten vor allem durch unterschwellige Marketing-Aktionen für Biontech/Pfizer und sonst nichts hervorgetan hat, also durch Verhinderung von Konkurrenz und Marktwirtschaft, sollte diese weltweit erprobten Wirkstoffe auch in Europa zulassen. Außerdem werden die nachhaltig unkalkulierbaren Risiken und Nebenwirkungen der ungenügend erprobten und erforschten mRNA-Impfung vermieden. Im Falle von aerosolbasierten Virusinfektionen – dies betrifft nicht nur, aber auch Coronaviren – sind öffentliche Fördergelder vor allem für Wirkstoffe einzusetzen, die eine Anwendung in Form von Nasenspray ermöglicht.

4. Langanhaltende, in der Regel über Jahre hinweg wirksame Immunität gegenüber ansteckenden Er­kältungsviren wird vor allem durch die natürliche Infektion ermöglicht, die bei gesunden Per­sonen den Königsweg zur Erhaltung der Gesundheit sowohl für den Einzelnen als auch die Gesellschaft insgesamt beschreibt. Im Fall des Coronavirus ist unstrittig, daß die „Gefährlichkeit“ des Virus vor allem vom Alter der Person abhängt. Sämtliche Kontakteinschränkungen für die Allgemeinbevölkerung – im Neusprech künstlich als „Lockdown“, „2G“, „2G+“ oder „3G“  bezeichnet  – sind mit sofortiger Wirkung aufzuheben. Sie bedeuten eine Geißelhaft der Mehrheit der ungefährdeten Bevölkerung zugunsten eines kleinen Teils der gefährdeten Bevölkerung, mit anderen Worten: eine Verwechslung von allgemein- und spezialpräventiven Maßnahmen, die, wenn man sie konsequent durchsetzte, zu massiver gesellschaftlicher Unruhe führen würden. Sämtliche Grundrechte, qua Geburt jedem Menschen durch die Ver­fassung bedingungslos garantiert, sind ohne Abstriche wieder einzusetzen. Anstatt Kontakte sozialphobisch zu vermeiden, ist es aus immunologischer und epidemiologischer Sicht wünschenswert, daß die Bevölkerungsteile, die kein oder nur zu einem verschwindend geringen Prozentsatz bei einer Coronainfektion ein schweres Atem­wegssyndrom erleiden würde, durch soziale Kontakte eine aktive Immunabwehr heraus­bilden und zugleich ihre psychische Gesundheit stärken können. Nach der aktuell vor­herrschenden, angstorientierten Ideologie („Team Vorsicht“) mag diese Strategie paradox erscheinen. Angst ist bekanntermaßen ein schlechter Ratgeber. Kurzatmiges Denken verstrickt sich in Widersprüche. Wer die Angst vor der Freiheit und dem sozialen Kontakt verinnerlicht hat, der schaue auf vorbildliche Länder, die von Beginn der Pandemie an auf Lockdown-Maßnahmen verzichtet haben, z.B. Taiwan oder Schweden: Sie haben die Corona-Krise, in der wir noch immer so scheinbar ausweglos tief stecken, seit langem überwunden, nein, sie haben die Corona-Krise lediglich von außen beobachtend erlebt und in erster Linie wirtschaftlich zu spüren bekommen, weil in den Ländern um sie herum die Lieferketten etc. eingebrochen sind. Also: keine Angst vor der Freiheit! (Die FDP hat sich ohne Not noch vor dem Abschluß der Regierungsbildung als er größter Verräter der bürgerlichen Freiheit erwiesen – welche Lobby steckt wohl dahinter?) Wenn wir uns die Hände geben und miteinander in Kontakt sind, wenn wir feiern und tanzen, trainieren wir unser Immunsystem! Laßt euch von den Ideologen der Angst nicht einschüchtern und in die (psychische) Krankheit treiben! Vor­sichts­maßnahmen sind nur dort zu treffen, wo Menschen aus persönlichen Gründen nicht (mehr) in der Lage sind, eigenverantwortlich für ihren Selbstschutz zu sorgen, z.B. bei einer Demenzerkrankung oder geistigen Behinderung – hier ist es erforderlich, daß Fremdfürsorge die Selbstfürsorge ergänzt, nicht nur in Hinsicht auf die Gesundheit, sondern auch in anderen Fragen des Alltagslebens.

