balustradengesänge

monate im raureif vergessen anders –

ein puzzle der akkorde dem eterno reverse

skalen entlang hölzerne treppenleitern

geknüpft aus zweifachem seil

blitzt der gesang im schatten eines lächelns auf

im staubwirbelkorn der dreiunddreissig

klopft der uhrzeiger achtel auf metallene streben

die treppengeländer entlang balancieren

zehenspitzen in ihren ballettschühchen auf

cettes garde-fous balustradengesänge

kehlig irdisch aus prozessionen hymnen

palmwedeltoccatas und dem flimmern

alter peruanischer filme über der stimme

einer sonnenkönigin… und es dreht sich

weiter im kaleidoskop das pink der jalousienstrahlen

an den fenestren auf den balkonen der welt

fünftelton tanzt achteltakt auf drei punkten

der metallrasur schwarz schlangenlinienform

blechern spiralen rund…

Featuring : Wolfgang Herrndorf : Traurige Tropen (1)

Tschick hatte seine Ellenbogen bei sich aus dem Fenster gehängt und den Kopf draufgelegt, und auch ich hatte meinen linken Arm aus dem Fenster gehängt wie bei einer Bootsfahrt, wenn man ins Wasser greift. Zweige von Bäumen und Sträuchern streiften meine Hand, und mit der anderen Hand steuerte ich den Lada durch die schattenhafte Welt.

Als ich in Brasilien ankam, war man im Begriff, diese Gegend zu erschließen, vor allem auf Betreiben eines englischen Unternehmens, dem die Regierung anderthalb Millionen Hektar Land überlassen hatte mit der Auflage, Straßen und Eisenbahnen zu bauen.

*

21. Auflage 2015, S. 110

92. Auflage, März 2022, S. 217

Verschwörung der Praxis

Sie leuchten mir heim

Schwärzen die Verträge

Der Energiebonus kommt bestimmt

Ich scharre schon in den Startlöchern

Hab auch die Sprühdose dabei

Sagt einer Höhle, schick ich die Armee

Sie bringen mir Welt

Speichern meine Krater

Bunte junge Hunde unterm alten Grau

Land hab ich nicht bestellt

Doch die Verpackung und der zurückgelegte Weg

Auf die beiden ist Verlass

Neue Sentenzen, 1. Reihe

Einfach einen Schnips in die Luft machen und der Kaffee ist da, das Essen ist fertig, die Tür geht auf oder man ist in einem anderen Land oder der Freund steht im Zimmer. Zaubern kön­nen: Ein Kinderwunsch. Ein Kind wünscht sich das, weil es von Weltmächtigkeit ausge­schlossen ist. Aber sollte der Erwachsene sich das auch wünschen? Wir können es ein biß­chen: Unsere Technik ist ein kleiner Zauberer. Aber was wir bei unserem naiven Wunsch ver­gessen: Bemühung, Arbeit, Anstren­gung um eine Sache ist Teil der Erfüllung. Wenn jeder meiner Wünsche auf einen Schnips hin Er­füllung fände, wäre das die Hölle. Ich hätte keinen Weg mehr. Keinen Weg, den Kaffee oder das Es­sen liebevoll zuzubereiten, keinen Weg, die Reise zu planen, keinen Weg zum Freund oder zur Freundin. Das Leben ist lebendig im Weg, nicht erst am Ziel. Wenn ich zaubern könnte, wäre mein einziger Wunsch, dass mir diese Fähigkeit wieder genommen würde. Wie also mit der Technik um­gehen, deren einziges Agens ist: Zaubern, Zaubern, Zaubern?

Kultur als Fluchtkultur, als Kultur des Machens und des Immer-Neuen. Unser Problem: Wir können nicht verweilen und darum auch nicht wohnen. Denn eh wir im Haus wohnen können, wenn wir es denn wollen, müssen wir „dichterisch“ gewohnt haben und also fähig sein, uns in der Dauer einzu­richten, müssen wir ein Verhältnis zur Dauer haben. Aber da wir das nicht vermögen oder wir davon abgelenkt werden, leben wir in der ständigen Umwälzung unserer Alltagsverhältnisse, sind wir aus­gesetzt an jedes Spektakel. Über die Dispositive der Macht erreichen uns die Nachrichten und Be­fehle der Wirrnis in immer kleineren Intervallen. Unser Haus, unser Wohnraum, ist nur noch Funkti­onsraum, ist Wirrnis. Darin sind wir zwangsläufig besitzlos. Nur eines gehört uns, und das auch nur scheinbar: Das Dispositiv, womit wir die Befehle empfangen. Darum pressen wir es ans Herz.

