Ja, als ich die erhabene Flamme der Liebe in mir trug, die aus den immer gleichen einfachen Elementen geschaffen war, aber einen neuen Inhalt, neuen Sinn erhalten hatte, weil die Träger dieser Liebe Ljubow Dmitrijewna und ich waren – „ungewöhnliche Menschen“ ; als ich jene Liebe in mir trug, von der man auch nach meinem Tode in meinen Büchern noch lesen wird – liebte ich es, im armseligen Dorf elegant zu reiten auf einem schönen Pferd; liebte ich es, einen armen Bauern nach dem Weg zu fragen, welchen ich ohnedies wußte, um „vornehm zu tun“, oder ein hübsches Weiblein, daß wir einander flüchtig anblitzten mit den weißen Zähnen, daß es zuckte in der Brust ohne Grund, von nichts, außer etwa der Jugend, dem feuchten Nebel, ihrem sonnverbrannten Blick, meiner gestrafften Taille – und das störte diese erhabene Liebe nicht im mindesten (war es so? Und wenn die späteren Abstürze und Wurmstiche von dort herrührten?), im Gegenteil – fachte die Jugend an, die pure Jugend, und mit der Jugend in eins loderte jene erhabene „a n d e r e“ Flamme auf…
Alexander Blok, Tagebuch, 6. Januar 1919
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Die europäische Unruhe der Jahrhundertwende gewann in Rußland ihre einzigartige Radikalität durch die Verlagerung des revolutionären Weltzentrums und die Vorboten der Revolution von 1905 bis 1907 und führte in allen Künsten zu neuen Entdeckungen. Der Realismus, den Maxim Gorki, Iwan Bunin und Leonid Andrejew schrieben, begann schon in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die russische und die Weltliteratur unübersehbar zu beeinflussen. Zur gleichen Zeit traten Schriftsteller auf, die angesichts der veränderten Weltsituation diese Erneuerung des Realismus mit Skepsis beobachteten und andere Wege suchten – die russischen Symbolisten.
Der russische Symbolismus war eine Kunst der Synthesen. Die Veränderung, die er in der russischen Kultur bewirkte, ist auf die eigentliche kunstgeschichtliche Phase von 1895 bis 1910 nicht zu beschränken. Andrej Belys „Petersburg“ und Fjodor Sologubs „Der kleine Dämon“ oder Alexej Remisows ornamentale Geschichten in der Prosa, Alexander Blok und Innokenti Annenski in der Lyrik, Wsewolod Meyerhold und Vera Kommissarshewskaja auf dem Theater, das russische Ballett, Michail Wrubel in der Malerei und Alexander Skrjabin in der Musik – sie alle verursachten Umwälzungen, ohne die die sowjetische Kunst undenkbar wäre und deren Tragweite bis heute erkundet wird. Weit besser als diese Kunst der Synthesen kennen wir die Kunst der Analysen, jene 1910 einsetzende mächtige Leidenschaft des Zerlegens und Zerfällens, die selbst noch die ästhetischen Verfahren und Materialien zum Gegenstand ihres Entzückens machte. Die Unvermeidlichkeit dieses Sturms der Analyse, den die Visionäre der Zergliederung entfesselten – Welimir Chlebnikow, Wladimir Majakowski, Sergej Eisenstein, Sergej Tretjakow, Juri Tynjanow und Juri Olescha: jeder auf seine Art -, begreift man aber nicht, wenn man die Weltsynthesen nicht kennt, die ihm vorausgingen. Die Analysen reagierten nämlich kraft neuer revolutionärer Erfahrungen und Funktionsideale kritisch auf die Welteinheit in den Synthesen der Symbolisten, und es ist kein Wunder, daß sich bei Blok nach 1910 ein deutlicher Wandel im Synthesebegriff vollzieht.
Die Anstrengungen der russischen Symbolisten richteten sich vor allem gegen ein simples Nacherzählen der Welt, das sich mit der Ausbreitung von echtem Milieu, von tatsächlichen Zuständen und Vorkommnissen begnügte. Diese Sicht entsprach freilich in keiner Weise der tatsächlichen Leistung der neuen Realisten, die den revolutionären Umbruch nicht nur sozialkritisch sichteten, sondern sozialpädagogisch förderten.
Die Symbolisten suchten nach einer Authentizität kosmischer Art: Der Text sollte im Zusammenstoß der Andeutungen, Analogien und Suggestionen den kosmischen Zusammenhang aller Erlebnisse des modernen Menschen herstellen. Ob aber das gewonnene Symbol des Zusammenhangs allein die Vorstellung des einzelnen Bewußtseins sei oder vielmehr Wiedergabe eines Objektiven, darüber ist es im Laufe der fünfzehn Jahre mehrfach zum Streit gekommen, denn von dieser Entscheidung hing sowohl die Kunstauffassung wie der Begriff der Weltsynthese ab. Als die Dichter 1910 den Zustand des Symbolismus besprachen, prallten die beiden Auffassungen noch einmal scharf aufeinander. Valeri Brjussow verteidigte den Symbolismus als pure Kunst gegen Wjatscheslaw Iwanow und Alexander Blok, die mit dem Symbolismus über Kunst hinausstrebten – „andere Welten schauten“.
