Jewgeni Onegin: Kapitel eins, zweite Strophe

So dachte der junge Taugenichts
In seiner staubenden Kutsche bei Nacht,
Der willens Zeus‘ höchsten Gerichts
Zum Erben all seiner Verwandten gemacht.
O Freunde Ljudmilas und Ruslans!
Mit dem Helden meines neuen Romans
Ohne Umschweife oder falsches Lachen
Gestattet mir Euch bekanntzumachen:
Onegin, mein Freund und Jugendverweser,
Ist geboren an den Uferns des Flusses Newá,
Und vielleicht stammt Ihr von ebenda
Oder glänztet dort, mein Leser;
An Orten, wo einst feierte auch ich:
Doch ist der Norden schädlich für mich [1].

[1] Geschrieben in Bessarabien.

Innenwelten (II)

Der Rausch

Lieber Unfremder,

ich habe von anderen erfahren, die von anderen erfahren haben, dass es dir gutgeht.

Dass der Rausch nachgelassen hat.

Ich denke, sie haben recht.

Vielleicht hast du es mir angemerkt, bei unserer letzten Begegnung. Hoffentlich aber hast du es dir angemerkt.

Unsere letzte Umarmung war ein nüchterner Schatten dessen, was unsere vorletzte noch gewesen war: Das unendliche Dankedankedanke. Das unendliche Wiedererkennen in

Sturmangst

Scheinwerfergrün

Scham

eines anderen.

Scham – ja, das habe ich gefühlt, als ich heimgekehrt bin. Scham und verblasster Glitzer und

Was soll ich mit meinem Leben nun anfangen?
Was soll ich mit meinem Leben nun anfangen?

Was soll ich mit meinem Leben –

Lieber Unfremder,

der Rausch hat nachgelassen. Denn selbst nachdem mein Leben verändert wurde – irgendwann muss es weitergehen.

Darin liegt die Eleganz des Glücks: Es ist kein basslastiger Schlag, durch Lautsprecher verzerrt.

Es ist das leise Du-ergänzt-mich eines Vertrauten, in einer Nacht ohne Scheinwerfer.

Es ist die Stille zwischen der Musik.

Ich habe den Zettel mit deiner Mailadresse in einer Schublade gefunden. Ganz hinten, hinter einer Flasche abgelaufenem Desinfektionsmittel.

Vielleicht schreibe ich dir.

Eines Tages.

Wenn ich herausgefunden habe, ob die Scham am Ende nur der kleine Bruder des Rauschs ist.

Denn das Glück, lieber Unfremder – das habe ich herausgefunden –

Das Glück ist nur mit sich selbst verwandt.

Schließlich muss es niemanden sonst erfüllen.

Nur sich selbst.

Enya Laier

Das Universum in mir

Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich mein eigenes kleines Universum.
Gefühle, Gedanken und Eindrücke, die wie kleine Planeten um die kleine Sonne in meinem Inneren kreisen.
Meine innere Sonne.
Es gibt Momente, in denen ich ihre Wärme und ihr Licht deutlich spüre. Momente, in denen es sich anfühlt, als würde ich von innen heraus leuchten.
Und dann gibt es die anderen Tage, an denen all das Licht und die positiven Gedanken in ein schwarzes Loch hineingezogen werden und alles durcheinander gebracht wird.
Dunkle Stunden, die sich endlos hinziehen.
Stunden, in denen die Sonne sich zu verdunkeln scheint.
Ich fühle die  Leere und die Kälte.
Doch nach einer Weile wird die Anziehungskraft des schwarzen Loches schwächer. Langsam entstehen neue kleine Planeten aus Neugierde, Träumen und Zuversicht.
Die Sonne beginnt wieder zu strahlen und ich spüre ihre Wärme.

Annika Fitsch

Frage an den Frühling

Das Frühjahr kommt,
Es wird mal wieder März.
Die Welt steht Kopf,
Es fehlt an Hirn und Herz.

Ich seh mich um und merke
Es ist noch immer Krieg.
Tagtäglich wird geschossen,
Sie sprechen schon von Sieg.

Vonnöten sind nicht Waffen,
Es braucht viel mehr Verstand.
Wir möchten friedlich leben,
Ohne Gewehre in der Hand.

Menschen wollen Frieden,
Verdient wird am Gefecht.
Die Bosse freuen sich leise,
Die Welt ist ungerecht.

Sie lügen und sie täuschen,
So war es immer schon.
Die Bäume tragen Knospen,
Trotz allem und zum Hohn.

Verhandelt um den Frieden,
Er nur ist das einzige Ziel!
Setzt euch an einen Tisch!
Verlangen wir zu viel?

Die Guten

Wir sind so perfekt
Mit viel Intellekt,
Können nicht ruhn
In unserem Tun.
Wir sind die Guten.

Wir spielen auf Zeit,
Exportieren das Leid.
Wollen was taugen,
Verschließen die Augen.
Wir sind die Guten.

Wir liefern Waffen,
Die Frieden schaffen
Überall auf der Welt,
Wir tun das für Geld.
Wir sind die Guten.

An unserem Wesen
Sollen alle genesen.
Wir sind so schlau,
Wir wissen genau:
Wir sind die Guten.

Wir kennen uns aus
In ganz vielen Dingen.
Selten nur kann man
Uns mal bezwingen.
Wir sind die Guten.

Wir sind allezeit
Zum Helfen bereit,
Wollen was gelten
Und fragen uns selten:
Sind wir die Guten?

Echo auf: Cees Nooteboom

Mein Onkel Antonin Alexander war ein merkwürdiger Mann. Als ich ihn zum ersten Mal sah, war ich zehn Jahre alt und er ungefähr siebzig. Er wohnte in einem häßlichen, riesengroßen Haus im Gooi, das vollgestopft war mit den eigenartigsten, nutzlosesten und scheußlichsten Möbeln. Ich war damals noch sehr klein und kam nicht an die Klingel. Gegen die Tür zu hämmern oder mit der Klappe des Briefkastenschlitzes zu klappern, wie ich es sonst immer machte, traute ich mich hier nicht. Ratlos ging ich schließlich um das Haus herum. Mein Onkel Alexander saß in einem wackligen Sessel aus verblichenem violetten Plüsch mit drei gelblichen Schondeckchen, und er war tatsächlich der merkwürdigste Mann, den ich je gesehen hatte. An jeder Hand trug er zwei Ringe, und erst später, als ich nach sechs Jahren zum zweiten Mal zu ihm kam, diesmal um zu bleiben, konnte ich erkennen, daß das Gold Messing war und die roten und grünen Steine (ich habe einen Onkel, der trägt Rubine und Smaragde) buntes Glas.

»Bist du Philipp?« fragte er.

»Ja, Onkel« sagte ich zu der Gestalt im Sessel. Ich sah nur die Hände. Der Kopf lag im Schatten.

»Hast du mir etwas mitgebracht?« fragte die Stimme wieder. Ich hatte nichts mitgebracht und sagte: »Ich glaube nicht, Onkel.«

»Du mußt doch etwas mitbringen.«

Ich glaube nicht, daß ich das damals komisch fand. Wenn jemand kam, mußte er eigentlich etwas mitbringen. Ich stellte mein Köfferchen ab und ging zurück auf die Straße. Im Garten neben dem meines Onkels Alexander hatte ich Rhododendren gesehen, und ich schlich vorsichtig durch die Pforte und schnitt mit meinem Taschenmesser ein paar Blüten ab.

Wieder stand ich vor der Terrasse.

»Ich habe dir Blumen mitgebracht, Onkel«, sagte ich. Er stand auf, und nun sah ich auch sein Gesicht.

»Ich weiß das außerordentlich zu schätzen«, sagte er und verbeugte sich leicht. »Wollen wir ein Fest feiern?« Er wartete meine Antwort nicht ab und zog mich an der Hand ins Haus. Irgendwo knipste er eine kleine Lampe an, so daß das sonderbare Zimmer gelblich erleuchtet wurde. In der Mitte dieses Zimmers standen lauter Stühle – an den Wänden drei Sofas mit vielen weichen Kissen in Beige und Grau. Vor der Wand mit den Terrassentüren stand eine Art Klavier, das, wie ich später erfuhr, ein Cembalo war.

Er wies auf ein Sofa und sagte: »Leg dich hin, nimm dir viele Kissen.« Er selbst legte sich auf ein anderes Sofa, an der Wand mir gegenüber, und dann konnte ich ihn wegen der hohen Rücken der Stühle nicht mehr sehen, die zwischen uns standen. »Wir müssen also ein Fest feiern«, sagte er. »Was machst du gern?«

Ich las gern und sah mir gern Bilder an, aber das kann man auf einem Fest nicht machen, dachte ich, also sagte ich das nicht. Ich dachte kurz nach und sagte dann: »Spätabends mit dem Bus fahren, oder nachts.«

Ich wartete auf Zustimmung, aber die kam nicht.

»Am Wasser sitzen«, sagte ich, »und im Regen herumgehen und manchmal jemanden küssen.«

»Wen?« fragte er. »Niemand, den ich kenne«, sagte ich, aber das stimmte nicht.

aus: Cees Nooteboom, Philipp und die anderen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga von Beuningen. Frankfurt a.M. 2003.

Der Fischer von Eftalou


In meinen Kindheitserinnerungen ist der Strand von Eftalou auf der griechischen Insel Lesbos meist der Ort des Geschehens. Unzählige Stunden habe ich am Strand vor dem Restaurant meiner Eltern verbracht. Oft fiel mein Blick auf die kleine Fischerhütte auf dem Hügel, wenige Meter entfernt. Die Fischerhütte war oftmals fast eingestürzt und schien auf den ersten Blick verlassen zu sein. Ich wusste jedoch, dass dort ein Mann lebte. Der Fischer. Der Mann in der Fischerhütte hatte viele Namen. Viele nannten ihn Antonis, andere Antonis Psarros oder Psarantonis (zu Deutsch bedeutet dies so viel wie der Fischer Antonis) oder bezeichneten ihn nur als Sohn von Psarogiannos (Sohn des Fischers Giannis). Für mich war er immer nur der Fischer.
Der Fischer lebte allein in seiner Hütte und fuhr jeden Morgen mit einem kleinen alten Fischerboot aufs Meer zum Fischen hinaus. Ins Dorf kam er nie. Viele Jahre zuvor hatte er das Dorf verlassen, da sich die Nachbarn über die laute Musik seines Radios beschwert hatten. Daraufhin hatte er beschlossen, nach Eftalou zu ziehen, da er dort so laut Musik hören könne, wie er wollte.
Er ging so gebückt, dass sein Oberkörper mit seinen Beinen fast ein L bildeten und trug immer ein weißes Tuch um seinen Kopf gebunden. Der Fischer war bekannt für seine Liebe zu Tieren. Viele bezeichneten ihn als Tierflüsterer. In seiner Fischerhütte kümmerte er sich um 21 Katzen und 17 Hunde. Es lebte sogar eine Möwe beim Fischer, die nach dem Tod ihres Partners ein Zuhause bei ihm gefunden hatte und dort ihre Trauer nach langer Zeit überwinden konnte. Die Möwe leistete dem Fischer jeden Tag Gesellschaft und wartete am Ufer mit den Katzen und Hunden auf seine Rückkehr vom Fischen. Bei seiner Rückkehr wurde er von allen Tieren sehnlichst erwartet. Viele der Hunde und Katzen sprangen sogar ins Wasser, sobald sie sein Boot erkannten und schwammen auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
Der Fischer hatte für jedes seiner Tiere einen Namen. Jedes von ihnen hatte seine eigene Persönlichkeit und eine besondere Beziehung zu ihm. Selbst die Tatsache, dass die Namen unabhängig vom Geschlecht der Tiere männlich oder weiblich waren, war auf des Fischers Ansicht zurückzuführen, dass manchmal ein Persönlichkeitsmerkmal stärker ausgeprägt sein konnte als das Geschlecht. Eine Katze namens Arafat zum Beispiel war eine Rebellin und dies unterschied sie von den anderen Katzen, nicht ihr Geschlecht.

