„Wenn ein einsichtiger König regiert, zeigt sich sein Wirken überall unterm Himmel, ohne daß er selbst in Erscheinung tritt; die zahllosen Lebewesen wandeln sich, und das Volk gerät nicht in Abhängigkeit; niemand wird gepriesen und gerühmt, alle finden Freude in sich selbst; er richtet sich auf durch das, was sich nicht ermessen läßt, und spaziert dort umher, wo nichts ist.“ (Zhuangzi, 7.4)
Wir haben durch Lenins Brille auf den pandemisch angegriffenen Westen geblickt – ein noch klareres Bild erkennen wir, wenn wir den Blick gen Osten richten, wo der Marxismus/Leninismus bis heute den ideologischen Überbau der Herrschenden bildet, ohne ernsthaft als Analyseinstrument der aktuellen Lage genutzt zu werden: Mao Zedong (wörtlich „Wohltäter des Ostens“), einst als „Steuermann der Weltrevolution“ gepriesen, vollbrachte unter zahllosen Menschenopfern das Wunder, mit einer schlecht ausgerüsteten Bauernarmee, Japan zu besiegen und den Bürgerkrieg gegen die reaktionäre Kaste von Chiang Kaishek (Jiang Jieshi) zu gewinnen, der sich 1949 schließlich mit einem Großteil der kaiserlichen Schätze nach Taiwan absetzte, um auf der Insel die „Republik China“ auszurufen. Seitdem blickt Mao’s Konterfei vom Tor der Verbotenen Stadt herunter auf den Platz des Himmlischen Friedens. Doch der alternde Revolutionär kam nicht zur Ruhe. Von der Idee beflügelt, die Industrieproduktion des Westens zu übertrumpfen, befahl er den Bauern, „die Stadt auf das Land zu bringen“, in den Dörfern Volkskommunen zu gründen, Werkzeuge selbst zu bauen, Rohstoffe vor Ort zu finden – das hieß letzten Endes die kaum vorhandene chinesische Industrie zu dezentralisieren, Mini-Hochöfen anzufeuern und auf diese Weise Stahl zu gewinnen. Es sollte der „Große Sprung nach vorn“ werden, der China, die Sowjetunion und den Ostblock mit wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit an die Spitze des Fortschritts katapultieren sollte, und mündete in der größten Hungerkatastrophe der Menschheit, die von 1959 bis 1962 währte: In wenigen Jahren starben nach offiziellen Angaben der chinesischen Regierungen 15 Millionen Menschen, nach inoffiziellen Schätzungen waren es 45 bis 55 Millionen. Zu dieser Zeit kam es noch darauf an, die Sterbeziffer in der Propaganda stark zu untertreiben. Augenzeugen berichteten von eng beeinander liegenden Leichen in den Straßengräben.
Für Mao war dies nicht genug. Die Genossen „der ersten Front“, u.a. Liu Shaoqi – der wie Mao Sohn reicher Bauern war und eine Ausbildung zum Lehrer absolviert hatte – und Deng Xiaoping (seit 1923 sein Parteiname, der wörtlich „Kleiner Friede“ bedeutet), erklärten den Klassenkampf für beendet und versuchten, das Land mit Hilfe der Anreize eines regulierten Marktes zu ordnen und mit ruhiger Hand aufzubauen. Mao witterte Verrat. Für ihn galt der Spruch: „Mit Chaos auf Erden erreicht man Ordnung im Land.“ Er betrauerte Stalins Tod, mißtraute der Tauwetter-Politik Chrustschows, dessen Kritik an den Volkskommunen zum Bruch zwischen China und der Sowjetunion führte. Mao befürchtete, daß aus der Unterschicht neue Ausbeuter hervortreten und die Stelle der alten Feudalherren einnehmen würden. Als sich die „erste Front“ vom permanenten Revolutionär abwandte, nutzte er den schwelenden Generationenkonflikt, um die studentische Jugend gegen die neue Funktionärskaste aufzuhetzen: die Große Sozialistische Kulturrevolution begann, forderte im Laufe von zehn Jahren schätzungsweise bis zu 20 Millionen Opfer und stürzte China erneut in den Ruin.