5. Strukturell ist die Rückabwicklung des 2003 in Deutschland eingeführten Fallpauschalen-Abrechnungssystems bei den Kran­ken­kassen die entscheidende Präventionsmaßnahme, um einer Perversion des „Gesund­heitssystems“ im Sinne der Profitmaximierung vorzubeugen. Finanzielle Fehlanreize werden sich im Versicherungssystem nie gänzlich vermeiden lassen. Das System der Fallpauschalen führt jedoch nicht nur im Falle von Covid und der lukrativen künstlichen Beatmung, sondern in zahlreichen Fällen der Apparatemedizin zu einer ungesunden, ja tödlichen Entwicklung, in der die Klinikprokuristen informell mehr Einfluß auf die Diagnose haben als die Ärzte. In der Folge kann sich unser hochgelobtes, sogenanntes „Gesund­heitssystem“ finanziell allein durch die Vergabe bestimmter Krankheitsdiagnosen selbst erhalten – mit anderen Worten: Wir haben dank McKinsey & Co. unser Gesundheitssystem in ein Krankheitssystem verwandelt. Hier bedarf es grundsätzlicher gesellschaftlicher Debatten, der Offenlegung von Finanzstrukturen und schließlich energische Richtungs­entscheidungen. Der momentane „Gesundheitsminister“ K. L. als einer derjenigen, die mit Ulla Schmidt 2003 die Einführung des Fallpauschalen-Systems zu verantworten haben, ist dafür die am meisten ungeeignete Personalie.

Fassen wir die fünf Punkte zusammen, mit denen der Ausstieg aus der Corona-Krise auf dem kürzesten und sichersten Weg gelingt:

1. Behandelt Covid als eine normale Infektionskrankheit, d.h. legt Wert auf Früherkennung im Einzelfall und eine angemessene medizinische Behandlung durch den Hausarzt anstelle von Quarantäne. Entlohnt die Hausärzte dafür entsprechend. Auf diese Weise können schwere Verläufe nahezu vollständig verhindert und die Krankenhäuser entlastet werden.

2. Ersetzt Antigen-Schnelltests und PCR-Tests durch Tests auf T-Lymphozyten und erkennt deren Wirksamkeit über einen Zeitraum von Jahren statt von ein bis zwei Tagen an.

3. Vergeßt die Impfpflicht mit experimentellen mRNA-Wirkstoffen und bietet stattdessen den Menschen, die noch nicht über eine natürliche Immunantwort auf die aktuellen Erkältungsviren verfügen auf freiwilliger Basis eine bewährte Ganzvirusimpfung an, am besten in Form eines Nasen­sprays. Die Inanspruchnahme dieses Angebots soll weder Privilegien noch Verbote nach sich ziehen.

4. Fördert soziale Kontakte für alle Menschen, die sich eines gesunden Immunsystems erfreuen – sie stärken damit ihre eigene Gesundheit und entlasten das öffentliche Gesundheitssystem. Mut zur Freiheit!

5.  Wickelt das System der Fallpauschalen (DRG) wieder ab! Wir brauchen ein an den Bedürfnissen der Menschen orientiertes Gesundheitssystem, das nicht in erster Linie Profitinteressen verfolgt.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!

Die bürgerliche Gesellschaft kann sich nicht ausruhen auf einst errungenen Siegen oder Zugeständnissen der herrschenden Kaste. Sie wird von Partikularkräften auseinandergerissen. Demokratie muß heute nicht erkämpft werden, sie muß überzeugen. Verliert eine einst demokratisch legitimierte Funktionärsschicht die Bürgernähe, selbst wenn sie nur eine vermeintliche Minderheit ausgrenzt, diskriminiert, verfemt und verfolgt, pflanzt sie damit den Spaltpilz.