Es konnte so aussehen, als vertrete Brjussow hier die Autonomie der Kunst, während seine Gegner, wie er argwöhnte, sie der Religion unterwerfen wollten. Tatsächlich hat gerade Brjussow als Dichter, als Übersetzer, Redakteur und Organisator des Symbolismus für die Emanzipation der Kunst und die Aufnahme der zeitgenössischen westeuropäischen Künste, besonders des französischen Symbolismus, so viel getan, daß ihn Nikolai Gumiljow schon 1910 den Peter den Großen der russischen Kultur nennen durfte. Aber eigentlich ist es doch nicht darum gegangen. Das entscheidende Problem des Streits war das Verhältnis von Kunst und Dichterleben. War die Weltsynthese Kunst oder Leben? Blok 1910: „Ich stehe vor der Schöpfung meiner Kunst und weiß nicht, was ich tun soll. Anders gesagt: was ich mit diesen Welten tun soll, was ich auch mit dem eigenen Leben tun soll, das von nun an Kunst geworden ist, denn seine Schöpfung lebt neben mir – nicht lebendig, nicht tot, eine blaue Vision. Klar sehe ich das Wetterleuchten zwischen den Brauen der Wolken des Bacchus (Eros von Wjatscheslaw Iwanow), klar unterscheide ich die Perlmutter der Flügel (Wrubel – Der Dämon, Die Schwanenprinzessin) oder höre das Rascheln der Seide (Die Unbekannte). Doch all das ist Vision.
Bei dieser Lage der Dinge erheben sich die Fragen nach dem Fluch der Kunst, nach der Rückkehr zum Leben, nach dem gesellschaftlichen Dienen, nach der Kirche, nach Volk und Intelligenz. Das ist eine ganz und gar natürliche Erscheinung, die freilich dem Symbolismus innewohnt, denn es ist die Suche nach dem verlorenen goldenen Schwert, das das Chaos aufs neue durchbohrt, die tosenden violetten Welten ordnet und besänftigt.
Der Wert dieses Suchens liegt darin, daß es die Objektivität und Realität jener Welten augenfällig macht ; hier bestätigt sich, daß all die Welten, die wir besuchten, und all die Geschehnisse, die sich darin abspielten, keineswegs unsere Vorstellungen sind, das heißt, daß die These und Antithese bei weitem nicht nur von persönlicher Bedeutung sind.“
Alexander Bloks Weltsynthesen gehören hier sicher zu den bemerkenswertesten und gefährdetsten: Sie sind ausschließlich das Werk eines Lyrikers. Während alle anderen Symbolisten immer wieder gelehrte Texte schrieben (manchmal beachtlichen Umfangs wie Brjussows Puschkin-Studien, Iwanows Dionysos-Abhandlung, Belys Gogol-Monographie oder Mereshkowskis Tolstoi- und Dostojewski-Darstellungen), blieb Blok Lyriker, was er auch unternahm. Seine Dramen, seine Prosa, seine Briefe, selbst seine Darstellung über die letzten Tage des Zarenreichs sind die eines Lyrikers, und der Versuch, ein erzählendes Poem mit Milieu und Fabel zu schreiben, blieb ein Fragment. In seiner Prosa „Kunst und Zeitung“ ist nachzulesen, wie er vom Dichter fordert, in der Sprache der Poesie auch für die Zeitung zu schreiben. Und Wjatscheslaw Iwanow meinte diese Leistung des Lyrikers, als er im Januar 1921 von Blok sagte: „Im Umgang ist seine Rede so einfach, scheinbar bringt er keine zwei Worte zusammen, aber in seinen Gedichten weiß er intuitiv Sachen von dir, so intime Erlebnisse, die kein anderer weiß.“
Die Skepsis, die tiefe Abneigung, welche Blok in immer neuen Anfällen gegen das Lyrische hegte, zeigt, wie bewußt er sich der Gefahren war. Daß Blok bis zum Schluß so großen Wert auf die Zyklisierung seines gesamten Werkes legte, von kleinen Einheiten bis zur Trilogie, und viele Male Großformen ins Auge faßte, „Nachtigallengarten“, „Vergeltung“ oder „Rose und Kreuz“, hängt mit der Suche nach bündigen Strukturen für Taumel und Gewalt des Lyrischen zusammen. Aber diese vollkommene Übertragung der Menschheitskultur in die Sprache des Gedichts verlieh Bloks Poesie die Bezauberung. Man könnte von Blok sagen, schrieb Ossip Mandelstam 1922, er sei der Dichter der „Unbekannten“ und der russischen Kultur.
Nicht daß die „Unbekannte“ und die „Schöne Dame“ Symbole der russischen Kultur seien, „aber das gleiche Verlangen nach Kult, das heißt nach einer zweckvollen Entladung poetischer Energie, leitete sein Schaffen im Thematischen und genoß ihren höchsten Augenblick im Dienst an der russischen Kultur und der Revolution“.
Blok hielt die Last seiner Weltsynthesen „im Schweben von Bagatellen“, wie es im Juni 1909 in einem seiner italienischen Gedichte steht:
Die Kunst – Last, auszutragen, die die Schultern drückt.
Und doch – wie halten wir, die Dichter, uns im Schweben
Von Bagatellen, die das Leben tauscht, entzückt.
Wie süß, dem freien Nichts der Zeit sich hinzugeben
Mit Nichtstun, spürn im Leib das Blut
Singend wenden,
Sich – hinter einem Federwölkchen – Glut,
Die rote Lieb, erhaschen mit den Händen.