An einem Ende des Strandes hatte der Fischer eine Grube ausgehoben, die tief genug war, um mit Meerwasser gefüllt zu werden. Er nutzte sie als Aquarium und hielt darin Fische, die er als schön oder besonders empfand.
Ich sah den Fischer nur wenige Male, wenn ich zügig an seiner Hütte vorbeiging. Viele der Hunde waren Fremden gegenüber aggressiv und ich wollte mein Glück nicht auf die Probe stellen. Mein Vater erzählte mir, dass der Vater des Fischers, Psarogiannos, Fischer an der gegenüberliegenden Küste Kleinasiens war und 1922 als Flüchtling nach Lesbos kam. Über Psarogiannos wurde gesagt, dass er ein einsamer und eigenartiger Mann war. Sein Sohn schien in die Fußstapfen seines Vaters getreten zu sein.
Der Fischer war nicht nur mit dem Meer, sondern auch mit einer Frau verheiratet. Sie machte sich jeden Tag zu Fuß auf den Weg zur Fischerhütte, um ihrem Mann etwas zu essen und frische Kleidung bringen zu können. Oft hatten wir sie getroffen und mit dem Auto mitgenommen, da der Weg aus dem Dorf nach Eftalou und zurück über 10 Kilometer war. Damals konnte ich nicht verstehen, wieso sich ein Mensch höheren Alters diese Tortur jeden Tag aufs Neue freiwillig antun würde. Heute frage ich mich, ob dies ein Beispiel wahrer Liebe war.
Sollten wir uns vielleicht ein Beispiel am Fischer nehmen? Unser Leben so führen, wie es uns am meisten erfüllen würde und dort sein, wo wir so laut Musik hören können, wie wir es uns wünschen?
Als kleines Mädchen hatte ich Angst vor dem Fischer. Als erwachsene Frau habe ich Respekt.


Anna Kandyli

Ein schöner Mensch

Es war Sonntag. Mittags. Bei uns zu Hause war es üblich, dass sich die Verwandten jeden Sonntag trafen und gemeinsam aßen. Es war Brauch in der Familie. Ich half meinem Großvater und meinem Vater beim Braten des Fleisches. Draußen im Hof. Dann tauchte vor mir  die große, blasse Gestalt eines Mannes auf. Er war ein Freund meines Großvaters, den er schon lange nicht mehr gesehen hatte, da der jetzt in Heraklion lebte und zu Besuch nach Rethymno gekommen war. Ich sah ihn zum ersten Mal. Wir stellten uns vor. Eftichis hieß er. Ein sehr freundlicher und sanfter Mann. Ich fragte ihn, wo er arbeitete, und er antwortete, dass er sein ganzes Leben lang als Lederhändler gearbeitet hatte. Er erklärte mir, dass diese Arbeit vor allem in früheren Zeiten sehr viel Geld eingebracht hatte. Aber jetzt war er offenbar im Ruhestand. Ich war natürlich überrascht, dass er allein gekommen war. Ich fasste etwas mehr Mut und fragte ihn.

„Warum sind Sie heute allein gekommen? “

 (Ich war 17 Jahre alt und selbstverständlich sehr neugierig).

„Wo sind Ihre Frau oder Ihre Kinder? “

Er schwieg einige Sekunden lang und antwortete dann:

„Meine Frau ist vor 2 Jahren an Krebs gestorben, und ich habe wenig Kontakt zu meinen Kindern, da ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe und viel von zu Hause weg war. Ich habe also nicht die Beziehung, die ich gerne haben würde“. Das traf mich. Es war definitiv nicht die Antwort, die ich erwartet hatte. Besonders, wenn man bedenkt, dass sein Name Glück bedeutet. Er lächelte, als er meine Verlegenheit sah, und fuhr fort.

„Nimm nie etwas als selbstverständlich hin, Petros. Das Leben ist voller Überraschungen und voll großer Sorgen. Aber besonders die Familie muss man lieben und respektieren, als wäre es der letzte Tag, an dem man mit ihr zusammen sein kann. Mach nicht die Fehler, die ich gemacht habe. Die Familie ist der Anfang und das Ende. Alles andere ist zweitrangig“.

Mit diesen wenigen Worten  rührte er mich sehr, als ob ich in diesem Moment seinen Schmerz spürte, obwohl ich ihn erst seit zwei Stunden kannte. Wir haben gegessen und dann hat er uns alle auf einen Kaffee eingeladen. Er hat uns alles gekauft, was wir wollten. Nach dem Kaffee fragte ich ihn:

„Warum haben Sie das getan?“.

„Was ich hier sehe, ist selten : Lachen, Freude, Liebe. So viele Verwandte, die so eng miteinander verbunden sind, als wären sie enge Freunde. Das ist eine unschätzbare Sache“.

Diese einfachen Gefühle, die ich für selbstverständlich gehalten hatte, waren für einen anderen Menschen etwas Seltenes.

Ich blieb still.

Er umarmte meinen Großvater, grüßte uns alle und fuhr nach Heraklion zurück.

Petros Dramitinos

DER SCHWERE FLUSS VERSINKT

so beginnt das Gedicht „Isolation“ des Dresdener Schriftstellers, Lyrikers, Romanciers, Übersetzers und Historikers Peter Gehrisch, das ein Miniatur-Mitteleuropa, ja, ein Syndrom, das „Mitteleuropa-Syndrom“, zum Leben erweckt und mit dem zahlreiche östliche Nationen die Deutschen stigmatisiert haben, indem sie ihnen die Hauptverantwortung für geistige und wirtschaftliche Begrenzungen zuschrieben sowie für die Art und Weise, wie (erfolgreich oder nicht) Barrieren überschritten werden.

Um es gleich vorweg zu sagen: Mit diesem scheinbar farblosen Begriff hat Milan Kundera, der tschechische Dissident, die Büchse der Pandora geöffnet. Mitteleuropa hat keine Grenzen. Heute bedeutet das eigentlich „etwas“, was mythologisch einen Nerv impliziert, obwohl unterschiedlich auf dem jeweiligen Gebiet, versteht man einen Mythos für sich selbst, seine Brauchbarkeit – und auch konkrete Narrative sind hier unterschiedlich. Nicht selten, sich gegenseitig widersprechend. Außerdem sind dies die Länder, in denen es spukt.[1] Von den Vogesen bis zur Weichsel oder vielleicht dem Bug, oder vielleicht der Newa und dem Don, schwer zu erraten, vom Marmarameer bis zur Ostsee. Denn weder der romantische Nationalismus noch der Mythos in seinen rätselhaften Mutationen, eingesaugt vom Alptraum der Totalitarismen, die hier herrschten, noch die Analyse der Psyche und… die Rebellion im Schoße der Psychoanalyse, können auf diesem Gebiet vermieden werden.

Peter Gehrisch hat in der Tat auf einen Mythos zurückgegriffen – angeblich den ältesten, angeblich wahrscheinlich paläolithischen – den Orpheus-Mythos. Und wer Orpheus war, was Orpheus bedeutet, weiß jeder – und niemand weiß es. Gerade deshalb war die Essenz dieser Animation, ein absurdes Gedicht aus Worten, Musik, Groteske zu empfinden, und auch aus Schuld, ein Gedicht, das in seinen Worten wie Glaskugeln zerspringt (so formuliert zumindest einer der Orpheus-Projektteilnehmer, Gert Neumann, sein eigenes Motto). Dieses Treffen fand genau am Treffpunkt der Jahrtausende statt, und zu allem Überfluss in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze (wir befanden uns noch nicht im Schengen-Raum) [2]. Ein Gefühl der Schuld? – Ein anderer Zeitzeuge, Thomas Bernhard, verbot die Veröffentlichung und Aufführung seiner Werke in Österreich bis 2059, da sich die österreichische Öffentlichkeit nur als Opfer des Nationalsozialismus sieht und eine Entnazifizierung ablehnt.

Der Mythos muss diese Fäden gezogen haben. Mit jedem seiner „Themen“ bringt uns jener Mythos zurück zum Konkreten, zum Realen, zur Erde, wie wir sie erlebt haben, auch von Seiten ihrer geistigen Nebel, Mumien, Zwänge, Bedingungen, die höchst unterschiedlich, aber immer konkret von jenen verarbeitet wurden, die uns in die Welt gerufen haben. Die uns beschützt haben – aber vor etwas Konkretem, das eine eigene konkrete Verwirrung in unsere Köpfe brachte. Diese wahnsinnig vorausschauende Szene bricht zusammen und hebt sich im Laufe der Zeit, manchmal sogar augenblicklich. Doch jede Kontrolle, jeder gewollte Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen, endet in der Verdrängung.

Der Mythos muss diese Akkorde angeschlagen haben, und sei es nur, weil jeder von uns, den Teilnehmern des Orpheus-Projektes im weitesten Sinne, gerade erst, um ehrlich zu sein, eine solche Übertragung der Orpheus-Figur aus der mit Rilke, Mi?osz, Ko?akowski, Graves und Grimal geschmückten Bibliothek auf unser eigenes Ich projiziert hat, was einen Abstieg in die Gefilde der Hölle impliziert, einen Abstieg, der, gelinde gesagt, entleert ist, eine Rückkehr ohne die in Eurydike verkörperte Seele. Wir haben das Recht, in Orpheus die Tragödie des seelenlosen Künstlertums und der Menschlichkeit ohne Kontakt zum tiefsten Selbst zu erkennen, das Drama des begabten Kindes – um Alice Millers berühmten Ausdruck zu verwenden; wir sehen solche Orpheus-Gestalten in Rilke, Mi?osz und so weiter. Die meisten von uns, so vermute ich, haben diese Figur in einem noch vorläufigen Selbst ruhen lassen und weigern sich vorerst, die Möglichkeit der Selbsterkenntnis zuzulassen, von Orpheus vernarbt, beschmutzt, befleckt und in die Bereiche der Schweinischen gezogen zu werden – und dass Orpheus’ Gesang wirklich wie die Schuppen eines Reptils glänzen kann: einer Eidechse, einer Viper oder vielleicht eines prähistorischen Tyrannosauriers. In der

Kammer der Atzung –

Im Schmalz der dein Körpergebilde groß werden läßt

Du weißt nichts von Totholz

Dein Eden heißt Moder, Mikroben

Gewebe, in welchem sich dieses Leben erhält

Schwelgend

Wenn ich also Gehrisch begleite, versuche ich gar nicht erst, die vielen zugegebenermaßen spielerischen Aspekte seiner Erfahrung zu verstehen. Ich ziehe es vor, darüber zu sprechen, wie bestimmte psychische Situationen nicht anders als in Totschweigen oder einem Wimpernschlag, manchmal auch einem etwas schiefen Gedicht ausgedrückt werden können – eben so, insofern es ein Gedicht ist – ein Gespräch mit sich selbst, Poesie, und nicht ein mehr oder weniger geschicktes Zusammenbasteln von Versen, wenn wir nicht in uns selbst blicken, sondern in einen Spiegel. Die Seele ist das Schicksal, das Schicksal ist die Seele, sagte einst Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, ebenfalls ein Sachse (resp. Sachsen-Anhaltiner), Prosaiker und Dichter, gemeinhin bekannt als Novalis. Mit dem Wort Seele habe ich dennoch meine Mühe, da ich bei aller Demut vor der philosophischen Erfahrung der Deutschen eine erfahrungsgemäße Unterscheidung treffe, Dinge zu benennen, die dieser Erfahrung angemessen sind; „Seele“ als Begriff ist mit dem dicken Fett des Verbrechens überzogen. Vielleicht dem dicksten, weil sie selbst seit mehr als zwei Jahrtausenden von ihrer eigenen Sichtweise verurteilt und angewidert ist. Dies geht so weit, dass das Synonym „Psyche“, das sich weniger in die Religion hineingekrallt hat, analytisch klingt. Anstatt zu analysieren, ziehe ich es vor, einer Abneigung gegen die Vernunft Ausdruck zu verleihen.