Mit dem Advent 2021 beginnt zum zweiten Mal ein Winter, in dem die Menschen in die Vereinzelung geschickt und die Kultur stillgelegt wird. Sozialismus oder Barbarei – so  beschrieb Rosa Luxemburg im Ersten Weltkrieg den Scheideweg, an dem die Gesellschaft ihrer Meinung nach stand. Wir Nachgeborenen wissen, daß sich die Gesellschaft damals für die Barbarei entschied. Im April letzten Jahres formulierte Slavoj Žižek das Schlagwort angesichts der Herausforderungen und Zumutungen durch Corona um in Katastrophenkommunismus oder Barbarei. Heute stellen wir fest: Es macht keinen Unterschied.

Welche Perspektive bietet die aktuelle Politik? Gegenwärtig dreht sie das Rad von der vierten Welle / dritten Impfung weiter zur fünften Welle / vierten Impfung und so fort ad infinitum. Die aktuellen Meldeformulare des RKI für die Krankenhäuser reichen gerade bis zur 6. Impfung 2023. Die Phantasie- und Perspektivlosigkeit der politischen Entscheider ist es, die sie auf den vermeintlich bequemen Weg der Verbote, Einschränkungen und Zwangs­maßnahmen, bis hin zur (teilweisen) Impfpflicht verführt. Die von den Funktionären verbreitete Perspektivlosigkeit und die Behauptung, sie sei alternativlos, zieht die Zuspitzung der Lage nach sich: Wenn kein echter Kurswechsel vollzogen wird, werden die  Entscheider an den Punkt kommen, wo sie  nicht mehr können, und die Menschen, über deren Köpfe hinweg entschieden wird, werden nicht mehr wollen. Wie sprach Laozi, der große Weisheitslehrer der Menschheit, in Kapitel 72 seines Buches Vom Weg und der Wirkkraft?

Fürchtet das Volk Abschreckung nicht,
folgt der große Schrecken.

Ohne Enge sei Platz zum Wohnen,
ohne Überdruß der Lebensalltag.

Nur wer es nicht zum Überdruß reizt,
dessen wird es nicht überdrüssig …

Manche mögen sich an Lenin erinnert fühlen: „Erst dann, wenn die Unterschichten das Alte nicht mehr wollen und die Oberschichten in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen.“ (W. I. Lenin, Der ‘linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kom­mu­nismus, Berlin: Dietz 1959, S. 738)

Der Überdruß wächst. Solange Ausgrenzung, Diskriminierung und Diffamierung von staatlicher Seite betrieben werden, weitet sich der Kulturbarbarismus aus und es entwickelt sich eine revolutionäre Stimmung, erst in den Niederlanden und Belgien, dann in Österreich, jetzt in auch Deutschland. Die Ostdeutschen haben Erfahrung mit friedlichem Widerstand. Der System­zusam­menbruch von 1989 ist noch in frischer Erinnerung. Auch damals ahnten viele zunächst nichts davon und verharrten in ihrer Kleingartensparte (Osten) oder Wellnessoase (Westen), lenkten sich ab und betäubten sich mit Selbstbeschäftigung. Manch ein heutiger Ministerpräsident besuchte 1989 noch die Grundschule oder Polytechnische Oberschule – kein Wunder, daß sie kein Gespür für den autoritären Gestus haben, auf den lebenserfahrene Menschen allergisch reagieren, Gesundheit hin oder her.