Der Pragmatiker Deng Xiaoping erfand ab 1975 die „sozialistische Marktwirtschaft“, mit der sich China tatsächlich sprunghaft nach vorn zu bewegen begann. Noch auf dem Sterbebett unterstellte ihm Mao, er sei „ein kleiner Kapitalist mit rechter Gesinnung“, der vom Klassenkampf nichts verstünde und in der alten kapitalistischen Demokratie stehen geblieben sei. (Changshan Li, 2010, S. 190). Hat Mao mit dieser Einschätzung recht behalten?
Nach Mao’s Tod stürzte die Parteiführung die Viererbande – so hatte Mao selbst noch das ihm suspekt erscheinende Bündnis genannt, das seine letzte Ehefrau Jiang Qing mit den linksextremen Parteisoldaten Wang, Yao und Wang aus Shanghai eingegangen war, um während der Kulturrevolution die Macht, insbesondere in den staatlichen Medien, auszuüben und zur Gewalt aufzustacheln. Mit der Beschränkung der Amtszeit hoher Beamter und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung für die Volksrepublik entfesselte Deng das chinesische Wirtschaftswunder. Indem sich das Billiglohnland China als Werkbank der Welt darbot, wurde nicht nur in kürzester Zeit ein epochaler Wohlstand erarbeitet. Vielmehr gelang es der chinesischen Wirtschaft den westlichen Kapitalismus, allen voran Amerika, Zug um Zug in ihre Abhängigkeit zu ziehen. Während sich im Westen die Staatsschulden anhäufen, wachsen in der Volksrepublik die Dollarreserven. Der Zwang, daß westliche Firmen joint venture mit chinesischen Firmen eingehen müssen, wenn sie auf dem chinesischen Markt verkaufen wollen, führte zu einem signifikanten brain drain: Wurde den Chinesen vorgeworfen, westliche Produktionsgeheimnisse auszuspionieren und westliche Technologie zu kopieren, geht die technische Innovation nun vielfach von der Volksrepublik aus. Satelliten im Orbit, Taikonauten, Monderkundung, Marsmissionen sind nur die Speerspitze dieser Entwicklung. Indem sich der Westen illusorisch als Hort der Freiheit im Denken und Handeln selbst mißversteht, während die wirtschaftliche Dynamik tatsächlich von der exponentiell wuchernden Bürokratie gebremst und behindert wird, unterschätzt er das chinesische Innovationspotential.
Freiheit in China spielt sich vorrangig außerhalb der Hauptstadt ab, in den Provinzen und Sonderwirtschaftsregionen, wo der Arm der Zentralgewalt nicht hinreicht. „Regieren unter Verzicht auf Eingriffe in den natürlichen Lauf der Dinge“ – ein Grundsatz aus der Philosophie Laozi’s, auf den sich chinesische Politiker gern berufen, wenn es gilt, den autoritären Kern zu verschleiern. In der Praxis werden Regeln pragmatisch gebrochen, Interessen rücksichtslos durchgesetzt. Großprojekte scheitern nicht an Fledermaus-Habitaten oder einstöckigen Wohnhäusern ohne Kanalisation, die den Trassen der Industrialisierung im Wege stehen. Menschenrechte, Umweltbelange – kein Hindernis. Im Westen erscheint der radikale Pragmatismus, von dem in China tätige Architekten und Firmenchefs schwärmen, als Ausdruck eines zentralistischen Durchgriffs. Doch auch dies ist eine Fehleinschätzung: Die Führung in Beijing wußte nach dem Ende der Kulturrevolution, daß die Wirtschaft nur Fahrt gewinnt, wenn sie dezentral von Einzelnen vorangetrieben wird. Familien, Gruppen, Clans sind es, die die Regeln bestimmen – der chinesische Staat agiert fröhlich mit.