Die Glut erhaschen mit den Händen: Der Dichter befreie die Klänge aus dem Chaos, füge zur Harmonie und trage diese Harmonie in die Welt. Bloks ständige Sorge ist das Tagebuch seines Weges, die Trilogie der Vermenschlichung, wie er seine drei Bücher Gedichte nennt, deren Abteilungen und Texte er viele Male umstellte und änderte. Die peinlich genaue Datierung und wechselnde Anordnung baut eine ausgedehnte, an Gegenden reiche Welt voll Wahnsinn und Vergessen, voll Heiterkeit und heimlicher Freiheit – seine Weltsynthese: von einem Augenblick überhellen Lichts durch den unumgänglichen Sumpfwald zu Verzweiflung, Verdammnis, „Vergeltung“ und zur Geburt eines „gesellschaftlichen“ Menschen, eines Künstlers, der der Welt mutig ins Auge sieht.
Entscheidend war die Vorstellung von der Zeit. Die Trilogie der Vermenschlichung meint kein Nacheinander, und die Ansiedlung der Gedichte in der Kalenderzeit bekräftigt nur deren Entmachtung. Die Poesie vertilge die Kalenderzeit, die etwa technische Fortschritte einander ablösen läßt. Poesie folge jener anderen Zeit, die Blok die musikalische nennt.
Musikalische Zeit meint – in größeren Zeiträumen empfinden, denken, leben: Die Catilinischen Verschwörungen im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung sind eine Seite in der Geschichte der Weltrevolution, und der Sieg über die Tartaren in der Schlacht auf dem Kulikowo-Felde am 7. und 8. September 1380 ist ein Ereignis in der russischen Volksseele von heute. Musikalische Zeit meint – Tatsachen aus allen Lebensbereichen, die dem Dichter in einem bestimmten Augenblick zugänglich sind, zueinanderordnen: Alle zusammen schaffen immer einen einheitlichen musikalischen Stoß. Musikalische Zeit meint – Leben jenseits des eingetretenen Kalendertags. Nicht in der Vernachlässigung des unansehnlichen Alltags vor dem strahlenden Feiertag der Zukunft. Sondern die Empfindungen ausbildend für jeden kommenden Umbruch in Stimmung, Haltung, Lebensart.
Was hier für ein Jahr oder Jahrtausende gilt, galt Block ebenso für jeden Tag und für die Welt überhaupt. Es war die Einheit der Welt, die er auf seine Weise beschrieb – wie hier 1921 in der Puschkin-Rede „Von der Bestimmung des Dichters“: „In den bodenlosen Tiefen des Geistes, wo der Mensch aufhört, Mensch zu sein, in Tiefen, die den Geschöpfen der Zivilisation – dem Staat und der Gesellschaft – unzugänglich sind, schweben Klangwellen, die gleich den das ganze Weltall umfangenden Ätherwellen sind, dort kommt es zu rhythmischen Schwankungen, ähnlich jenen Prozessen, die Gebirge, Winde, Meeresströmungen, Pflanzen und Tiere hervorbringen.“
Musik als Urgrund der Welt und Lyrik als unmittelbar abhängig vom Geist der Musik zu sehen war im Rußland des beginnenden 20. Jahrhunderts ohne Friedrich Nietzsches „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ und ohne Richard Wagners Musik nicht denkbar. Blok hat das 1900 russisch erschienene Buch des deutschen Philosophen 1906 gelesen und lange Passagen mit Genugtuung herausgeschrieben. In seinem Aufsatz „Die Dichtung der Beschwörungen und Zaubersprüche“ von 1906 zitiert Blok als Bekräftigung seines frühen Synthesebegriffs, der Auffassung von der Ungeschiedenheit von Wort und Tat in der Beschwörungsorgie, aus Nietzsches „Fröhlicher Wissenschaft“ den Satz, der die bannende Macht des Rhythmus in der Mythologie erläutert: „… ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott.“ Der Kontext bei Nietzsche ist allerdings eher abfällig. Er fährt fort: „Ein solches Grundgefühl läßt sich nicht mehr völlig ausrotten – und noch jetzt, nach jahrtausendealter Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus …“ Bloks Nietzsche- und Wagnerbild sind genausowenig bekannt wie seine Beziehung zur deutschen Romantik, etwa Novalis – feststeht aber, daß er die beiden Freund-Feinde mit Ibsen und Strindberg als Kronzeugen für seine Ansicht anrief, daß der deutsche und der skandinavische Geist neben dem russischen Geist die größten Opfer im Kampf mit den Gegnern der Elementarkräfte gebracht habe.
Die Oktoberrevolution, die Blok, seinen Weltsynthesen entsprechend, als Teil eines Jahrtausendereignisses – des Anbruchs einer neuen Menschheitszeit – nicht mit der Französischen Revolution, sondern mit den Anfängen des Christentums verglich, ermunterte ihn, Ahnungen und Gewißheiten deutlicher auszusprechen, von denen seine Trilogie der Vermenschlichung längst getragen gewesen war und die Blok in einem neuen Augenblick überhellen Lichts 1918 in die „Zwölf“ geschrieben hat, sein sowohl offenstes wie verschlossenstes Gedicht. Bloks nachrevolutionäre lyrische Prosa befragte die Synthese der „Zwölf“, versuchte eine Rückannäherung, die Wiedergewinnung der nur kurz behaupteten (ertragenen?) Höhe. Sie entwarf mit der musikalischen Zeit in der Geschichte, mit dem Vergeltungsdenken, mit dem Zusammenbruch des Humanismus und seiner Ablösung durch die Welt des Künstlermenschen die Aussicht einer artistischen Sensibilisierung für die wirklichen Vorgänge in der Welt, die der neuen Menschheitszeit entsprechen sollte.