Denn sonst (ver)sinken die Flüsse nicht. Sie taumeln nicht verzweifelt – von ihrem Gewicht immer tiefer gezogen – dorthin, wohin die menschliche Seele oder das Schicksal gehen sollte (oder nur gehen kann). Nach unten also, so dass die heraklitische Strömung jenes berührt, was eigentlich schon unbeweglich ist (in dieser Weise stigmatisierte Huxley die Bilder des Heiligen – als Unbewegtes). So ist der Weg in die Tiefe für Peter Gehrisch zunächst ein ebenso impulsiver wie vorsichtiger, getriebener wie beunruhigender Aufstieg entlang der Wand des schwarzen Brunnens zum Licht, ein Abschütteln des Giftes der Dunkelheit. Auf das Licht zu, obwohl wir noch nicht wissen, ob dieses Licht real ist oder von einem unsichtbaren Illusionisten geschaffen wurde. Gehrisch, geboren 1942, überlebte die Teppichangriffe auf Dresden. Das Armageddon. Das Verschwinden der Welt. Das Licht und die Helligkeit über den Stadtteilen im Elbbecken verkündeten die Hölle des Himmels, und die stickigen, stinkenden Keller der Bunker kündigten den Himmel der Gnade an. Das Verschwinden von Prinzipien, die sowohl die Physik als auch die Metaphysik betreffen. Der spätere Schriftsteller, Übersetzer von Norwid und Orpheus-„Gefolgsmann“, beobachtete diese Metamorphose der Realität, glücklicherweise ohne jegliche Vorurteile darüber, wie die Welt sein sollte. Was dabei herauskam, war eine Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Welt: Sein und Nicht-Sein.

Abgesehen von Gut und Böse als gegensätzliche Kategorien, die sich zum einen auf die Erkenntnis der moralischen Schwäche des Menschen im Allgemeinen und zum anderen auf deren Ausdruck in ihrem Verhalten stützen. Denn in der Erfahrung des Kindes sind sie zu einem einzigen Ganzen verdichtet und durchdringen einander. Fast wie in der mythischen Frucht des Guten und des Bösen – dieser eigentümlichen Dyade – sowohl böse als auch gut. Oder wie die männlichen und weiblichen Genitalien in den Zeichnungen von Hans Bellmer – geboren 1902: Er begrüßte den kollektiven Totentanz von Mitteleuropa im Alter von 12 Jahren.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Schrecken auch nach der Aufhebung der Bedrohung aus dem Reflex erwächst, alles von jetzt auf gleich neu zu benennen. Zwischen den Namen und den Bezeichnungen gähnt indessen ein Loch. Zusammen mit dem Heiligen, der Psyche und der Freiheit. Man lebt ja in einem Raum des Nicht-Seins, in etwas, das im Bruchteil einer Sekunde verschwunden ist – einer Stadt zum Beispiel, einem großen Gebäude, Möbeln und Geräten – eben noch waren sie da, und jetzt sitzt man neben seiner Mutter auf irgendeinem Bündel, ohne Dach über dem Kopf. Nun gut, wenn es denn ein Bahnhof wäre, von dem aus man irgendwohin fahren könnte. Langsam kommt der Gedanke auf, dass das Gute eben nicht hier ist, sondern weit weg, vielleicht sogar ein Pol in sich selbst, und dass diese Ferne mit etwas Dauerhafterem als einer Stadt (nach Spengler ist auch sie eine Seele – die Seele der Kultur) abgeschirmt sein sollte, oder einem Königsschloss oder… einer Eisenbahnstrecke: vielleicht mit Bergen herum. Denn es herrscht Angst. Ein verängstigtes Kind versteckt sich hier und nicht-hier. Peter Gehrisch weiß, dass „an allen Ecken der Kindheit die Kuriere der Angst“ stehen, bereit, sich in alle Richtungen zu stürzen. Je mehr Berge er also abdeckt, desto reiner das Gut. Je weniger Wege dorthin führen, desto reiner das Gute. Vereinfacht gesagt, kam das Kind in Dresden mit der Welt in fast vollem Umfang in Berührung, mit der Welt der Märchen und Mythen, mit der Welt der Träume, sogar mit der Welt der Träume aus Sand (Kinder lieben es, im Sand zu spielen, es ist in der Tat so narkotisch wie die Berührung des essentiellen weiblichen Körpers, denn symbolisch geht es um die Berührung der Seele oder des Ichs), und sah sie, wie es der gebürtige Sachse Andreas Altmann ebenso ausdrückte, eingebunden in Orpheus, für einen Moment „mit seinen ersten Augen“.

Daher der Glanz der Augen, die Seele, das Schicksal.

Wenn also ein Fluss fließt, die Elbe zum Beispiel, spielt die Sonne auf ihm wie auf einer zarten Saite mit Grün- und Blautönen – man kann sein Wasser trinken, sich darin waschen bis zur völligen Säuberung. In vielen Häusern brach nach der Bombardierung die Wasserversorgung zusammen, und die Mütter hielten sich während des Krieges sauber, vielleicht war sogar der Kampf gegen Schmutz, Läuse, schlammige Böden für die Mütter (jede Mutter symbolisiert die Anima, formt die Seele, das Schicksal) eine Prüfung für die Logik des Lebens und die Fähigkeit zum Rückwärtsgewandten. So mythisch wie die Schlacht an der Front. Ebenso absurd in dem Sinne, den Alice Miller oder James Hillman in der unnützen, nicht funktionalen und sogar verbotenen Tat erkannten: nämlich ihre Analogie zur Sprache des Traums zu sehen. Was der Mythos immer wieder hervorgehoben und zum Gebot erhoben hat, indem er Orpheus befahl, seine Seele zu verlieren, und die Zuhörer oder Zuschauer im Amphitheater aufforderte, in sich selbst zu fühlen: was es bedeutet, ohne Seele zu sein: eine notwendige Phase, eine Phase, die mit der Ionisierung eines bestimmten Atoms vergleichbar ist, wenn etwas es entlastet oder überlastet. Es entsteht ein Loch. Anstelle der Seele auch – ein Loch. Es entsteht eine Art Saugvakuum, ein Umstand, eine andere Materie ins eigene Ich aufzunehmen. Sie ist bereits durch ihren Charakter gekennzeichnet, eine Kombination aus Potenzen und Grenzen.

Ich möchte hier hinzufügen, dass das „Mutterfleisch der Seele“ auf einer symbolischen Ebene Eurydike und natürlich Eva ist, die beide von der symbolischen Schlange in die Erfahrung des Todes geführt wurden, und die beide Orpheus-Adam hineingezogen haben. Sie distanzieren den „Mann“ scheinbar von den Zweideutigkeiten der Zivilisation, also der Ordnung. Denn sie führen in den Krieg, also in die Hölle und die Umkehrung der Normen oder in das axiologische Negativ; der Krieg ist immer von einem Mythos begleitet. Hermes, der Führer, wird, wie wir feststellen, das weibliche Element sein – daher die Schuld des Erstgeborenen der biblischen Eva, der erstaunlichen Walküre, die durch die Entnahme aus Adams Innerem geschaffen wurde. Peter Gehrisch deckt auf, dass Eurydikes Seele eben noch Holz war und sich von Rinde und Fasern befreit hat, und weiterhin noch unfertig, weiterhin im Holz verweilend. Die Rippe verkörpert Adams innerstes Wesen, so geht er dorthin, wo der Verstand ihn verläßt und wo er Schrecken und Entsetzen, Wut und Geschrei erlebt, allein getrieben von dem, was in ihm ist – und was er bisher auf dem edenisch-pythagoreischen Boden sah, nur unter dem Gesichtspunkt von Nützlichkeit und Vergnügen. Ähnlich die hölzern erscheinende Eurydike, steif, hart, knarrend. Vielleicht struppig? Sie hörte Orpheus’ Musik. Ja, aber sie fühlte sich in der Berührung irgendwie verletzbar.

Und warum? Warum ist die mythische Frau, wie Paul Ricœur, der Pascal Quignard verteidigt, es brillant formulierte, „der privilegierte Ort des Zusammenstoßes von Verbot und Begehren? In der biblischen Geschichte veranschaulicht sie den Punkt der Hingabe, der Schwäche gegenüber dem Verführer“.[3] Zu sich selbst führt also allein ihr Selbst, wie wir soeben festgestellt haben, die Seele. Wiederholen wir also die Frage: Wohin? Denn der Name „Hades“ bliebe eine flüchtige Allgemeinheit. Ricœur sagt, dass die Grate und die hölzernen Knochen und all die Rindenteile, die sie vor zärtlichen Berührungen schützt, auf die Seele von Orpheus und jeden von uns verweisen. Der Orphismus ist nicht erhaben oder künstlerisch veredelt, sondern legt die beschämende, geheime Wahrheit über Orpheus offen: Er ist die Anima der menschlichen Schwäche. „Diese Zerbrechlichkeit ist in der Endlichkeit des Menschen selbst begründet. Die menschliche Endlichkeit ist eine unbeständige Endlichkeit, die sich in eine ‘böse Unendlichkeit‘ verwandeln kann. Als ethische Endlichkeit ist sie ‚leicht‘ verführbar durch die Kurrumpierbarkeit der Etablierten, die die Grenze festlegen. Nicht die menschliche Libido ist der Anlass für den Sündenfall, sondern die Struktur der endlichen Freiheit.“ (Das Vorhandensein dieser Rinde, in welcher Leben ist, dieses Dickhäutigen, das die eigene Wahrheit bewahrt. Und in diesem Sinne wurde das Böse durch die Freiheit möglich gemacht.) „Die Frau illustriert den Punkt des geringsten Widerstands der endlichen Freiheit gegen den Ruf des bösen Unendlichen, gegen Pseudo“.[4]

In den Kindertagen eines konkreten, realen Menschen tummelte sich alles, brummte vor Energie, und die Welt erzitterte.Die Löcher schienen zunächst nur Trichter zu sein, die durch den Einschlag von Bomben entstanden. Schließlich war der Fluss beladen mit Bomben, Leichen, Eisen und… hat Löcher, er sinkt tatsächlich, das ist keine Metapher.Er vergiftet und verschmutzt. Auch hier gilt: Es muss sauber gewaschen werden. Mit Seife und einer Bürste geschrubbt. Und Sand. Also glattgerollte Erde. Erde, die auch ein Symbol der Seele ist. Der Akt der Reinigung des Wassers (Seele und Leben symbolisierend) – durch die Berührung der auseinandergezerrten Psyche. Wer dies schon in der frühen Kindheit gespürt hat, sucht, solange er nicht grausam geworden ist, bereits nach einer Antwort auf die Frage, wer eigentlich zu diesem Licht hinaufsteigt – der Erwachsene, der sich des Preises bewusst ist, den man für die Kunst zahlt für den Sprung von einer Welt, die vorhanden ist, in eine Welt ohne Welt. Wer steigt also hinauf: Ist er es in diesem Moment, oder ist er es als Kind und obendrein gespalten in eine Art Ich und Ebenfalls-Ich, mit dem er gemeinsam, wie jenes Kind, in den Ruinen Himmel und Hölle spielte.

Himmel und Hölle aus Sand. Selbst die großen kollektiven Mythen und Herrlichkeiten sind schließlich aus Sand gemacht.

Blinde Tastorgane

Hier entlang

Zum geöffneten

Tor!

Immer in Richtung Schweigen

Zitternd

(…)

Der rückwärtsgerichtete Kreidepfeil

Von Kinderhand gezeichnet

Auf den geöffneten Flügeln des Tors

– eine Nuance: ein weißer Pfeil wie das Weiß, das (normalerweise) nicht mit den Fingern, sondern mit der ganzen Handfläche gezeichnet wird, wie eine Berührung, die viel intimer ist, oder wie ein Eid, der mit der Berührung der Muttererde abgelegt wird.