Die technische Welt als gnosisierende muss zwangsläufig in die klinische, aseptische münden. Für die aseptische Welt sind Viren die größte Bedrohung, mehr noch als Krieg oder Naturka­tastrophen. Viren können unseren hygienischen Zaun überspringen. Folglich müssen wir jede Kontaktfläche und damit Nähe meiden. Anders könnten wir uns infizieren und also fremdbe­stimmt werden. Unser Auto war doch innen so schön sauber, die Hände haben wir stets desin­fiziert, die Wäsche und das Geschirr mit zahlreichen Waschmittelzusätzen gewaschen. Und doch sollte uns der aseptische, von Fremdstoffen freie Raum nicht gelingen? Das Aseptismus-Syndrom … Wir haben lange dafür gear­beitet, endlich Atemmasken wie die Japaner tragen zu dürfen. Aber gibt es ein Leben, wenn wir die Gefahr aussperren, oder wird nicht vielmehr dann die Angst das Leben?

Die Umkehrung des Zu-Verantwortenden gegen den Verantwortlichen durch den Verantwortungsn­ehmer … Oder wie das Feigenblatt der Humanität zur Tyrannei wird. Ein Beispiel: Den Kranken­häusern ist aus irgendeinem Grund der Gips ausgegangen. Darum darf sich niemand mehr Arm oder Bein brechen. Man könne diese Patienten ja nicht behandeln und würde so an seinem humanen Ide­al schuldig werden. Also verbietet der Gesetzgeber im Umkehrschluss alle Sportarten, wo es ver­mehrt zu Arm- und Beinbrüchen kommt. Oder Gesundheitsämter sind wegen akuten Personalman­gels nicht in der Lage, von Läusen befallende Kinder formell zu erfassen. Also werden allen Kin­dern Kontaktbeschränkungen auferlegt, statt dass das Per­sonal aufgestockt wird. Derartige Umkeh­rungen sind auch ein beliebtes Mittel – hier nicht aus vorgeblichen humanitären, sondern pekunären Gründen – von Versicherungen. Sich für eine Leistung bezahlen lassen und dann derart auf den Ge­setzgeber einwirken, dass der Schadens­fall gar nicht eintreten kann. Ein Schadensfall verhindern wird als löblich empfunden und ist darum leicht durchsetzbar. Das erste Beispiel ist eine Perversion der humanen Idee. Das zwei­te ist Betrug. In beiden Fällen sind luzide Logiken der doppelten Ver­neinung am Werk, schwer zu durchschauen, aber stets mit der Beschneidung der Freiheit endend, das Verspre­chen der Freiheit im Munde führend.

In welchen Zugzwang bringt sich der Mensch durch seine Erfindungen und Vorstellungen? Die Er­findung folgt der Vorstellung, und der Erfindung folgt, abgesichert in der Vorstellung, der Zwang zur Verwirklichung. So resultiert aus der Vorstellung der Globalität z.B. die Erfin­dung des Fluggeräts und der Telekommunikation, und diese Erfindungen nähren wiederum die Vorstellung. So folgt der Vorstellung vom homo sapiens als erst durch Bildung vollendba­rem Wesen seine Optimierung. Die Optimierung wird Idee und Forderung, während der Man­gel Realität bleibt und Schulderfahrung präliminiert. Die Vorstellung von der Gleichheit der Menschen rückt von seiner moralischen Wurzel weg zur äußerlich technischen Behand­lung, die sich auf alle Menschen erstreckt. Die Welt wird homogen gemacht und der reibungs­lose Verkehr in ihr durch Technik ermöglicht. Die Optimierung des Menschen wird eine tech­nische, eine transhumane. Nicht seine Sittlichkeit muss gehoben, sondern die Mängel seines Körpers müssen behoben werden. Dieser Körper wird durch Maschinen ergänzt, wird im Sinn der Fürsorge überwacht. Da aber die Sittlichkeit nicht mitwächst, vielmehr verkümmert, der Mensch aber im nunmehr globalen Verkehr nicht mehr das Vertrauen eines Dorfes, einer Ge­meinschaft genießt, wo man ihn kennt, braucht es Zeichen, woran man ihn erkennt. Er braucht einen Identitätsnachweis. Weil das zwischenmenschliche Vertrauen im globalen Verkehr mehr und mehr verlernt wird, muss der Identitätsnachweis immer genauer und umfassender werden. Die Arbeit und die Versorgung geschehen nicht vor Ort, sondern global als Fernarbeit und Fernversorgung. Darum weiß man nicht, was die Bedürfnisse des Einzelnen sind. Da aber in Massen produziert wird, muss das Verhalten des Menschen, wozu auch seine Bedürfnisse gehören, gekannt sein. Der Bäcker im Dorf weiß aus dem Kontakt mit seinem Kunden, welches Brot und welchen Kuchen dieser bevorzugt. Das globale Unternehmen kann das nur über anonyme Ausforschung ermitteln. So kommt es zur doppelten Überwachung: Zur Feststellung der Identität und zur Auslesung des Verhaltens. Keiner muss noch Vertrauen leisten, noch gibt’s eine Güterversorgung, der gegenüber Dank zu bezeigen möglich wäre. Die Technik ist unser Schicksal im Verein mit unserem Vorstellungsmodell der Gleichheit, eines Körpers ohne Mangel und weltumfassenden Verwaltungsorganisation zur Erreichung dieser Optimierungen. Kraft solcher Vorstellungen steht und fällt eine Welt, die in Wahrheit nur ein Kartenhaus ist, auch wenn sie aus Stahlbeton gebaut und in Fels gehauen ist.