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Bloks unmittelbar anschauendes Weltverhältnis meidet alle vereinzelnden Zugänge zur Welt, um mit einemmal den Blick auf das Ganze, die Empfindung des Ganzen, das Symbol des Ganzen zu gewinnen – den Geist der Musik, die rhythmischen Schwankungen in der Tiefe. So sind seine Gewißheiten zu verstehen: „In unseren Herzen hat der Seismographenzeiger bereits ausgeschlagen“ (1908). „Mit jeder Faser des Körpers und des Herzens, mit dem ganzen Bewußtsein hört die Revolution“ (1918).
Das Gleichgewicht von Geistigkeit und Körperlichkeit hielt Blok für die Grundvoraussetzung des Lebens in der neuen Zeit. Die Kräftigung des Leibes sah er in einem Wechselverhältnis zur Kräftigung der poetischen Strukturen. 1910 und 1911, als er an dem Poem „Vergeltung“ arbeitete, waren „musikalisches und Muskelbewußtsein“ eins. Wie bei ständiger Handarbeit eine rhythmische Ausbildung der Muskeln an den Armen, dann auf der Brust und auf dem Rücken erfolge, so sollte der Rhythmus des Poems entstehen. Der Verlust des physischen und geistigen Gleichgewichts beraube einen unweigerlich des musikalischen Gehörs, der Fähigkeit, aus der Kalenderzeit, dem über die Welt nichts aussagenden Gang der historischen Tage und Jahre auszubrechen und in jene andere, nicht meßbare Zeit vorzudringen.
Der Ausbruch aus der Kalenderzeit erscheint in Bloks Dichtung als das Wagnis und die Aufgabe der angebrochenen Menschheitszeit. Kalenderzeit war für Blok die chronologisch vereinzelnde Folge der Ereignisse, das Genügen am Tage, die Welt ohne ihren kosmischen Zusammenhang. Kalenderzeit war für Blok ein positivistisches Aufhäufen von Details, aus dem er in die musikalische Zeit der Geschichtlichkeit ausbrechen mußte. Der Dichter dringe in die musikalische Zeit vor, indem er das Gefühl für seinen Weg ausbilde. Im Februar 1909, wenige Monate bevor in Italien das Gedicht „Die Kunst – Last auszutragen“ entstand, beschrieb Blok in seiner Prosa „Die Seele des Schriftstellers“ den Zusammenhang von Weg und Zeit in seiner Kunst:
„Nur wenn solch ein Weg erkennbar ist, läßt sich der ‚Takt‘ des Schriftstellers, sein Rhythmus bestimmen. Nichts ist gefährlicher als der Verlust dieses Rhythmus. Die fortwährende Anspannung des inneren Gehörs, das Lauschen auf eine wie aus der Ferne vorüberklingende Musik ist eine unerläßliche Voraussetzung für das Dasein des Schriftstellers. Nur wer die Musik des fernen ‚Orchesters‘ (und das ist eben das ‚Weltorchester‘ der Volksseele) vernimmt, kann sich ein leichtes ‚Spiel‘ erlauben.“ Blok meinte damit besonders die Sensibilität für Beschleunigung und Verkürzung in der Geschichte. 1910 betonte er, daß die Russen in den vergangenen zehn Jahren mehr durchgemacht hätten als andere in hundert Jahren.
Was Blok hier aussprach, war schon die Erfahrung aus seiner Trilogie der Vermenschlichung. Wer sich dem „‚Weltorchester‘ der Volksseele“ stellt, kennt weder Zuflucht noch Geborgenheit. Das „leichte ‚Spiel'“ war von der Art, die Blok im Gedicht „O dies Spiel“ vom 18. Dezember 1913 vortrug: Der Dichter als der ewig Erblickte, der nicht weiß, wessen Blick ihn trifft. Dies die vierte und sechste der neun Strophen:
Nichts quält schlimmer als dies Ungefähr!
O das Graun des Blicks, den man nicht fängt,
Der uns schamlos einkreist und bedrängt:
Doch wer ists, der uns belauert, wer?
…
Dieser Blick, ob bös, ob gut gesinnt –
Besser wärs, er nähm uns nie zum Ziel!
Zu viel fremde Kraft, die in uns spinnt,
Unerforschter Energien Spiel…
Blocks Ausbruch aus der Kalenderzeit befestigte in der russischen Literatur einen Begriff von Zeitgenossenschaft, der die Stunde des Dichters immer als die Stunde Rußlands und die Stunde der Menschheit nahm. Blok liebte es, sich mit etwas so Unfaßbarem wie der Atmosphäre der Epochen – „Unerforschter Atmosphären Spiel…“ – zu befassen, weil er selber die Atmosphäre seiner Epoche so stark empfand. Denn was waren ihm seine Dichtungen anderes als das Ausschlagen des Seismographenzeigers in einer Epoche der Stürme und Katastrophen. Je sensibler ein Dichter sei, hieß es in der Catilina-Prosa, um so unzertrennter empfinde er Eigenes und Nicht-Eigenes. Daher seien die zartesten und intimsten Sehnsüchte der Seele des Dichters in Zeiten der Stürme und Katastrophen übervoll von Sturm und Katastrophe.