In allem, was Peter Gehrisch geschrieben hat und schreibt, geht es DARUM: Er lädt den Leser ein, auf seinem verschlungenen Weg zu wandern, auf dem an bestimmten Stellen eine Stimme zu hören ist: Bleib bei deinen vier und fünf Jahren! Das liegt auf der Hand. Wozu diese Eile? Wenn man sich in schwierigem Gebirgsgelände verirrt, ist es manchmal das Kind, das Hilfe bringt: irgendwie flink, weniger bedächtig und wahrscheinlich willensstärker; Erwachsene haben wirklich komplexe Motivationen, Hamlet ist überhaupt kein Außenseiter. Er ist auch keine Metapher.

Novalis formulierte es folgendermaßen: „Der Irrtum ist ein notwendiges Instrument der Wahrheit“. Pah, keines dieser inneren Kinder, die (noch) Himmel und Hölle (weiterhin) spielen, kennt keine einzige der seriösen Definitionen von Wahrheit und kann uns nur naiv am Arm packen: Was ist Wahrheit? Alles, was Peter Gehrisch schafft, ist ein Wischen mit verschwitzten Augen und einem Blick, der übrigens heiterer ist, als man denken könnte: Führt der Weg nach oben oder nach unten? Ist er beim Auf- oder Abstieg mit seinen Löchern auf Norwid gestoßen? Und auf Orpheus? In der Sammlung Zraniony s?owem wers (Wortwunder Vers) von vor fast einem Vierteljahrhundert begegnet mir Gehrisch nahezu auf Schritt und Tritt und in jedem Satz, und es sind die schmierigen Pfade, die ich jeden Abend beschreite – „hier ist mein Platz“ – und eine Scheibe, eine Scheibe in einem verschleierten Werk. Die Erde ist vom Wahnsinn verbrannt. Das Papier welkt. Die menschlichen Gesten sind eine Pantomime unter glotzendem Rot. Ein Triumph-Tor aus Trümmern. Wir machen uns Treppenstufen aus Nebel. Man selbst ist eine Kette von Vögeln – keineswegs eine feste Masse, eine statische Form, eine reine Form, sondern nur ein Schlüssel, der instinktiv irgendwohin geht, vielleicht zu seinen eigenen psychischen Asymptoten, zu den Grenzen der erlebten Zeit.

Und es ertönt eine Stimme, uit – uit. Man ist wie einPhallus, unklar suchend / Die Wölbung aus Grün: Es kann Ekstase sein oder aber eine schmerzhafte Grenze, Gehrisch würde sagen: Konversation mit Beton.

Oder vielleicht ein wahrhaft platonischer Dialog? Mit Beton als besonderem Material, denn er ist künstlich, im Zustand für die Zivilisation und gleichzeitig plump und brutal. Taub und doch für Konstruktionen verwendbar. Schließlich will der Mensch konstruieren. Bloße Pfeile und Wegweiser, Wortschöpfungen, Logos reichen ihm nicht aus. Mal hier, mal da, denn schließlich: ist man kein Individuum, sondern man ist eine Kette von Vögeln, eine Vielzahl von Glasperlen, die in der einen oder anderen Reihenfolge angeordnet sind. Einmal folgt unsere innere Eurydike-Eva der Schlange, ein andermal Orpheus-Adam. Orpheus scheint zu suggerieren, alles sei Schicksal oder Seele. Das Schicksal des Einzelnen veranschaulicht sprachlich soziale Phänomene vielleicht am deutlichsten. Und politisch. Die wir jedoch in statistischen und möglicherweise (streng) unpersönlichen Begriffen beschreiben: Es ist eine orphische Sünde, ohne Seele zu sein, ohne Schicksal, ohne Schmied des eigenen Schicksals, d.h. kein Alchimist zu sein, sondern nur zu Masse und Nigredo verdammt.

Aus Schlafsand war uns

Der Weg bereitet

Zum letzten Gehöft –

Hier habe ich nämlich eine Assoziation zu den Gedichten der interessanten Dichterin und Propagandaforscherin aus Ko?obrzeg, El?bieta Juszczak, die in einem etwas anderen, aber ebenfalls belebten Kosmos der Selbstfindung über ein Tor (was würdevoll klingt) gestolpert ist – zur Scheune. Peter Gehrisch klettert durch nebliges Flimmern wie über Sprossen zu ihr hinauf. Jede Sprosse ist ein Ausguck. Auf einer von ihnen ist der Krieg bereits zu Humus geworden, er schüttelt mit einer Granate, und die Monde sind nackte Totenschädel. Gottes Mühlen? – könnte man fragen. Doch die Mahlsteine sind zerfallen.

So sind uns also die Flügel

Gestutzt

Daß wir uns drehn

In grelle Mäntel gehüllt

Vor der eigenen Ödnis

Noch immer betäubt vom Rumpeln der Bomben, traf Peter Gehrisch irgendwo hier, in diesen Löchern– zum x-ten Mal betone ich es – auf Orpheus. Wie auf einen Ghoul.

Das Gespenst

Geht noch um

In der Bibliothek

Ein glänzender Hohlkopf:

Originalspuk (…)

Eine phosphoreszierende Morgenröte

Hager und gramvoll

Erscheint der Geist

Als Roter Ruben

oder der erwürgte

Säugling (…)

Medaillen und Ketten (…)

Solange sie über die Treppen

Klirren

Im eisigen Turm

Ist Winter (…)

Wenn der Mandelbaum blüht

Weichen die Wände.

Dann kann man sehen, obgleich das Labyrinth weiterhin dauert, dass das Leben gleich Mikrolabyrinthen als eine Schnur von Vögeln dahinfließt

Wie ein bacchantischer Tagtraum.

Ja, nur dass Orpheus’ Begegnung mit Dionysos eine Begegnung mit dessen Anima ist – sagt der Mythos –, von ebenso vielen wütenden Mänaden zerstückelt; auch sie ist keineswegs einheitlich, sondern gleicht einem Schwarm von Vögeln. Jede Mänade entreißt Orpheus eine Handvoll von Fleisch, jede, so glaube ich – das ist meine Intuition – erklärt Gehrischs Vers, dass sie dies tut:

Allem Vernomm’nen mit einer eignen Version zu begegnen

Halb Wahrheit, halb Schein.

Januar 2022

Aus dem Polnischen von Gabriele Wachander.

Anmerkung: Die Zitate zu Peter Gehrischs Gedichten entstammen den Publikationen „Zraniony slowem wers / Wortwunder Vers“, TIKKUN, Warschau 2001, und „Zawirowania dnia / Das Taumeln des Tages“, IBiS, Poezia dzisiaj, Warschau 2020.

Dieser Beitrag im polnischen Original (als PDF).


[1] Tina Rosenberg, „Kraje, w których straszy. Europa ?rodkowa w obliczu upiorów komunizmu“ (Länder, in denen es spukt. Mitteleuropa im Angesicht der Gespenster des Kommunismus), Pozna? 1997.

[2] Orpheus-Projekt – internationale Treffen mit Autoren und Künstlern seit 1999, beginnend in Bad Muskau und in der Folge an verschiedenen Orten in Deutschland und Polen.

[3] Paul Ricœur, Symbolika z?a. Übersetzt von Stanis?aw Cichowicz, Maria Ochab, Instytut Wydawniczy PAX, Warschau 1986, S. 240. / Vgl. Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld. Bd. 2 (1960), Alber, Freiburg/München 2002.

[4] Ebd., S. 241.

Echo auf: Ilse Aichinger, Für das Neue Jahr

Welcher Augenblick wird auch an einem weniger spektakulären als dem Silvestertag zuletzt oder kurz vor zuletzt kostbar gewesen sein? Wer wird die Schatten, die fallen, in solche verwandeln, die einem auf die Sprünge helfen? Auch am Jahresanfang nehmen nur wenige ihre Entscheidungsmöglichkeiten wahr oder werden dazu ermutigt. Schatten aus dem letzten Jahr sind ihnen geblieben, aber es käme darauf an, sie abzuwerfen.

(In: Ilse Aichinger, Unglaubwürdige Reisen)


Mein Dorf

Wenn man mich fragt, was ich mehr in Griechenland vermisse, dann ist die Antwort immer mein Dorf. Viele Leute fragen mich: Ist es nicht langweilig, in der Wildnis zu sein? Gefällt es dir, so weit von der Stadt entfernt zu sein? Ich bin ein Stadtkind, ja. Ich liebe meine Stadt so sehr und bevorzugte schon immer Großstädte. Aber was das Dorf mir bietet, das bietet die Stadt nicht, oder? Die Landschaften, die ich in meinem Dorf sehe, und die Nähe zur Natur, zu den Bergen, zu den Tieren sind ein einzigartiges Gefühl. Schon die Fahrt ins Dorf ist eine Augenweide. Meer, ausgedehnte Wälder und der ständige Gesang der Vögel. Ich denke, diese Fahrt ist der schönste Moment des Tages. Ich fühle mich ruhig und friedlich. Auf dem Dorf bleibe ich aber nicht ruhig. Ich helfe meinem Opa  auf den Feldern, verbringe viel Zeit mit unseren Hunden und besuche Tanten und Onkel, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Aber das ist nicht für jeden Menschen etwas Schönes. An einem Ort nur von Verwandten umgeben zu sein, ist etwas, das viele Menschen vermeiden. Aber das stört mich nicht. Morgens aufzuwachen und mit Opa auf den Feldern, hoch oben in den Bergen, bis zum Sonnenuntergang zu wandern, ist für mich erfrischend. Solche Momente sind kostbar. Mit meinen Cousins und Cousinen auf dem rauen Terrain der Hügel zu sitzen, zu reden und gleichzeitig das endlose Grün und den Geruch von Erde und Olivenbäumen zu genießen. Wir wussten, dass diese Landschaften bei unserer Rückkehr in die Stadt durch Wohnblocks, den ständigen Lärm und unbekannte Gesichter überall ersetzt würden. Deswegen ist dieser Augenblick immer etwas Außergewöhnliches. Etwas Kostbares.

Petros Dramitinos

Hadleigh Castle

Die Sonne scheint und eine leichte Brise weht durch die Bäume. Der Weg zur Burgruine ist steinig und uneben. Das Meer ist nicht weit, zwischen der Ruine und dem Strand liegt nur die Bahnstrecke. Wir laufen zu dem einzigen Turm, der noch steht. Auf dem Weg dorthin laufen wir an der Mauer vorbei, hinter der man noch hinunter in die Kerker sehen kann. Der Stein ist von der Sonne ganz warm und bröckelig. Wir setzen uns ins trockene Gras. Es piekst und bleibt an unserer Haut kleben, aber das stört uns nicht. Wir breiten ein Handtuch auf dem Boden aus und legen das Baby darauf, das sich lachend hin- und her wälzt, als wir es kitzeln. Es ist ruhig um uns, um diese Uhrzeit sind nicht mehr viele Menschen dort. Ein Hund rennt um uns herum, hechelnd und mit dem Schwanz wedelnd. Genauso glücklich wie wir alle, froh, an einem so schönen Ort zu sein, sich einfach entspannen zu können mit Menschen, die man liebt.

Lea Döhms

Moment der Freundschaft

Es ist 15:26 Uhr, als unser Flugzeug den Flughafen von Athen erreicht. Ich hatte in der Nacht zuvor kein Auge zutun können. Zu groß war die Aufregung gewesen. Nach vier langen Jahren würde ich sie endlich wiedersehen. Ich würde endlich die Person wiedersehen, die mich die Bedeutung von wahrer Freundschaft lehrte und mir eine zweite Familie schenkte.
Nach vier langen Jahren würde ich auch das erste Mal wieder nach Athen reisen. Wie wird es wohl sein? Wird sich die Stadt verändert haben? Wird es sich anders anfühlen, dort zu sein? Ich schüttele den Kopf. Nein. Dies sind keine wichtigen Fragen, und die Antworten darauf sind es auch nicht.
Wichtig ist nicht die Stadt, sondern die Menschen, die in ihr leben. Was die Menschen mich fühlen lassen.
„Meine Damen und Herren, willkommen in Athen.“
Die Ansage der Flugbegleiterin holt mich in die Gegenwart zurück. Die Passagiere fangen an das Flugzeug zu verlassen und in den Bus zu steigen. Die Aufregung wird größer und größer, je mehr sich der Bus dem Terminal nähert. Ich betrete das riesige Gebäude und mache mich auf den Weg, meinen Koffer zu holen. „Nur noch ein paar Minuten“, denke ich mir und würde am liebsten schreien. Nach ein paar Minuten Wartezeit nehme ich meinen Koffer entgegen und laufe Richtung Ausgang. Und da sehe ich sie schon. Meine Definition von Freundschaft. Ich lasse meinen Koffer fallen und laufe auf sie zu. Sofort liegen wir uns in den Armen, und die Welt scheint für einen kleinen Moment vollkommen zu sein.