Wir leben in einer Rundum-Kultur des Machenschaftlichen. Dieses Machenschaftliche hat der Posi­tivismus im Verein mit Kapitalismus und Technologie zum Totalitarismus ausgebaut, zu­gespitzt, op­timiert. Deutliches Indiz für das Machenschaftliche: Der Mensch darf nicht sein, nur noch das Hu­mane und schließlich das Transhumane. Im Transhumanen sind wir Funktion und Adresse des Ma­chenschaftlichen. Dieses ist ein allesfressender Objektivismus, ein Totali­tarismus des Machens. Wir leben nach dem Rhythmus der Maschinen, diese nicht nach dem Rhythmus des Menschen. Welt und Mensch werden befreit von den Keimen der Armut, der Krankheit, des Schmutzes, eingepflanzt in den Horizont des Klinischen und Prothetischen. Und wo ist der Ausgang? Gibt es einen? Das ganze Projekt des Machenschaftlichen zu unter­laufen, nicht zu glauben, dass die Welt einen errechenbaren Sinn haben, der Mensch vermes­sen werden könnte. Die Maschinen den Gezeiten des Menschlichen unterwerfen. Die Maschi­nen ausstellen, statt den Menschen in die Schichtarbeit einbestellen. Den Tee nicht aufgießen, wenn das Wasser kocht, sondern wenn seine Zeit ist. Wann ist die Zeit des Menschen? Im­mer. Aber diese ist täglich neu zu bestimmen und gegen die schnappatmende Zeit des Ma­chenschaftlichen durchzusetzen.

Um mit einer Sache, einem Ding vertraut zu werden, muss es mir gehören. Muss ich mich ihm hin­geben und es muss sich mir hingeben können. So entsteht Vertrautheit im Dasein. Ge­nau diese Hin­gabe unterläuft ein Wirtschaftssystem, darin es kein Eigentum an den Sachen mehr gibt, sondern al­les auf Leihbasis gestellt ist. „Gekauft“ heißt jetzt „Geliehen“. Wir werden fremd in der Welt, wer­den geschwächt. Wir verlieren die Kraft zum Widerstand.