Das Vordringen in die musikalische Zeit befreit den Dichter aus dem Wust des aktuell Tatsächlichen, das die wirklichen Vorgänge verdeckt. Gegenstand bleiben die Sehnsüchte und Erschütterungen der Seele oder, wie Blok in seiner Wagner-Prosa schrieb, „das rettende Gift der schöpferischen Widersprüche“. Die bedeutendste Äußerung über die Catilinischen Verschwörungen als ein Zeichen für den Zusammenbruch einer Epoche fand Blok daher auch in dem Gedicht Catulls „Attis“, dessen Gelegenheit in nichts an die aktuellen geschichtlichen Vorkommnisse erinnert, das aber in den Galliamben, dem Versmaß der rasenden Orgientänze, den ungleichmäßigen, hastigen Schritt des Verdammten, den Schritt des Revolutionärs, des römischen „Bolschewiken“, in dem der Sturm des Zorns klingt, überdeutlich zu erkennen gebe.
Die Betonung liegt nicht auf der Parallele von Catilina und Catull, sondern auf der Ankündigung des Sturms in Tat und Gedicht. Nur so auch sind Bloks Dichtungen zu verstehen. Übervoll von Sturm und Katastrophe, sind sie nicht Zeugnisse eingetretener Revolutionen, sondern Zeugnisse der ungeheuren schöpferischen Widersprüche einer neuen Zeit, welche sie in ihren Anfängen noch kaum zu benennen weiß.
Mit dieser unerschrockenen Annahme und dem offenen Austrag des Kampfs der Gegensätze in seiner Dichtung wurde Blok auch für sowjetische Dichter bestimmend, die seiner Poetik nicht folgten. Für Ossip Mandelstam, der ihn einen Mann des 19. Jahrhunderts nannte, aber seine Sensibilität für die unterirdische Musik der russischen Geschichte als einzigartig pries. Für Anna Achmatowa, die seine symbolistische „Sternenarmatur“ nicht mochte, aber ihn als „Tschelowek-Epocha“ bezeichnete. Für Boris Pasternak, der die romantische Vorstellung vom Dichterleben verwarf, in dessen Rückschau auf die Revolution nach vierzig Jahren aber unüberhörbar Bloksche Töne klingen: „In diesem bedeutsamen Sommer 1917, zwischen den beiden Daten der Revolution, schien es, als versammelten sich und redeten auf den Meetings auch Bäume, Wege und Sterne. Die Luft schien kilometerweit erfüllt von flammender Inspiration, sie schien Persönlichkeit geworden, beim Namen zu nennen, beseelt und sehend.“ Aber ebenso für die Prosa, für Isaak Babel, Michail Bulgakow, Andrej Platonow und Maxim Gorki, dessen nachrevolutionäre Prosa ohne die Auseinandersetzung mit Blok, Bely und Sologub nicht denkbar ist.
Was sie mit Blok verbindet, sind ihre Vorstellungen von Zeit und Kunst, ihre neuen Weltsynthesen, deren Voraussetzungen Ossip Mandelstam in der Woronesher Zeit mit einer Gefahrenwarnung benennt: „Wenn ein Schriftsteller es für seine Pflicht hält, koste es, was es wolle, ‚das Leben tragisch zu sagen‘, aber auf seiner Palette keine tiefen kontrastierenden Farben besitzt, und vor allem das Gefühl für das Gesetz nicht hat, nach dem das Tragische, auf welch kleinem Abschnitt es immer entstehe, sich unweigerlich in ein allgemeines Bild der Welt einfügt – bringt er nur ‚Halbfabrikate‘ von Schrecken und Borniertheit hervor, Rohmaterial, das Ekel erregt und bei der wohlmeinenden Kritik den zärtlichen Namen ‚Milieu‘ trägt.“
3
Bloks Revolutionsverständnis war an sein Vergeltungsdenken gebunden. Weder seine bedingungslose Annahme des Oktober noch seine spätere Klage über das Verstummen der Musik der Revolution sind außerhalb dieses Zusammenhangs zu begreifen. Soziales Verhalten, geistige Produktivität, schöpferische Widersprüche leiteten sich für ihn nie aus ökonomischen Besitzverhältnissen und politischen Entscheidungen her. Blok verstand die Revolution als verdiente Vergeltung für die sozialen Sünden der Vergangenheit und verteidigte sie gegen die sklavischen Ängste, gegen den Krämerstil der russischen Intelligenz. Er schloß aber, Alexander Herzen folgend, die Bourgeoisie aus dieser historischen Kette aus. Weder durch liberalen Humanismus noch Sentiments, noch politische Ökonomie dürfe das hohe, kalte und zornige Wissen um die soziale Ungleichheit erniedrigt werden. Der Bourgeois wird als unschöpferisch verteufelt. Die realgeschichtlichen Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat spielen für Blok keine Rolle. Die Bolschewiki waren für ihn eine Zeitlang etwas viel Größeres als eine politische Partei, und Lenin akzeptierte er nicht als Marxisten sondern als einen russischen Revolutionär, der das Vermächtnis Bakunins und der russischen Bauernaufstände vollstreckte. In einem Brief vom Februar 1909 hat Blok die Kräfte benannt, die seiner Meinung nach mit Elementargewalt zur Revolution drängen:
„Der gegenwärtige russische Staatsapparat ist natürlich mieses, geiferndes, stinkendes Alter, ein siebzigjähriger Syphilitiker, der mit einem Händedruck die gesunde Jünglingshand infiziert. Die russische Revolution ist in ihren besten Vertretern – Jugend mit einem Nimbus rings um das Gesicht. Auch wenn sie noch nicht ausgereift ist, auch wenn sie oft knabenhaft unweise ist – morgen ist sie erwachsen. Das ist doch klar wie der helle Tag.