Anna Kandylis

Jewgeni Onegin. Roman in Versen

Von Hochmut erfüllt hatte er zudem noch einen besonderen Stolz an sich, der eine Ursache der Gewohnheit ist, mit demselben Gleichmut wie die rühmlichen, so auch seine dummen und peinlichen Handlungen zu bekennen, eine Folge des Gefühls der Überlegenheit, einer möglicherweise scheinbaren. (Aus einem privaten Brief, frz.)

Nicht, um die stolze Welt zu unterhalten,
Mein Freund, denn Du hörst mir nun zu,
Würde ich gern für Deine Fantasie gestalten,
Was besser ist und würdiger als Du –
Würdiger als Deine schöne Seele,
In der stets heilig Streben wirkt –
Die Poesie, die Klarheit und das Leben,
In dem sich Einfachheit und hohe Kunst verbirgt;
Sei’s drum – so nimm von mir mit heißer Hand
Entgegen eine Sammlung schillernder Kapitel,
Zur Hälfte komischer, zur Hälfte trauriger,
Volkstümlich einfacher und idealer,
Frucht meiner Suche nach dem besten Mittel
Gegen Schlaflosigkeit, den leichten Atem
Unreifer und verflossener Jahre,
Auch des Verstandes kalte Taten
Und was ein glühend Herz schluchzt auf der Bahre.

*

Echo auf: John Steinbeck

In Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ wird im 3. Kapitel eine Schildkröte beschrieben, die mühsam eine Straße überquert und dabei Ziel eines Lastwagenfahrers wird, der das Tier brutal überfährt. Die Szene steht für sich und war in der Schreibübung Anlaß, sich entweder an einer eigenen „Begegnung mit Tieren“ oder an einem „Selbstporträt als Tier“ zu versuchen.

Die Gedanken eines Delfins

Sicherheit und Freiheit. Diese zwei Gefühle geben mir den Antrieb zu lächeln. Meine Freunde und Familie an meiner Seite oder in meinem Herzen, Sicherheit. Die blaue Unendlichkeit mein Zuhause, neue Abenteuer tief und weit, Freiheit. Ich sehe andere Fische wie sie einfach nur schwimmen und nicht lächeln, wie sie jeden Tag in Angst verbringen, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt in dieser vertrauten, aber auch fremden Welt. Als ob wir nicht dieselbe Freiheit teilen, nicht in derselben Tiefe schwimmen würden. Verstehen sie nicht, dass jede Sekunde in dieser blauen Ewigkeit vorübergehend ist? Es ist, als ob sie nicht lebten, sondern nur existierten… Deswegen versuche ich jeden Tag zu schwimmen, so weit ich kann. Zu spielen, so viel ich kann und zu lachen so laut ich kann. Ich dusche im warmen Sonnenlicht der Oberfläche und genieße die eisige Gänsehaut der Tiefe. Manchmal fühle ich auch Trauer oder Verlust, wenn meine Freunde oder Familie nicht wieder kommen, nachdem sie schwimmen waren, für immer verschlungen von der Dunkelheit des Ozeans. So ist aber halt unsere Welt, kälter als der tiefste Untergrund aber wärmer als der hellste Stern, unberechenbar aber wunderschön, furchteinflößend, aber sicher, einschränkend aber frei. Deswegen schätze ich jede Sekunde, genieße jede Sekunde, solange ich noch schwimmen kann und werde grundlos weiter lächeln, einfach so, denn das Leben ist schön.

Kerem Çifçi

Nebel (Innenwelten I)

Sie fragt: „Fühlst du dich eigentlich“ – Pause – „…Glücklich?“

Keine beabsichtigte Pause, das höre ich. Dennoch starrt sie mich an. Sitzt mir gegenüber und starrt mich an, als hätte ich eine Lücke im Gesicht.

Nichts Verwunderliches. Wir sehen uns zum vierten Mal in unserem Leben, natürlich habe ich eine Lücke im Gesicht. Oder wahrscheinlich Nebel.

„Glücklich“, wiederhole ich.

Der ICE schneidet durch das Grau; ein frisch geschärftes Messer durch meine Erinnerungen. Und ich erinnere mich.

Vor genau drei Jahren saß ich hier. Zitternd vor Nervosität und unsicher, was mich jenseits des Nebels erwartete. Damals war es nicht sie, die mir gegenübersaß. Es war ein Vertrauter, ein Fremder. Einer, der des Nebels müde war. Für ihn verliefen die Zuggleisen zu geradlinig, der Zug zu leise.

Ständig unterfordert. Ständig kurz davor, aufzustehen und davonzulaufen. Vor dem Nebel.

Glücklich.

Noch immer umhüllt von Grau, erreicht der ICE eine Brücke. Für einen Augenblick nur brechen die Schwaden auf: Wattige Fragmente, die sich in Zeitlupe in das darunterliegende Tal ergießen. Flüsse, auf keiner Landkarte verzeichnet.

Das Sonnenlicht spiegelt sich in ihren erstaunt aufgerissenen Augen.

Er hätte nicht einmal hinausgeblickt.

Glücklich.

Wann werde ich je Worte für meine Gefühle finden?

Nie. Darum sind sie meine Gefühle.

Also schlürfe ich meinen Tee, stelle die Tasse beiseite, draußen die erneute, scheinbar ewige Umarmung des Graus.

Dann nicke ich ihr vorsichtig ein Ja zu.

Aber nein. Ich bin nicht glücklich.

Ich bin endlich ruhig, wie der Nebel.

Enya Laier

Schnee (Forts.)

Was ist mathematische Vernunft?

Dank Alains Beiträgen sind wir da mittlerweile in diesem Blogg einige Schritte weiter gekommen. Doch immerhin, im erklärtermaßen ästhetischen Diskurs gefragt – in der Verständlichkeit einer Vorlesung etwa von 1827, als die Welt noch ganz anders aussah, aber dennoch schon genau die war, in der wir heute leiden und leben – – was?

Eine Antinomie, ja gut. Aber welche? Etwa eine von diesen dreien? Hm,

obwohl es 1827 natürlich als bekannt vorausgesetzt wurde und ja auch werden durfte und musste, den Selbstverständlichkeiten des Menschheitsadels gemäß – – – lässt sich so etwas auch in allgemeinbekömmlicher Ausdrucksgestalt kredenzen?

Geben Sie sich gefälligst Mühe! Soooooooo nst

Wegtreten!!

na nich sie, blei’m se doch!!!

Was, was?

!

*

Antinomischer Verstand, das ist der Wahnsinn. Theoretische und praktische blablabla, wie immer. Dagegen dann nur noch -; die Kritik, marx & Negativität (Frankfurter lesart, Bekannt & e…)

Nichts Neues unter der Sonne?

jeden tag, alles

Nana, nicht übertreiben.

Antinomisch kann nur die Vernunft sein, und wäre es auch. Die Mathematik dagegen ist konsistent. Oder wäre es, wenn da nicht ihre Sprache wäre… Bitte kein Gödel-bla, ja?

Diagonalisierungsverfahren.

ja dann dagonalisiern se ma…

Mathematische Vernunft, die Idee des Widerspruchs (Hegel-Marx-…)

Klammmer zu.

Syntaxfeler

in der sprache des wider…

Lasst die Dinge sprechen, Imaginisten!

Che! AK 4.

Hm, schon wieder Fehlermeldung; dieses Mal bei korrekter Syntax.

Was, was was?!

Es sitzt nun in Moskau. Fragen Sie es selbst. Und vergessen Sie nicht, wiki-leaks von mir zu grüßen – – \#

Oder schreiben Sie gleich an den amerikanischen Präsidenten –

also den von usa!!!!!!!! nix alleinvertretungsanspruch

  • wie damals (Freiheit für
  • Angela Davis
  • Luis Corvalan (oh acheiß diktate mitsamt ihren diktatorInnen…
  • Abu Jamal

#/

**

ohne ultrafilter & mathematische distributionen

vielleicht ganz einfach

ne frage gerechtigkeit : x : y : [+z]

{bitte nicht – spekulativer syllogismus}

ODIN

tri

trez

Yvette K. Centeno, Revolution

Und wäre es aus Gold und Diamanten gestickt

dieses Tuch, das euren Kopf bedeckt

um die langen Haare zu verbergen

die bis zur Hüfte reichen

selbst dann noch bliebe es doch immer

Zeichen der Versklavung.

Ihr jungen Frauen des Iran

zerreißt die Tücher

schneidet die langen Haare ab

zerbrecht die Ruten, mit denen

sie euch martern

die falschen Propheten

eines Gottes, der nichts davon sagt

Ruft die Engel des Himmels

daß sie herabkommen

mit ihren Schwertern aus Feuer

und die Kehle durchschneiden

den Männern, die Söhne waren

und nun Mütter foltern.

(gefunden im Blog der Autorin „Literatura e Arte“ und dort gepostet am 30.9.2022, aus dem Portugiesischen von Markus Sahr)

Echo auf: Octavio Paz, Glück in Herat

Ich kam hierher,

wie ich diese Zeilen schreibe

– ohne bestimmte Idee:

Eine Moschee, blau und grün,

Sechs verstümmelte Minarette,

Zwei oder drei Gräber,

Erinnerungen an einen heiligen Dichter,

Die Namen Timurs und seines Geschlechts.

Ich traf den Wind der hundert Tage.

Alle Nächte deckte er zu mit Sand,

Peitschte meine Stirn, verbrannte mir die Lider.

Die Morgenfrühe:

                             Auseinanderstieben von Vögeln

Und jenes Rauschen von Wasser zwischen Steinen,

Das die Schritte der Bauern sind.

(Doch das Wasser schmeckte nach Staub.)

Gemurmel in der Ebene,

Erscheinungen,

                          Verflüchtigungen,

Ockerfarbene Wirbel,

Substanzlos wie meine Gedanken.

Rundgang um Rundgang

In einem Hotelzimmer oder auf den Hügeln:

Die Erde ein Kamelfriedhof,

Und in meinen Grübeleien immer

Dieselben Gesichter, die verfallen.

Der Wind, der Herr der Ruinen –

Ist er mein einziger Lehrer?

Erosionen:

Das Minus nimmt immer mehr zu.

Am Grab des Heiligen,

Tief in den dürren Baum

Schlug ich einen Nagel ein

                                             Nicht

Wie die andern gegen den bösen Blick:

Gegen mich selbst.

                               (Etwas sagte ich:

Worte, die der Wind mitnimmt.)

Eines Abends verbündeten sich die Höhen.

Ohne von der Stelle zu rücken

                                                  Wanderten die Erlen.

Sonne auf blauen Mauerkacheln,

                                                     Jähe Frühlinge.

Im Garten der Edelfrauen

Erstieg ich die türkisene Kuppel.

Minarette, tätowiert mit Zeichen:

Die kufische Schrift, jenseits des Buchstabens,

Wurde durchsichtig.

Ich hatte nicht die Vision ohne Bilder,

Ich sah die Formen nicht kreisen bis zum Verschwinden

In regloser Klarheit,

Dem entstofflichten Sein des Sufis.

Ich trank nicht Fülle in der Leere,

Noch sah ich Bodhisattva mit dem Diamantleib.