Warum gibt es Krieg oder „hundert Mann und ein Befehl und ein Weg, den keiner will“? Dennoch gehen wir ihn. Ein Grund, warum die Bevölkerung mitmacht, ist der Überdruss, die Langeweile. Das in tiefgreifender Feigheit vor dem Leben sich hinschleppende Gros der Men­schen fühlt Mut für den Hass, den Krieg, aber nicht für das Leben. Im Krieg verlieren alle bis auf jene, die die Beute unter sich aufteilen. Und diese nehmen nicht teil am Krieg. Sie betrei­ben die Propaganda, reißen den nach Zugehörigkeit lechzenden unmündigen schlafenden Bür­ger hinein in die Zockerei. Ohne ihn wäre kein Krieg möglich. „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Aber sie gehen hin, glauben an das projizierte Feindbild. Sie glauben es, weil ihre Unmündigkeit, Schlafmützigkeit und Feigheit Weisungsabhängigkeit bedeutet. Sie ersehnen den Befehl. „Es ist ehrenvoll, das Land zu verteidigen“, lassen sie sich einreden. Gäbe es keine Uniform, wüssten sie gar nicht, wer der Feind ist. Aber wer wird zum Feind aufgebauscht? Der Bürger des anderen Beute-Regimes, der von der anderen Elite durch Propaganda Losgehetzte. Auch dieser weiß nicht, was er tut. Im Krieg ist nie die Bevölkerung der Sieger, selbst nicht, wenn ihre Seite gesiegt hat. Die Bevölkerung sieht nur zer­störte Familien, Häuser, verwüstete Landstriche, Millionen Tote. Und folgen nicht aus jedem Krieg neue ungerechte Regelungen, woran sich der nächste Krieg entzündet? „Der Herr gibt deinen Gren­zen Frieden“, heißt es im Psalm. Ein Verbleiben in den Grenzen. Das ist spannend genug, ist eine täglich neue Aufgabe. Der Elite, den Regierungen, den Räuberbanden den Wind aus den Segeln nehmen. Krieg ist keine Naturkatastrophe, aber er wirkt wie eine. Kriegstreiber ist, wer die Gren­zen, denen man zugestimmt hat, propagandistisch und beuteorientiert verletzt oder wer den andern in die Enge treibt. Neu entstandene ungerechte Grenzverschiebungen oder ein provozierendes und bedrohliches Bündnisungleichwicht müssen durch Verhandlungen und ein Schiedsgericht beseitigt werden. Aber darüber lacht die Räuberbande. Wer soll dieses Schiedsgericht sein? Ein solches müsste über exekutive Gewalt verfügen  Die Räuberbande ist auf Raub fixiert. Nur eines kann sie bremsen: Sie ruft „Krieg“, aber keiner geht hin. 

Zum totalitären Geist gehört der Wille zur Ausschließung bzw. zur Selbsterhöhung. Dieser Geist muss irgendetwas an den Haaren herbeiziehen, was angeblich einen Unterschied macht: Rasse, Hautfarbe, Impfung. Die Unterscheidungen sind gern biologisch begründet, denn sol­che sind unab­änderlich. Und wenn biologische nicht aufzurichten sind, müssen ideologische herhalten. Am besten man vermischt beide.

Der Überdruss und der damit verbundene Sinnverlust sehnt sich nach Zerstörung, nach Krieg. Lie­ber Totsein als Leben in der Sinnleere. Zerstörung wird ein letzter Sinn. Was aber schafft freudigen, erbauenden Sinn? Das Wagnis in die Lebensgefahr, die nicht Krieg ist, ins Fest, in die Unterneh­mung, ins Abenteuer. Jeder kann sein Überdruss-Gefängnis verlassen. Aber dafür braucht er die Er­fahrung von Rest-Sinn. Das Leben in der Feigheit pulverisiert den Sinn. Es ist die Feigheit, die Krieg will.

Unsere technischen Erfindungen verfolgen immer das gleiche Ziel: Die Schwerkraft überwin­den. Ist die Schwerkraft das, worunter wir am meisten leiden? Nein, sie ist eher ein Unbeha­gen, eine Unbe­quemlichkeit. Wir leiden an unserer Art des Umgangs mit ihr, an unserem Re­agieren auf sie. Wenn mir statt zu fahren zu fliegen gelingt, dann hab ich zwar eine Entfer­nung zeitlich verkleinert, aber sofort hängt sich mein inneres Raum-Zeit-Verhältnis an die neue Möglichkeit. Jetzt will ich nicht mehr nach Amerika, sondern zum Mond oder zum Mars. Mit jeder überwundenen Schwerkraft macht mein Raum-Zeit-Verhältnis eine neue Rechnung auf. Es ist ein Schattenboxen ohne Ende. Unsere Siege sind vorläufig. In ihrem Ge­folge baut sich die altbekannte Niederlage anders wieder auf. Aber woran leiden wir, wenn es nicht eigentlich die Schwerkraft ist? Wir leiden an der Multi­plikation der irrigen Mittel, die die physische Schwerkraft, anstatt sie zu verkleinern, vergrößern zur Sprachlosigkeit, zur Nicht-Kommunizierbarkeit, leiden daran, dass die Schwerkraft durch uns nicht in Spiel und Fest, in Schönheit verwandelt wird, sondern in Arbeit, Mühe, Betäubung, Leere. 