In den Fragmenten russischer Literatur von Puschkin und Gogol bis Tolstoi, in den Seufzern der gemarterten russischen Demokraten des 19. Jahrhunderts, in den hellen und unbestechlichen, den nur vorübergehend getrübten Blicken der russischen Bauern ist uns eine gewaltige (nur noch nicht in den eisernen Ring des Gedankens gefaßte) Konzeption eines lebendigen, mächtigen und jungen Rußlands vermacht. Wenn irgendwo diese Vermächtnisse aufbewahrt werden, dann natürlich nicht in den Herzen der ‚Realpolitiker‘ (selbst nicht der realsten und lebendigsten von ihnen – der Kadetten), nicht im stolypinschen, nicht im romanowschen – sondern in jenen Herzen nur, die beunruhigt und geöffnet sind, in den Gedanken, die diese Konzeption in sich aufnehmen wie frische Luft. Wenn etwas lebenswert ist, dann das. Und wo ein solches Rußland ‚heranreift‘, dann natürlich – nur im Herzen der russischen Revolution im weitesten Sinn, einschließend die russische Literatur, Wissenschaft und Philosophie, den jungen Bauern, der sich zurückhaltend Gedanken macht ‚immer über das gleiche‘, und den jungen Revolutionär mit dem vor Wahrheit strahlenden Gesicht, und überhaupt alles Unangepaßte, Zurückgehaltene, Gewittrige, mit Elektrizität Übersättigte. Diesem Gewitter hält kein Blitzableiter stand.“
Nicht daß die beschleunigten Kapitalisierungsprozesse in Rußland Blok verborgen geblieben oder von ihm geringgeschätzt worden wären. Es gibt Versuche, sich diesen Vorstößen zu einem „Neuen Amerika“, wie ein Gedicht aus dem Jahr 1913 heißt, zu stellen. So gewiß er aber den reinigenden Sturm die Welt des Schreckens und der Totentänze hinwegfegen sah, so ungewiß blieb ihm das Kommende. Im Prolog zum Poem „Vergeltung“, an dem er seit dem Tod des Vaters 1910 bis zu seinem Tod 1921 mit langen Unterbrechungen arbeitete, stehen die Verse:
Über Europa reißt ein Vieh
Von Gier gequält auf seinen Rachen.
Wer wird ihn töten, diesen Drachen?
Wir wissens nicht. Wie eh und nie
Hülln unsre Grenzen sich in Dunst.
Was jenseits liegt – wir sehn es nicht,
Wir spürn nur, daß es brandig riecht –
Dort wütet eine Feuersbrunst.
Daß dieser Drachen der Erstarrung und des Widergeists auch durch die „Wiedergeburt Rußlands durch die Fabrik“ besiegt werden könnte, hat Blok in einem Drama zu fassen versucht, über das er zwischen 1913 und 1916 nachdachte. Fertig geworden ist es nicht, und es werde, meinte Blok schließlich, einem anderen zur Vollendung aufgetragen – „keinem Liberalen und keinem Konservativen, sondern einem Ruhelosen wie ich“. Es seien dafür noch mehrere, auch historische Anläufe nötig. Geschrieben haben es vielleicht Wladimir Majakowski in „Wladimir Iljitsch Lenin“ und Andrej Platonow in seinen großen Geschichten und Romanen von den prometheischen Meistern, von den Künstlern auf ihren Lokomotiven und in den Wüsten der dreißiger Jahre. War es doch Blok bei dieser Wiedergeburt um die Erneuerung der Art gegangen, die sowohl die Dämonisierung des Subjekts als auch seine Verflüchtigung in der Funktionalität hinter sich läßt.