Ich sah einen blauen Himmel und alle Blautöne,

Vom Weiß bis zum Grün

Den ganzen Fächer der Pappeln,

Und über der Pinie, mehr Luft als Vogel,

Die schwarzweiße Amsel.

Ich sah die Welt in sich selber ruhn.

Ich sah die Erscheinungen.

Und ich nannte diese halbe Stunde:

Vollkommenheit des Endlichen.

(Deutsch von Rudolf Wittkopf?)

Ein Novembertag in Irland

Kalt, düster und nass, so sind die meisten Novembertage in Irland. Deswegen ist es so überraschend, dass die Sonne scheint. Es ist immer noch kalt, aber die Sonne gibt mir das Gefühl, dass es halb so schlimm ist. Perfekt für das, was meine Freunde und ich uns vorgenommen haben. Wir wissen, dass es viel Überwindung kosten wird, aber wir sind fest entschlossen, es auszuprobieren. Der Wind bläst mir die Haare aus dem Gesicht, als wir über den Steinstrand auf das Meer zu laufen. Ungefähr zehn Grad hat das Wasser um diese Jahreszeit, sagt uns ein Ire. Der Wind ist kalt, aber ich spüre ihn vor Aufregung kaum. Die Steine sind eisig kalt und hart unter meinen Füßen, während wir zum Wasser gehen. Der erste Schritt ins Wasser ist der schlimmste. Ich schnappe nach Luft, genauso wie meine Freunde neben mir. Aber wir gehen weiter, bis wir bis zur Brust im Meer stehen. Unter meinen Füßen ist jetzt rutschiger Sand, den ich kaum mehr spüre. Ich spüre nur noch Kälte, überall. Um mich besser an die Wassertemperatur gewöhnen zu können, tauche ich den Kopf unter Wasser, und als ich wieder auftauche, ist es tatsächlich erträglicher. Und dann ist es gar nicht mehr schlimm. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Das Glück und die Freude, die mich seit einigen Stunden durchströmen und mir immer wieder Tränen in die Augen zaubern, schlagen über mir zusammen wie die Wellen des Meeres einige Momente zuvor. Es ist, als helfe mir die Kälte um mich herum dabei, mich auf jede einzelne Empfindung zu konzentrieren. Mein Körper wird allmählich taub, der Sand unter meinen Füßen hätte genauso gut Eis sein können. Aber das alles spielt keine Rolle. Es ist der perfekte Augenblick, der perfekte Tag. Und wie könnte er es auch nicht sein? Ich bin zwar nicht zuhause, um sie zu sehen, aber sie ist endlich hier, endlich auf der Welt – meine kleine Nichte. Und wie könnte ich ihre Geburt besser feiern als mit einem vollkommenen Novembermoment?

Lea Döhms

Novembermorgen

Ein Tag im November

Gestern Abend hat es geregnet,

alles ist feucht und frisch an diesem Novembermorgen.

Die Blätter der Bäume fallen.

Ich liebe die Herbstfarben,

rot, orange, gelb, braun mit etwas grün.

Die Farben der heruntergefallenen Blätter bringen eine Nostalgie mit sich.

Langsam öffnet der Markt mit Weihnachtsgeschenken.

Ich freue mich auf Weihnachten,

freue mich auf den Weihnachtsmarkt.

Ich schließe meine Augen und kann schon den angenehmen Geruch der frisch gebackenen Plätzchen riechen.

Ich höre Kinder lachen, wenn sie miteinander um das Lagerfeuer herum spielen.

Wichtelgeschenke werden zum Tausch verpackt.

Familie und Freunde treffen sich und genießen den heißen Glühwein unter den Weihnachtslichtern.

Thomi Chatzipanteli

Novembermorgen


Ich schlage die Augen auf. Es ist ziemlich dunkel in meinem Zimmer, obwohl ich die Rollläden mit Absicht nicht ganz geschlossen habe. Mein Körper fühlt sich schwer an und ich würde am liebsten in meinem warmen Bett bleiben. So geht es mir an den meisten Novembertagen, die sich anfühlen wie eine unendliche Aneinanderreihung verschiedener Nuancen von Grau, unterbrochen nur von der Dunkelheit, die bereits viel zu früh einsetzt.
Schließlich raffe ich mich auf und gehe langsam zum Fenster, um das spärliche Licht in mein Zimmer zu lassen. Schweigend blicke ich in den wolkenverhangenen Morgen hinaus. Der leichte Nebel und die Wolken, die die Sonne verdecken, lassen das Licht der Sonne milchig und alle Farben wie gedämpft erscheinen. Ab und an leuchten ein paar bunte Blätter durch den grauen Nebel.
Der Boden, die Häuser, die Bäume, alles ist noch nass vom Regen der letzten Nacht. Ich denke an den gestrigen Abend – der Regen, der gegen die Scheiben trommelte, der Wind, der die Blätter rauschen ließ. Ich, wie ich mit einer Tasse Tee in der Hand, eingekuschelt in eine Decke, auf meinem Sessel saß und las. Von Frieden erfüllt, geborgen, so, als wäre ich in diesem Moment genau am richtigen Ort. Auch so kann sich November anfühlen, erinnere ich mich. Und schon fällt mir der Start in den Tag etwas leichter.

Annika Fitsch

Ein grauer Mittwoch

Heute ist Mittwoch. Mittwoch, der 9. November. Graue Wolken und kalte Temperatur. Man kann sagen, dass es ein üblicher Tag in Deutschland ist. Aber nicht für mich. Nicht für einen Menschen, der während seines ganzen Lebens an sonnige Tage und fast immer an ideale Temperaturen gewöhnt ist. Aber am 9. November war die Situation ein bisschen anders. Am Anfang gab es nur hoffnungslose graue Wolken, die die Stimmung eines Menschen verschlechtern konnten. Deswegen hatte ich vielleicht so schlechte Laune. Aber nach einer Stunde passierte etwas sehr Schönes. Etwas Erstaunliches bemerkte ich vor dem Fenster. Diese schrecklichen Wolken waren nicht mehr da. Und ihr Platz wurde von der Sonne und einem klaren blauen Himmel eingenommen. Es war so etwas wie eine Botschaft. Eine Botschaft, dass sich jede schlechte Situation in etwas Besseres und Hoffnungsvolles verwandeln kann. In diesem Moment wollte ich nur eine Tasse Kaffee trinken, auf einer Bank sitzen und die Farbe des Himmels genießen. Das Bild, das ich vor mir hatte, brachte mich in die Vergangenheit zurück. Es war genau derselbe Himmel, als ich den Berg Psiloritis auf Kreta zum ersten Mal bestieg. Das Bergsteigen dauerte viele Stunden. Es war anstrengend. Es war nicht leicht, fast 2.500 Meter aufwärts zu steigen. Ich hatte aber die Gelegenheit, den Sonnenaufgang zu sehen und die zahlreichen Farben des Himmels während meines Aufstiegs zu bewundern. Von schwarz zu orange und von orange zu blau. Dass ich mitten in der Natur war, war vollkommen. Und gleichzeitig war da die Zufriedenheit, als ich am Gipfel lag und die Möglichkeit hatte, die endlose Landschaft von oben zu genießen, ein einzigartiges Gefühl. Aber jetzt kehrte ich in die Gegenwart zurück. Schließlich dachte ich. Es war doch kein so schlechter Mittwoch.

Petros Dramitinos

Novembertag

Schon am ersten Morgen macht der November seine Ankunft bemerkbar.

Wo am Tag zuvor noch das Licht der Sonne strahlte,

sind jetzt nur noch dunkle Wolken.

Die Sonne versteckt sich und die Kälte des Regens ersetzt ihre Wärme.

Die Farben der Blätter erlöschen und die Natur schläft langsam ein.

Bunt wird zu trüb.

Dann wird trüb langsam zu weiß.

Ein Weiß, das heller strahlt als das Licht von tausend Sternen.

Ein Weiß, das zunächst so kalt erscheint, doch eine unbeschreibliche Wärme im Menschen auslöst.

Ein Weiß, das die Erinnerung und Vorfreude auf das Fest erweckt.

Und dann wird das Weiß bald bunt.

Grüne, rote und gelbe Lichter lassen die Kälte des Winters bald erstrahlen.

Die Wärme der Liebe lässt das Eis erschmelzen.

Anis, Muskat, Vanille und Zimt schmücken allmählich die kühle Novemberluft.

Die Weihnachtszeit ist spürbar, aber noch nicht ganz da.

Bevor der Beginn der Winterzeit erfreulich werden kann, muss das Ende der Sommergefühle betrauert werden.

Im November vermischen sich Trübsal und Freude.

Er ist ein Ende und zugleich ein Anfang.

Anna Kandyli

Hügel in der Dunkelheit


Nicht das sanfte Morgenlicht weckt mich an diesem ersten Novembermorgen, sondern das schrille Klingeln meines Weckers.

In meinem Schlafzimmer ist es kalt und draußen vor den Fenstern ist noch schwarze Nacht. Ich fühle mich fast noch müder als am Abend zuvor und seufzte: Jetzt beginnt die dunkle Jahreszeit.

Schlaftrunken taste ich zu meiner Rechten nach dem kleinen, warmen Hügel, der die ganze Nacht lang an meinem Bauch gelegen hat. Leicht hebe ich die Decke an und streichle über den Hügel, um wenigstens ihm einen sanfteren Start in den Tag zu ermöglichen. Doch der Hügel zeigt keinerlei Begeisterung dafür, dass die Nacht, zumindest für uns, schon vorbei sein soll. Demonstrativ versteckt er den langen Kopf zwischen den noch längeren Beinchen und wirft mir aus dem Augenwinkel einen vorwurfsvollen Blick zu. Jetzt aber los.

Ich schäle mich aus der warmen Decke, schlüpfe in meinen dicken, weißen Pullover aus Fleece. Ich werfe einen Blick auf mein Bett, der Hügel bewegt sich nicht. Jetzt aber los. Ich hebe die Decke an und ernte einen weiteren vorwurfsvollen Blick. Ich kann auch nichts dafür, das weiß der Hügel jedoch nicht oder er will es nicht wissen. Irgendjemand muss schuld sein. In dem Punkt sind wir uns ähnlich. Dem Hügel habe ich den Morgen verdorben, meine schlechte Laune schiebe ich auf den kalten Wind, der uns ins Gesicht schlägt, als wir endlich die Haustür öffnen. „Wenigstens regnet es nicht“, denke ich und verlasse die sichere Insel, die unsere beleuchtete Haustür im Meer der unendlichen Dunkelheit ist. Wir treten unter dem Vordach hervor und würden am liebsten direkt wieder umkehren. Es regnet doch. Vorwurfsvolle Blicke. Ich kann auch nichts dafür, das weiß der Hügel jedoch nicht. Jetzt aber los.

Ich schalte meine kleine Taschenlampe ein, mehr emotionale Unterstützung als tatsächliche Orientierungshilfe, denn die Dunkelheit schluckt das fahle Licht der Lampe, so wie auch das Licht der sicheren Insel schnell außer Sicht gerät.

Unmotiviert und inzwischen durchnässt stapfen wir durch den Matsch des spärlich beleuchteten Parks. In der uns umgebenden Dunkelheit verschmelzen die Bäume zu bedrohlichen Schatten und eine einsame Gestalt, die ruhig, zu ruhig für meinen Geschmack, an einer Häuserecke steht, macht mich nervös. Ich treibe den Hügel zur Eile an. Vorwurfsvolle Blicke. Ich kann auch nichts dafür, das weiß der Hügel jedoch nicht. Jetzt aber los.

Wir drehen unsere Runde und zwischen Regen, Wind, Dunkelheit und vorwurfsvollen Blicken sind wir beide erleichtert, als unsere sichere Insel wieder am Horizont auftaucht. Der Hügel verschwindet wieder unter der Bettdecke und ich bin mir sicher, dass es dort drunter wieder warm und gemütlich ist. Ich jedoch schäle mich aus meinem dicken, weißen Pullover aus Fleece und schlüpfe in meine Alltagskleidung. Im Flur treffe ich auf meinen schlaftrunkenen Mitbewohner, im Schlafanzug, mit verwuscheltem Haar und vom Schlafen geröteten Wangen ist er auf dem Weg in die Küche. Vorwurfsvolle Blicke. Er kann auch nichts dafür, das weiß ich und will es nicht wissen. Noch 88 kalte, dunkle Morgen, dann ist es wieder warm und hell. Jetzt aber los.

