Echo auf: Octavio Paz, Glück in Herat

Ich kam hierher,

wie ich diese Zeilen schreibe

– ohne bestimmte Idee:

Eine Moschee, blau und grün,

Sechs verstümmelte Minarette,

Zwei oder drei Gräber,

Erinnerungen an einen heiligen Dichter,

Die Namen Timurs und seines Geschlechts.

Ich traf den Wind der hundert Tage.

Alle Nächte deckte er zu mit Sand,

Peitschte meine Stirn, verbrannte mir die Lider.

Die Morgenfrühe:

                             Auseinanderstieben von Vögeln

Und jenes Rauschen von Wasser zwischen Steinen,

Das die Schritte der Bauern sind.

(Doch das Wasser schmeckte nach Staub.)

Gemurmel in der Ebene,

Erscheinungen,

                          Verflüchtigungen,

Ockerfarbene Wirbel,

Substanzlos wie meine Gedanken.

Rundgang um Rundgang

In einem Hotelzimmer oder auf den Hügeln:

Die Erde ein Kamelfriedhof,

Und in meinen Grübeleien immer

Dieselben Gesichter, die verfallen.

Der Wind, der Herr der Ruinen –

Ist er mein einziger Lehrer?

Erosionen:

Das Minus nimmt immer mehr zu.

Am Grab des Heiligen,

Tief in den dürren Baum

Schlug ich einen Nagel ein

                                             Nicht

Wie die andern gegen den bösen Blick:

Gegen mich selbst.

                               (Etwas sagte ich:

Worte, die der Wind mitnimmt.)

Eines Abends verbündeten sich die Höhen.

Ohne von der Stelle zu rücken

                                                  Wanderten die Erlen.

Sonne auf blauen Mauerkacheln,

                                                     Jähe Frühlinge.

Im Garten der Edelfrauen

Erstieg ich die türkisene Kuppel.

Minarette, tätowiert mit Zeichen:

Die kufische Schrift, jenseits des Buchstabens,

Wurde durchsichtig.

Ich hatte nicht die Vision ohne Bilder,

Ich sah die Formen nicht kreisen bis zum Verschwinden

In regloser Klarheit,

Dem entstofflichten Sein des Sufis.

Ich trank nicht Fülle in der Leere,

Noch sah ich Bodhisattva mit dem Diamantleib.

Ich sah einen blauen Himmel und alle Blautöne,

Vom Weiß bis zum Grün

Den ganzen Fächer der Pappeln,

Und über der Pinie, mehr Luft als Vogel,

Die schwarzweiße Amsel.

Ich sah die Welt in sich selber ruhn.

Ich sah die Erscheinungen.

Und ich nannte diese halbe Stunde:

Vollkommenheit des Endlichen.

(Deutsch von Rudolf Wittkopf?)

Ein Novembertag in Irland

Kalt, düster und nass, so sind die meisten Novembertage in Irland. Deswegen ist es so überraschend, dass die Sonne scheint. Es ist immer noch kalt, aber die Sonne gibt mir das Gefühl, dass es halb so schlimm ist. Perfekt für das, was meine Freunde und ich uns vorgenommen haben. Wir wissen, dass es viel Überwindung kosten wird, aber wir sind fest entschlossen, es auszuprobieren. Der Wind bläst mir die Haare aus dem Gesicht, als wir über den Steinstrand auf das Meer zu laufen. Ungefähr zehn Grad hat das Wasser um diese Jahreszeit, sagt uns ein Ire. Der Wind ist kalt, aber ich spüre ihn vor Aufregung kaum. Die Steine sind eisig kalt und hart unter meinen Füßen, während wir zum Wasser gehen. Der erste Schritt ins Wasser ist der schlimmste. Ich schnappe nach Luft, genauso wie meine Freunde neben mir. Aber wir gehen weiter, bis wir bis zur Brust im Meer stehen. Unter meinen Füßen ist jetzt rutschiger Sand, den ich kaum mehr spüre. Ich spüre nur noch Kälte, überall. Um mich besser an die Wassertemperatur gewöhnen zu können, tauche ich den Kopf unter Wasser, und als ich wieder auftauche, ist es tatsächlich erträglicher. Und dann ist es gar nicht mehr schlimm. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Das Glück und die Freude, die mich seit einigen Stunden durchströmen und mir immer wieder Tränen in die Augen zaubern, schlagen über mir zusammen wie die Wellen des Meeres einige Momente zuvor. Es ist, als helfe mir die Kälte um mich herum dabei, mich auf jede einzelne Empfindung zu konzentrieren. Mein Körper wird allmählich taub, der Sand unter meinen Füßen hätte genauso gut Eis sein können. Aber das alles spielt keine Rolle. Es ist der perfekte Augenblick, der perfekte Tag. Und wie könnte er es auch nicht sein? Ich bin zwar nicht zuhause, um sie zu sehen, aber sie ist endlich hier, endlich auf der Welt – meine kleine Nichte. Und wie könnte ich ihre Geburt besser feiern als mit einem vollkommenen Novembermoment?

Lea Döhms

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