Insofern ist die „sozialistische Marktwirtschaft“ der Volksrepublik seit Mitte der 1970er Jahre ein staatskapitalistisches System mit marxistisch-maoistischer Fassade, die an den Universitäten nach wie vor zum Pflichtprogramm gehört. In der Volksrepublik muß sich der staatsmonopolistische Sektor nicht erst entwickeln, indem er mühsam die Verwaltung als Kundin gewinnt und in materielle Abhängigkeit zwingt. Der chinesische Staat ist per Verfassung Lobbyist in eigener Sache, der die privatwirtschaftliche Konkurrenz als Stachel nutzt, um das Wachstum zu beschleunigen. Zugleich achtet er mit Argusaugen darauf, daß Privatunternehmer wie der ehemalige Englischlehrer Jack Ma, Gründer von Alibaba, dessen Firma nicht zuletzt durch einen Milliardeneinstieg von Yahoo Erfolge verbuchte, nicht übermächtig und schon gar nicht zum Kritiker des chinesischen Weges werden – in diesem Fall, welch Wunder, ist der maoistische Revolutionsgedanke wieder zupaß und die chinesischen Wettbewerbsbehörde bereit, den Ausbeuter zu disziplinieren.
Nun ist die Ära Deng Xiaopings bereits Geschichte. Präsident Xi Jinping, im Volksmund „Baozi“ (gedämpfte Teigtasche) genannt, ließ sich als rechtmäßiger ideologischer Erbe Maos mit Unfehlbarkeitsstatus zum „überragenden Führer“ auf Lebenszeit ausrufen. Seine Ideen zum „Sozialismus chinesischer Prägung“ sollen in die Parteistatuten eingehen. Einer seiner Vorgänger hatte bereits das Prinzip der Dreifachen Vertretung etabliert: die Kommunistische Partei vertrete in China die Entwicklung der Produktivkräfte, die Ausrichtung der Kultur und die Interessen der Mehrheit des Volkes.
These 10: Tatsächlich erkennen wir in der Bewegung von Mao, über Deng zu Xi einen Wandel vom Stalinismus zum dynamischen Staatskapitalismus und schließlich zum Imperialismus chinesischer Art.
Der „chinesische Traum“, den Xi stellvertretend für die Volksrepublik träumt, zielt auf die Wiederherstellung des Reichs der Mitte als Mittelpunkt und Stabilitätsanker der Welt. China hat im internationalen Handel einen Finanzüberschuß erwirtschaftet, den es natürlich gewinnbringend anlegen möchte. Das Zauberwort heißt Neue Seidenstraße oder One belt, one road. Damit ist das Investitionsprogramm gemeint, mit dem sich die Volksrepublik überall auf dem Globus, wo sich die Chance bietet, seit 2014 einkauft: Sei es der Hafen Piräus vor den Toren Athens, der Duisburger Güterbahnhof, in dem wöchentlich drei Dutzend Züge aus China eintreffen, der Schweizer Chemiehersteller Syngenta, der Augsburger Roboterentwickler Kuka, Filmproduktionsfirmen in Hollywood, italienische Fußballvereine, ein Hafen in Sri Lanka, die Autobahn in Montenegro, Eisenbahnlinien und Pipelines in Afrika – es sind gerade finanzschwache Strukturen, die sich von Chinas Unterstützung angezogen fühlen und in die Schuldenfalle tappen. Die Regierung in Beijing bietet keinen Fond mit gleichen Regeln für alle Teilnehmer, sondern handelt die Konditionen bilateral mit jedem Bittsteller einzeln aus. Sri Lanka beispielsweise verpachtete seinen Hafen für 99 Jahre an die Volksrepublik, ein Schelm, wer dabei an Großbritannien und seine ehemalige Kronkolonie Hongkong denkt… Während Beijing von einer Globalisierung 2.0 schwärmt, sprechen Kritiker von einer Kolonisierung 2.0. Als Gegenleistung erwartet Beijing einen Kotau vor seinen geopolitischen Ansprüchen: den Verzicht auf die Anerkennung von Taiwan und des Dalai Lama, die Akzeptanz der Vereinnahmung des südchinesischen Meeres usw.