Anne-Sophie Preuß

Aus „24 Portraits“

Günther und Marlies

Günther hat eine lange Autofahrt hinter sich. Er hatte Marlies, seiner Frau, schon per Handy seine Ankunft angekündigt. Darum ist das Essen fertig, als er zur Tür eintritt. Sie begrüßen und küssen einander. Marlies fragt, wie der Tag war und ob Günther müde sei. Ja, er sei müde, aber es ginge ihm gut. Unterwegs habe er sich sogar noch ein paar Euro hinzuverdient. Er müsse nur nach dem Essen schnell an den Computer und eine Datei verschicken. Günther schaltet den Computer schon ein.

Marlies ist neugierig geworden und fragt, was es denn so Dringendes sei. „Ich erzähl’s dir beim Essen“, antwortet Günther. Die beiden sitzen jetzt am Familientisch und speisen. Im Hintergrund läuft im Fernseher ein Musikvideo. Günther be­ginnt mit halbvollem Mund zu er­zählen: „Auf der Autobahn, in der Nähe von Hannover, hat auf der Haltespur ein brennender Bus gestanden. Ja, einfach so dagestanden. Ich habe abge­bremst wie all die anderen auch. Aber dann bin ich nicht an dem Bus vorbeigefahren, sondern habe hinter ihm gehalten und das Feuer mit dem Handy gefilmt. Du weißt doch, wie gute Auf­nahmen unser neues Handy macht. Schließlich bin ich mit laufender Kamera an dem Bus vor­beigefahren. Vorne stand ein Mann und hat wild mit den Händen gestikuliert. Der müßte auch auf dem Film sein. Nach dem Essen schaue ich mir das Material kurz an und schicke es, so­fern es etwas taugt, ans Fernsehen. So ein Film kostet schon was. Dafür kann man etwas ver­langen.“

„Und“, fragt Marlies, „waren noch Menschen in dem Bus?“ „Das konn­te ich von hinten nicht genau sehen. Aber als ich vorbeifuhr, sah ich, dass der Bus offenbar noch nicht ganz geräumt war. Einige Leute saßen oder standen auf dem Grünstreifen.“ „Und ? hast du nicht angehal­ten?“ fragt Marlies. „Aber Schatz, was hätte ich denn tun sollen? In so einem Fall muß man das Helfen den Fachleuten überlassen. Habe den Unfall gleich übers Handy ge­meldet. Was aber schon etliche vor mir getan hatten.“ Marlies hakt noch einmal nach: „Und bist du sicher, dass du nicht helfen konntest?“ „Ja, absolut. Ich hätte mich nur selbst in Gefahr ge­bracht. Kei­ner hat angehalten. Kein einziger Pkw stand bei dem Bus. Hier konnte nur die Feu­erwehr hel­fen.“ „Aber Günther, wir haben doch einen Feuerlöscher im Auto!“ „Das ist mir später auch eingefallen. Aber was willst du mit so einem Ding gegen einen brennenden Bus ausrichten? Sei vernünftig, Marlies, und beruhige dich. Es ist alles in Ordnung. Du weißt doch, wie ich solche Situationen auf der Straße hasse. Immerhin, hier ist der Film“, er hält das Handy hoch, „und den schick ich gleich ab. Mal sehn, was sie zu zahlen bereit sind.“ „Aber Günther, ich find’s ir­gendwie furchtbar“, sagt Marlies bedrückt.

„Man darf nicht so empfindlich sein, wenn man sich um jeden Cent prü­geln muss“, versetzt Günther. „Ich weiß nicht, wie viele vor mir und nach mir Auf­nahmen von dem Bus gemacht haben. Sah übrigens aus, wie so ein typischer Oma-Bus, du weißt schon, Kaffeefahrten und so weiter. Wahrscheinlich hat eine von den Alten mit Feuer gespielt. Nun, genug davon. Nach­dem ich den Film abgeschickt habe, machen wir’s uns ge­mütlich. Du kannst schon den Wein hinstellen.“ „Wenn du meinst“, lächelt Marlies ihm nach­denklich und zögerlich zu.

Video der Buchvorstellung Leipziger Buchmesse 2023

Link zum Buch

PLATZHALTER (versal)

Als sie ihre Münder wieder schreien sahen,
ihr Atem dem ermüdenden Muff entflohen war,
lagen noch immer Masken auf ihren jungen Geistern.

Man hatte sie monatelang täglich getestet,
ob sie nicht die anderen schwer krank machten,
wie Ratten, scherzte einer ganz royal im Magazin.

Geschlossen wollten sie danach ins Spritzenhaus,
die Reihenaugen blickten fest auf Nadeln stramm bei Fuß;
einem Vergessenen von fünfundreizig blutete das Herz dabei.

https://www.nachdenkseiten.de/?p=90216

Ossip Mandelstam, 10.-26.12.1936

Im Bergesinnern schläft und handelt Istukan
An sicherer, an glücklich-ungeschützter Stätte
Und träumt und wird geträumt durch einen Wahn
Heiß siedend Wünschens, schnell sich formender Fette.

Als er ein Junge war, mit dem der Pfauenvogel spielte,
Wurde mit indisch Regenbogen er gefüttert,
Mit rosa Milch gestillt, gefüllt und aufgewühlt
Wurde da nicht gespart an dem, was Menschenherz erschüttert.

Der Bröselknochen ist zum Knoten nun gebunden,
Vermenschlicht sind die Kniee, Hände, Schultern rund.
Er lächelt mit dem stummen, dem gestillten Mund,
Er denkt mit seinen Knochen und der Schädel fühlt,
Kämpft, zu erinnern sich der menschlichen Gestalt…

Echo auf: Ilse Aichinger, Eine Zigarre mit Churchill

Die Germersheimer Schreibübung mit Studierenden, die in der Mehrheit keine deutschen Muttersprachlerinnen sind, geht ins dritte Semester. Eine vage Klammer ist durch den Titel „In der Welt sein: Begegnungen“ vorgegeben. Die ersten beiden Texte reagieren auf einen ehemaligen Zeitungsartikel von Ilse Aichinger im Wiener „Standard“.

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender: Sie reicht nicht zur Stille, um so mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge: »Hier siehst du mich« – aber wen sieht man, zwischen Eisbergen oder an Dattelpalmen gelehnt? Wieder nur sich selbst. Deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren. Die Qualität der Entdeckungen wächst, bringt Ruhe und neue Aufbruchsmöglichkeiten. So war ich vor kurzem einmal nicht in Wien, sondern in einem echten Wachsfigurenkabinett, bei Madame Tussaud’s.

   Es gibt Reisen, die in die Ferne, und solche, die in die Geschichte führen – zum Beispiel zu Madame Tussaud, einst wohnhaft nahe der Baker Street, wo Sherlock Holmes ein Museum für seine Nichtexistenz bekam. Bevor sie, weil das Geschäft ihres ersten Wachsfigurenunternehmens in Paris nachgelassen hatte, 1802 nach London kam, hatte die 1761 in Straßburg getaufte Marie Grossholtz (die spätere Madame Tussaud) schon eine Ausbildung in Anatomie genossen: Ihre Mutter nahm eine Stellung im Haus des Arztes Philipp Curtius an, der anatomische Figuren in Wachs nachbildete und mit deren Ausstellung reich wurde. Marie bildete früh Benjamin Franklin nach, Dr. Curtius zwang sie aber auch, während der Französischen Revolution Leichenhaufen nach gut modellierbaren oder prominenten Köpfen zu durchsuchen.

   So blieb sie immerhin in einer Gesellschaft, die besser war als die hohe, und geschickt nahm sie auch Robespierre die Totenmaske ab. Gegen Ende der Revolution starb Dr. Curtius, Marie erbte die Ausstellung. Es war, wenn man sich die Eintrittskarte leisten konnte, eine Vorform des Kinos, noch vor den Panoramen, aber die Pariser hatten schon zu oft denselben Wachs-Film gesehen, so daß Madame Tussaud, wie sie sich nannte, nach England aufbrach und 33 Jahre durch England tourte, Hauptattraktion: die Totenmaske Napoleon Bonapartes. Als bei einer Überfahrt nach Irland die stürmische irische See einmal das Schiff zum Kentern brachte, überlebten wenige, aber Madame Tussaud und einige ihrer Figuren stiegen, nicht ganz trocken zwar, aber doch, an Land. Mit 74 beschloß sie, sich in London niederzulassen, nicht weit von der heutigen Filiale. 1850 starb sie mit 89 Jahren, ihre Söhne und Enkelsöhne führten die Ausstellung weiter und verlegten sie 1884 an den jetzigen Ort.

   Die »Chamber of Horrors« hieß noch nicht so, aber der Scharfrichter Marwood kam oft hierher, um Figuren zu besuchen, die er hingerichtet hatte. Jetzt steht, seit dem Zweiten Weltkrieg, am Eingang der »Chamber of Horrors« die Figur Adolf Hitlers. Ihn zu besuchen lohnt sich: Er sieht in Wachs genauso unbedeutend aus wie in Wirklichkeit, ein Nobody, bei dem ich schon 1938 nicht verstand, warum ihm so viele nachliefen. Er ist ein Grund, bei jeder Englandreise dem Kabinett einen Besuch abzustatten. Ein anderer Grund ist der sehr gut modellierte Winston Churchill. Gerne würde man ihn auf eine Zigarre einladen, an Hitler vorbeispazieren und Zigarrenasche fallen lassen.“

(In: Ilse Aichinger, „Unglaubwürdige Reisen“. Fischer Verlag. 2005)

Orange-rot


Wenn ich meine Augen schließe,
tragen mich meine Gedanken
stets zurück zu jenem Augustabend
im Parque de Bonaval.

Die heiße Luft des Sommertages
war unter den grünen Bäumen
besser zu ertragen
als in den steinernen Gassen,
die die Hitze zurückwarfen.

So war die Luft
zwischen den engstehenden Häusern
so heiß und schwer wie der Caldo,
den Mama in den Wintermonaten am liebsten hatte.

Doch über den Dächern von Santiago
wehte eine laue Brise und
rückblickend scheint es,
als habe der Wind geahnt,
was wir noch nicht wussten
und sich dazu entschieden,
uns tröstend durchs Haar zu streicheln.

Die Sonne ging ein letztes Mal
unter und tauchte die Türme der Kathedrale
in das orange-rote Licht,
für immer
die Farbe meines persönlichen Friedens.

Ich öffne die Augen
und mein Kopf reist zurück in die Gegenwart.
Ich sehe, wie die Sonne
über den Bäumen am Rhein aufgeht
und sich der Himmel
orange-rot verfärbt.
Die Blätter der Bäume rauschen im Wind,
und für einen Moment ist es friedlich auf der Welt

Anne-Sophie Preuß

Eine Reise in die Vergangenheit

Ich gehe ins Bett. Ich bin so müde, dass ich in den ersten fünf Minuten einschlafen müsste. Aber ich kann nicht. Mein Kopf will nicht. Und er fängt an, bewegende Erfahrungen zur Erinnerung zu bringen. In den meisten war ich ein Kind, ohne Sorgen, ohne Probleme, die der heutige Alltag uns verursacht. Aber mein Gedächtnis konzentriert sich vielmals intensiv auf unangenehme Erfahrungen, die ich auf einigen Reisen gemacht habe. Erfahrungen mit großer Macht. Erfahrungen, die die Persönlichkeit eines Menschen verändern können. Und ich werde dieses Gefühl nie vergessen. Ich werde meinen Besuch in Dachau nie vergessen. Tod, Folter, Sklaverei sind nur einige der Begriffe, die ich so intensiv fühlte, als ich zum ersten Mal in das Zimmer mit der so zynischen Inschrift „Brausebad” trat. In diesem Moment wurde die Geschichte, die ich nur in Büchern gelesen habe, in meinem Kopf reproduziert. Ich konnte nicht fassen, dass ein Mensch zu solchen Taten fähig sein könnte. Ich schloss meine Augen und versuchte mir vorzustellen, wie sich ein Kommunist, ein Jude oder im Allgemeinen ein Feind des Nationalsozialismus in einer solchen Lage fühlte. Angst vor dem Tod, Verzweiflung und Schmerz. Die wichtigen Probleme des Alltags sahen nunmehr unwichtig aus. Mein Gedächtnis speicherte dieses Gefühl. Diese Reise war nicht nur ein Erlebnis. Es war nicht nur ein Museumsbesuch. Es war eine Erinnerung an das, was menschlicher Hass bewirken kann. Gefühle wie Mitleid und Empathie haben sich in mein Herz eingraviert. Es war eine Reise voller Emotionen. Es war eine Reise in die Vergangenheit.