Mit der Überwindung des Dämonismus hat sich Blok sein Leben lang herumgeschlagen. Am quälendsten in seinem Poem „Vergeltung“: „In Katastrophen und Stürzen befreien sich meine ‚Rougon-Macquarts‘ allmählich aus der russisch-adligen éducation sentimentale, ‚Aus Kohle wurde Diamant‘, Rußland zu einem neuen Amerika; zu einem neuen, nicht zu dem alten Amerika.“
Ein aufbegehrendes und jäh hinstürzendes russisches Geschlecht sollte von den siebziger Jahren des alten Jahrhunderts bis in die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts verfolgt werden. Blok wollte zeigen, wie der Aufruhr in der ersten Generation entkräftet ist durch den letzten Abglanz von Skepsis und Weltschmerz eines epigonalen Byronismus, aber ebenso durch die ersten Anzeichen der Ermüdung des nahenden Fin de siècle. In der zweiten Generation wird der Aufruhr gedämpft durch die Empfindungsstumpfheit des Sohnes des neuen Jahrhunderts. Und erst in der dritten Generation, die aus der Verbindung des Sohns des „Dämons“ mit der Tochter eines fremden Volkes, des polnischen, hervorgeht, werde das Neue sichtbar auf seine Umgebung einwirken können. So beginne das Geschlecht, das die Vergeltung der Geschichte, des Milieus, der Epoche an sich erfuhr, seinerseits Vergeltung zu üben. Der neue Sproß schaffe es vielleicht, in das Rad der Menschheitsgeschichte zu greifen. Leitmotiv der Vergeltung solle die Mazurka sein, der Tanz, der für Blok die alten Kämpfe zwischen Rußland und Polen begleitete. Im Poem sollte die Mazurka anfangs leicht aus einem Petersburger Fenster erklingen, dann auf einem Ball sich mit dem Sporengeklirr der Offiziere mischen und endlich hinausdringen auf die polnischen Felder, über das nächtliche Warschau, in den Schneesturm.
Die Erneuerung der Art – „Aus Kohle wurde Diamant“ – sah Blok nicht als ein allmähliches Fortschreiten. Gerade dem Zorn gegen die naiven Fortschrittstheorien verdankte das seinem Material nach autobiographische Poem die weiterreichende poetische Idee. In seinem Vorwort von 1919 deutete Blok die Situation an, in der der Plan für die Dichtung entstanden war. Es handelt sich um die Jahre 1910 und 1911. 1910 starben russische Künstler, die für Blok Entscheidendes bedeutet hatten. Mit Vera Kommissarshewskaja starb für Blok der lyrische Ton auf dem Theater. Mit Wrubel die Unersättlichkeit des Suchens bis zum Wahnsinn. Mit Tolstoi die menschliche Zärtlichkeit, die weise Menschlichkeit. 1910: Krise des Symbolismus, Aufkommen der neuen Richtungen – Ego-Fururismus, Akmeismus, Kubo-Futurismus. 1911: die großen Eisenbahnerstreiks in London, „Panthersprung“ nach Agadir, heißer Sommer, der das Gras bis in die Wurzeln verdorren ließ, Interesse für Ringkampf, tödliche Flüge, schließlich im Herbst die Ermordung des Innenministers und Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin, die das Land, das sich bislang noch halb in den Händen des Adels und der Beamten befunden hatte, endgültig unter die Herrschaft der Polizei brachte.
Alle diese Tatsachen aus unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit hätten, so Blok, jenen einheitlichen musikalischen Sinn, den er immer wieder aufzufinden suchte. Allerdings bezeichnet die Arbeit an dem nie vollendeten Poem auch einen wichtigen Einschnitt in Bloks Vorstellungen von der Einheit der Welt. Wenn er in den Jahren vor und nach der Revolution von 1905 bis 1907 seinen Weltsynthesen das mystische Ineinsgehen aller Erscheinungen zugrunde legte, so datiert ab 1910 ein verstärktes „Bewußtsein der Ungeteiltheit und Unvereintheit von Kunst, Leben und Politik“. Der Unterschied ist gravierend. Wort und Tat fallen nicht mehr ununterscheidbar zusammen. Die 1906 durch die Nietzsche-Lektüre gestützte Vorstellung von der Dichtung als Beschwörungsorgie wird distanzierter betrachtet. Eigengesetzlichkeit der einzelnen Bereiche und Unendlichkeit der Übergänge bedingen einander. Synthese so begriffen heißt: Der unendliche Prozeß der Vereinigung und inneren Durchdringung vernichtet nicht die Gegensätzlichkeiten.
Wenn Revolution Vergeltung war, dann offenbarte sich das Schöpfertum der Massen in der Zerstörung. So sah es Blok. Niemand aus seinem Kreis hat mit dieser Unerschrockenheit die Vernichtung der alten Welt selbst in den Grimassen der Revolution angenommen wie Blok. Die Musik der Revolution erklang für ihn im Krachen des Zusammenbruchs. Die Mazurka der „Vergeltung“ schlug um in die Lieder der proletarischen Kämpfe, die im Poem „Die Zwölf“ abgerissen durch den Schneesturm klingen. Natürlich entging ihm auch die Arbeitsseite der Revolution nicht. Aber dies seiner Dichtung zugrunde zu legen, erwies sich als unmöglich.
Im Februar 1920 bezeichnete er noch einmal den Augenblick. In jeder Bewegung komme es zu einer Minute der Verzögerung, einer Minute der Besinnung, der Ermüdung, des Verlassenseins vom Geist der Musik. In der Revolution, wo nichtmenschliche Kräfte wirken, sei das eine besondere Minute. Die Zerstörung ist noch nicht abgeschlossen, geht aber schon zurück. Der Aufbau hat noch nicht begonnen. Die alte Musik ist schon nicht mehr, die neue – noch nicht.
(Konzepte Leipzig, S. 37-52)
Die Kunst – Stoff auf den Schultern,
Doch schätzen dafür wir, die Dichter,
Leben in Kleinigkeiten früh’rer Jahre!