Eine Bevormundung wie in der DDR will sich keiner mehr bieten lassen, schon gar keinen vormundschaftlichen Staat – das ist die Karte, die jetzt gespielt wird. Beide Seiten haben technisch aufgerüstet, das Internet ermöglicht schnelle Kommunikation und Netzwerkbildung. Was in Tunesien, Algerien, Georgien, der Ukraine, Weißrussland aus der Ferne nur demokratie­theoretisch ge­priesen wird, will man demokratiepraktisch hierzulande nicht eingestehen: eine orangene Revo­lution. Tatsächlich sind es die Eliten der repräsentativen Parteiendemokratie, die sich eigendynamisch, oder sagen wir eigenmächtig von der Bevölkerung abgekoppelt haben. 20 Monate Regieren auf dem Verordnungsweg hat autoritäres Durchgreifen salonfähig gemacht. Daß es um Gesundheit geht, nimmt der Regierung kaum noch jemand ab – dazu haben sich die öffentlichen Medien in zu viele, für jedermann und jedefrau offenkundige Widersprüche verstrickt, Stichwort „Vollaufen der Intensivbetten“ als scheinheilige „Begründung“ für sämtliche Freiheitsbeschränkungen, während im Hintergrund die vorhandene Bettenkapazität als Folge eines bis in die Wurzeln mit monetären Fehlanreizen aufgestellten, profitorientierten „Gesundheitssystems“ still und heimlich abgebaut wird. Wer es nicht glauben mag, blicke ins Ärzteblatt vom 10.12.2021: aktuell wurden 34 Kran­ken­häuser mit Mitteln aus dem staatlichen Strukturfonds geschlossen …

Wenn die Politik nicht in der Lage ist, das Gesundheitssystem so zu steuern, daß es für die Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung da ist statt für diverse Profitinteressen, wenn sie nicht in der Lage ist, in den letzten Jahren – bereits lange vor Corona – politisch gesetzte finanzielle Fehlanreize im System rückabzuwickeln, d.h. das Fallpauschalensystem postwendend abzuschaffen, wenn sie sich stattdessen von den Interessenvertretern, die am (vermeintlichen) Kranksein der Menschen verdienen, vor sich hertreiben läßt, dann ist der Punkt erreicht, an dem sie der Bevölkerung die Schuld dafür nicht in die Schuhe schieben kann.

Ist das nun nur eine revolutionäre Stimmung, befeuert im Stundentakt von ein paar sozialen Medien, oder ist das schon eine revolutionäre Situation? Will die Bevölkerung nicht mehr – Stichwort: Es reicht! – wie es auf den Demonstrationen immer wieder zu hören ist, und die Re­gie­rungen können nicht mehr, was sich in immer hilfloser erscheinenden Polizeieinsätzen, mittler­weile bereits gegen Alte und Kinder zeigt?

In der „östlichen“, d.h. griechisch-römischen, „autoritären Demokratie“, die uns Europäern in die kulturelle Wiege gelegt wird, ist es Usus, daß die Mehrheit über die Minderheit hinweg entscheidet und sich im Recht fühlt. Im Unterschied dazu beruht die „westliche“, d.h. indigen-amerikanische Demokratie auf dem Grundsatz, die Minderheit nach ihrer Façon leben zu lassen. Denn unzufriedene Minderheiten bedeuten Explosivstoff für die gesamte Gesellschaft. Reife Gesellschaften schützen ihre Minderheiten gegen die überbordende Macht der Mehrheit. Die europäische Demokratie hat daraus 1789 ihren bis heute uneingelösten Wahlspruch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit abgeleitet. Diese indianische Weisheit scheint den europäischen Regie­rungen während der Pan­demie abhanden gekommen zu sein. Stattdessen glauben die Funktionäre, sie könnten den (vermeintlichen) Mehrheits­willen mit Zwang und Gewalt durchsetzen. Damit heizen sie die Spannung an und steuern geraden­wegs auf jenen Kippunkt zu, den sie eigentlich umschiffen wollen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit werden der Bevölkerung nicht geschenkt, sondern müssen in jeder Zeit auf’s Neue eingefordert werden. Heute bedeuten sie das sofortige Ende jeglicher faktischen Ausgrenzung und Diskriminie­rung in Form von „1G“, „2G“ oder „3G“. Daran zeigt sich, ob die Demokratie lernfähig ist.