Petros Dramitinos

Jahrtausendruhe

Im Süden streichelt das Libysche Meer

Den samtenen Sand : wo Schildkröten 

Ihre Eier vergraben : damit die Sonne sie

Ausbrütet : die Menschenkinder tollen 

Umher : im Handstand zappeln ihre Füße

Durch die Luft : hinterm Meeresstrich

Verabschiedet sich das Licht 

Mit einem arabischen Teppich : auf ihm

Kannst du fliegen : es genügt

Die Augen zu schließen : schon landest du

Im Norden : wo das Meer gegen die Felsen

Brandet : die Silhouette eines erloschenen

Vulkans zeichnet seinen Kegel scheinbar

Friedlich auf die sich verdunkelnde 

Himmelsleinwand : was sind schon ein paar 

Jahrtausende Ruhe in der Erdgeschichte

Genesis neu

Leer war die Erde,
Wüst und leer.
Dann schuf ER
Den Menschen,
Nach seinem Bild,
Steht geschrieben.
Gab ihm die Erde
Zum Wohnen anheim.
Mit Pflanzen, Tieren,
Bergen und Meer,
Auf dass er sie
Nutze und hüte
Zu seinem Glück.
Jahre verwehen
Wie ein Tag.
Der Mensch aber
War nicht allein
Abbild von IHM,
Es liegen immer
Dunkel und Licht
in ewigem Kampf.
Abraxas‘ Schatten
Fliegt über die Welt.
Frieden und Krieg,
Liebe und Hass,
So geht es hin
Bis zum Ende der Zeit.
Der Untertan stirbt
Tausende Tode,
Und die Erde wird sein
Wieder wüst und leer.

Amerika, eine Aufgabe feat. 01.06.2016 * AK

Sprengung

aller Katergorien,

Gedicht im A4-Format: auf

dem Grunde der Seele

klebt Blut – wie

ist das möglich?

 

Papageienträume, Papayalieder

und vergraben im Wald

kein Wischlappen,

nur

eine unbekannte

Stadt – Teil

eines Sternhaufens auf Erden.

 

Ich höre dich singen, singen

Ich höre dich, Amerika

Ich höre eine Stimme und weiß nicht

 

Wie,

wie heißt du wirklich, Amerika?

 

Die Familie Vespucci hat

längst ihren Dank abgestattet, südlich

korrekt & in Maßen

überschwänglich (wie…

bei den Ringmanns und Wald

seemüllern dieser Welt, die

Familie Vespucci hat

nichts mehr zu

tun mit

allem,

was folgte (Wie, wie … die Familie

Vespucci hat

ihre Schuldigkeit getan.

Getan? Schuldigkeit? Die Familie Vespucci

hat

 

Wie heißt du wirklich?

Wie bist du geboren?

Warst du einst autonom?

 

Wie Australien,

durch Wüste und Dschungel

zieht sich die feurige Spur

des Gesangs

 

Wie,

wie heißt du wirklich –

in Träumen & Liedern entstanden

auf dem Grunde des Himmels,

Stadt – Teil

des Unbekannten, grauen

erregenden grenzen

los freudigen

Beginnens

von Etwas, Welt im A4

Format oder Reißbrett

inmitten einer Seele, tabula

rasa

 

Sprengung aller Kategorien?

Erneuerung der Sprache?

Des Denkens?

 

Neue Welt gar, aus

Allen Teilen

Gemischt?

 

Ich höre dich singen, singen

Ich sehe dich stolpern und torkeln

Burroughs & Ginsberg, Freunde

Schnellfertig und Weilehaben

Schnellfertig besucht Weilehaben. Er sieht, wie Weilehaben sein Geschirr umständlich mit der Hand abwäscht und fragt: „Sag, hast du keinen Geschirrspüler? Wie viel Zeit verschwendest du mit dieser Arbeit!“

Weilehaben: Wenn ich mit der Hand abwasche, vollziehe ich das Speisen und die dazu gehö­rigen Eindrücke nach. Ich erinnere die Gedanken und Gefühle, die ich beim Essen hatte, und war Besuch da, erinnere ich unsere Gespräche. Es reißt mich aus der Geschwindigkeit mit mir selbst, in die mich ständig etwas hineinzwingen will. Hast du jemals deinen Geschirrspüler eingeschaltet und dir gesagt, so, in der freien Zeit mache ich etwas Schönes? Keiner tut das. Stattdessen telefoniert man oder verschafft sich weitere Beschäftigungen und verfällt dem Ge­triebensein.

Schnellfertig: Dann hast du bestimmt auch kein Smartphone oder Computer?

Weilehaben: Doch hab ich. Aber das Smartphone ist ausgeschaltet. Ich verwende es nur zwei­mal am Tag. Nach dem Frühstück und nach dem Abendessen.

Schnellfertig: Klingt nach Technik-Kritik.

Weilehaben: Wenn du so willst, ja, es ist Technik-Kritik.

Schnellfertig: Kannst du dir vorstellen, wo wir heute wären ohne die technischen Hilfsmittel? Kein Auto, keine digitale Uhr, keine Waschmaschine, keinen Computer, kein Telefon, keine Heizung, kein Radar, keine digitalgestützte Medizin, keine Flugzeuge, keine Landmaschinen, keine industri­elle Produktion, keine selbstfahrenden Staubsauger und Rasenmäher.

Weilehaben: Ja, wo wären wir? In der Steinzeit vermutlich. Ich denke, wir müssen in uns zwei Men­schen unterscheiden: Den des Aktes und den der Schrift. Jener der Schrift führt unwei­gerlich zur Technik, zur Digitalisierung und zu dem, was danach kommt. Der Mensch des Ak­tes ist der Hören­de, der Auswendigkennende, der Feiernde und Spielende. Jener der Schrift doppelt die Wirklichkeit, er lässt das Original nach und nach verschwinden.

Schnellfertig: An das Original glaubt schon lange niemand mehr. Wir haben es überall mit Kopien und Palimpsesten zu tun. Man könnte sagen, die ganze Wirklichkeit ist Schrift gewor­den. Das hat uns einen großen Bewegungsraum verschafft. Wir können fast überall hin. Und das nicht nur im Sinn des Reisens. Wir können per Video-Anruf kommunizieren, uns über tausende Kilometer hin­weg auf dem Bildschirm sehen. Ich kann über Computer oder Smart­phone bei einer Veranstaltung zeitgleich dabei sein, obwohl ich in meiner Wohnung sitze.

Weilehaben: Diese Errungenschaften sind nicht zu bestreiten. Die Frage ist, wie machen wir sie uns dienlich? Um das zu schaffen, müssten wir zu allererst wissen, wer das ist: Wir. Dieses Wissen ver­lieren wir mehr und mehr mit jeder weiteren technischen Errungenschaft. Warum? Weil die Technik uns die Kontaktfläche der Hand und somit die nachvollziehbare Wahrneh­mung ersetzt und bestrei­tet. Die Haptizität geht verloren. Es macht einen Unterschied, ob ich einen Menschen leibhaftig er­fahre oder nur seine E-Mail lese oder mit ihm per Video kommu­niziere.

Schnellfertig: Das kann ich ja trotzdem tun.

Weilehaben: Macht man aber nicht. Das Laster der Faulheit und Bequemlichkeit wird ausge­weidet. Wir leben mit dem Smartphone nur noch auf Zuruf. Es ist ein Sprechen, kein Schrei­ben. Interessant wie wir alles erfinden, aber nicht für uns sorgen können, was unsere seelische Gesundheit betrifft. Die Welt wird uns eine machbare, eine, die uns immer dichter bedrängt, uns knebelt. Der mangeln­de Kontakt mit Welt macht uns aseptisch, lässt uns einem Hygienis­mus verfallen. Wir können nichts mehr hergeben. Niemanden mehr in die Wohnung lassen z.B. Fern bleibt uns die nicht meßbare Wirklichkeit und der Kontakt zu unserer in der Tiefe waltenden dramatischen Verflechtung. Wir werden notlos und damit gesichts- und charakter­los.

Schnellfertig: Jetzt trägst du aber dick auf.

Weilehaben: Wenn es aber so ist … Der unter technisch-modizfizierten Lebensvollzügen le­bende Mensch wird eine große Affinität zum Totalitären entwickeln. Zum Rausch des Alles-Mach- und Dominierbaren. Er kann kaum innere Gegenwehr aufbringen. Wozu auch?

Schnellfertig: Die Technik hat sich rasch sehr hoch entwickelt. Das können wir nicht wieder von uns stoßen. Nichts würde mehr funktionieren.

Weilehaben: Nein, umgekehrt, die Technik weiter und weiter gesponnen, dann funktioniert nichts mehr, nämlich das soziale Leben. Die Technik liefert eines nicht mit: Die vertrauensbil­denden Maß­nahmen. Warum nicht: Weil sie davon lebt, genau diese Maßnahmen zu über­springen, scheinbar überflüssig zu machen. Außerdem verbirgt sich hinter der Technik eine Auslegung von Welt, die die Welt von uns ausschließt und in uns die Einbildung nährt, wir wüssten, was das ist: Welt. Die Welt und auch die Natur sind in Wahrheit nie so eindeutig, dass sie eine gesetzliche Fixierung zulassen. Eigentlich gibt es nur Bewegungen und Übergän­ge. Was man erkennen kann, ist Stückwerk. „Mehr als je/ fallen die Dinge hinab, die erlebba­ren, denn/ sie werden verdrängend ersetzt durch ein Tun ohne Bild“, zitiere ich den Dichter.

Schnellfertig: Meinst du, statt eines Bildersturms bräuchten wir einen Sturm gegen das Digita­le, ei­nen neuen Maschinensturm?

Weilehaben: Nein, es geht darum, den selbstreferentiellen selbsthergestellten Mangel zu ver­stehen. Es muss klar gegeben sein, dass wir Herr der Maschine sind, wir uns ihrem Sog ent­ziehen können. Dass wir unsere tieferen Lebenswerte über jene des Machbaren zu stellen in der Lage sind: z.B. die Maschinen abstellen und Schichtarbeit verbieten. Wir müssen die Technik an kurzer Leine halten und nicht diese uns. Dafür müssen wir jedoch einen Besin­nungsraum jenseits des Machbaren betre­ten. Eine menschliche gesunde Kultur besteht aus Schrift und Akt. Und die Schrift darf den Akt nicht entleeren, sondern soll ihn zeigen, für ihn zeugen.

Schnellfertig: Könnte ich mir vorstellen, was da am Ende herauskommen soll, würde ich dir viel­leicht folgen. Aber Geschirrspülen würde ich trotzdem nicht.

Oktober 2022

Anmerkung: „Mehr als je/ fallen die Dinge hinab, die erlebba­ren, denn/ sie werden verdrängend ersetzt durch ein Tun ohne Bild“, Rainer Maria Rilke, aus der neunten Duineser Elegie

Publikation dieses Autors in Vorbereitung