Wie süß, der Faulheit hinzugeben sich
Zu spüren, wie in Adern Blut
Sich umwälzt singend,
Eindrückend in die Hitze Liebe
Zu fangen hinterm fliegend Wölkchen
Und träumt, es würd‘ das Leben selbst
Ersteh’n im ganz Champagnerglanz
Im zärtlich blubbernd Zitterklang
Des wetterleuchtend cinéma!
Und übers Jahr – im fernen Land:
Die Müdigkeit, Stadt unbekannt,
Die Menge,- und erneut im Kegel
Die Züge der Französin grande!..
Offenbar handelt es sich bei obigem Text um eine Übersetzung jenes Texts aus dem Juni 1909, welchen Fritz Mierau zur Grundlage seiner Deutung nahm, als er schrieb:
Blok hielt die Last seiner Weltsynthesen „im Schweben von Bagatellen“…
Mit der neuen und, wie mir scheint, genaueren Übersetzung müsste das nun paraphrasiert werden als:
Blok baute/gründete (dabei…) [das Selbstverständnis] seine[r] Weltsynthesen auf „Kleinigkeiten früh’rer Jahre“…
Es gibt ein Spiel: einzutreten mit Zagen,
Um dem Blick der Leute nicht sichtbar zu sein;
Mit den Augen die Beute zu erjagen:
Und unbemerkt auf ihrer Spur zu sein.
Wie auch immer der Mensch taub und blind
Sei, der da wird betrachtet –
Er wird spüren das, was ihn betrachtet
Selbst wenns in der Ecke stumme Lippen nur sind.
Und ein anderer versteht gleich, was ihn behext:
Schulter und Hand zucken wie im Verzicht;
Und dreht er sich um – ist da nichts;
Nebenbei gesagt – seine Unruhe wächst.
Dadurch ist schlimm, dass man dich betrachtet,
Dass du unmöglich den Blick fangen kannst:
Du spürst, was du nimmer verstehen kannst,
Wessen Auge dich da betrachtet.
Ist nicht Berechnung, Verliebtheit, nicht Rache;
So ist Spiel wie Spiel unter Kindern:
Und in jeder Menschenversammlung sind
Derart Gottes Spione, diese Betrachter.
Und auch selbst verstehst du manchmal nicht,
Warum dieses dir widerfährt,
Dass als du selbst du zu Leuten gehst
Und reiterlos sie verlässt, als Pferd.
Es gibt den bösen und guten Blick,
Doch besser wär’s, keiner betrachtete
Uns: deren überreiches Geschick
Manches Mal schon jede[n] entmachtete…
Oh, Gefühl! Selbst in tausend Jahren
Ermessen wir nicht diese Seele:
Haben jedes Planeten Bahn erfahren und
Trauern im Donner noch ob der Stille…
Aber noch – im Unbekannten sind
Wir, wie Kinder, und spielen voll Glut
Diese Spiele mit uns, und der Wind
Treibt dir selbst und ihm/ihr das Feuer ins Blut…
18. Dezember 1913
Prolog
(…)
Wer schwingt das Schwert? – Der ohne Furcht ist.
Doch hilflos bin ich, schwach,
Wie alle, so wie ihr, – ein kluger Knecht nur,
Aus Lehm gemacht und Friedhofserde, –
Die Welt ist mir ein einziger Schrecken.
Dem Helden steht nicht frei zu kämpfen, –
Sein Arm ist Volkes Arm,
Ein Feuerpfosten steht über der Welt,
Und jedes Herz, jeder Gedanke
Birgt seine Willkür, sein Gesetz…
Über Europa schwebt ein Drache
Weit offenen Mauls, zuckt in Begierde…
Wer bringt den Schlag ihm bei?..
Wir sehen: über unserem Leib*
*(Sozialmaschine, Notfallregiment)
Ist wie in alter Zeit die Ferne eingekreist von Nebel,
Sticht in die Nase Grillgeruch. Es brennt.
An die Muse
Es gibt in deinen geheimen Gesängen
Ein kundiges Zeichen vom Tod.
Es gibt einen Fluch heiliger Testamente,
Eine Verunglimpfung des Glücks gibt es.
Und solch eine anziehende Kraft,
Dass ich bereit bin, dem Gemurmel folgend zu bezeugen,
Als ob du Engel herabführtest,
Mit deiner Schönheit verführend…
Und wenn du dich über den Glauben lustig machst,
Entzündet sich über dir plötzlich
Jener milde, graupurpurne
Und irgendwann von mir erblickte Schein.
Bist böse, gut du? – Du bist ganz nicht von hier.
Weise wird von dir gesagt:
Für andere bist du Muse und Wunder.
Für mich Leiden und Hölle.
Ich weiß nicht, warum im Morgengrauen,
In der Stunde, da ich schon kraftlos war,
Ich nicht starb, sondern dein Gesicht bemerkte
Und von dir Stillung meines Leidens erbat?
Ich wollte, wir wären Feinde,
Und wofür schenktest du mir
Eine Wiese voll Blumen und einen Himmel voller Sterne –
Diesen ganzen Fluch deiner Schönheit?
Und zwiespältiger als die nordische Nacht,
Und kühner als das goldne Aiij,
Und als die Zigeunerliebe kürzer
Waren deine furchbaren Liebkosungen…
Und es war eine kundige Freude
In der Übertretung uralt-heiliger Regel,
Und eine wahnsinnige Herzensbeseligung –
Diese bittre Leidenschaft, wie Wermut!
(29. Dezember 1912)