Aber mehr noch als am irrigen Zugriff auf Welt leiden wir am charakterlichen Mangel, unse­rer in­neren Unfreiheit und Unaufrichtigkeit, an unserem selbst-losen Eingepasstsein in eine Rede-Rolle … Leiden wir? Es leidet, wer ins Offene drängt. 

Anmerkungen: 
„Der Herr gibt deinen Grenzen Frieden“, Psalm 147,14
„Hundert Mann und ein Befehl und ein Weg, den keiner will“, Originaltitel „The Ballad of the Green Berets“, ist ein 1966 in den USA veröffentlichtes Lied, verfasst von Robin Moore, über eine Spezialeinheit der US-amerikanischen Armee. 
Der deutsche Text (Ernst Bader) ist aus Sicht des Soldaten geschrieben und stellt den Sinn des Krieges in Frage, während der englische Text eine Hymne auf die Spezialeinheit darstellt.
„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, Carl August Sandburg, aus seinem Lang-Gedicht „The Peo­ple, Yes“

September 2022

Weitere neue Sentenzen

Sechs neue Gedichte, 4. Reihe

Aus „Wahrenberger Stanzen“



in Windesstille plätschert das Meer
durch die Nacht und an festgemachten
Booten flüstert ein Liebespaar sich
Liebesschwüre durch Fischernetze 
zu Hat an so einem Ort der Engel

Jakob die Hüfte ausgerenkt? wie
nicht untergehn im Kampf mit Ihm 
der im Dunklen kämpft Wie eine
Buhne sich ins Wasser und ins 
Festland Keilt dieser sich in eine 

Brust … Hörst dem Plätschern des
Meeres zu … Das sich um Schiffe 
Fische Steine um Liebesschwüre
mit Salz und Ferne legt Die Luft 
wird schwerer Sprache wird Gehör

               *

das Wasser zischt in der Heizung
(die Eismeere schmelzen und 
Bangladesh und Sylt wird es bald 
nicht mehr geben) während ich 
darüber nachsinn warum sich 

das Leben stets ins Tragische 
wendet Für den Mann an der 
Tankstelle bin ich halb Räuber
halb Kunde Er schickt mich
fort mit dem Beleg Nein ich 

treibe nicht schiffbrüchig im 
Indischen Ozean vor Sumatra  
doch die Hohlheit der Worte ist 
vielleicht grausamer Ich rufe 
Ihn Der den Inhalt schenkt

              *

mein ostfälisches Dorf betört 
mich mit seinen Fachwerkhöfen 
und kleinen Häusern atmend in 
weiten Gärten Noch nicht verkauft 
an den Willen des Markts Am 

Zaun wartet ein Hund Den ich 
mit Leckereien besteche Nachts 
bleiben die Laternen dunkel und 
die Bäume wiegen sich wie ein 
schweres schwarzes Segel Und 

die glänzenden Sterne sind keine 
RTL 2-Oper Hier laufe ich Aber
sehe nicht hinter das Dunkel 
das mich sieht Und bitte Tod 
lösch mir diese Schönheit nicht

                *

die Februartage künden die ersten
Frühlingsboten Leberblümchen und
Krokusgrün So treibt die Erde 
aus Wie aber werden daraus keine 
Ansprüchlichkeiten Wächst mit

Gewinn nicht der Verlust Maria 
bewegt die Worte Die sie gehört 
in ihrem Herzen während man in 
England Qualzucht betreibt mit
menschlichen Embryonen  

sag, warum können wir nicht  
still sitzen Nur sanft die Hand 
erheben derweil die Bäume 
wogen in Mariens Arm rufen
Haltet ein ihr Gewalttätigen

               *

die Katze sitzt auf der Mauer Sie
fürchtet sich nicht im Dunkel und
das Käuzchen ruft durch die Nacht
seine berühmte Melodie aus ganzer
und punktierter Note und Triller

der bis ans Ende der Welt rollt 
und sagt Daß irgendwo jemand 
keinen Menschen hat und vorm 
Fernseher eingeschlafen ist
die warm leuchtenden Fenster

verraten nicht wie klein die 
Wärme ist Von uns gegeben 
und nie umsonst Noch immer
sitzt die Katze auf der Mauer 
schaut im Dunkel die Farben

               *

du möchtest nicht zu einem Volk
gehören Das jenseits seiner Grenzen
ausraubt brandschatzt Müll wegwirft Das
ohne Dank zu Tische sitzt Du möchtest
still im Regen gehen und vielleicht

von fern noch eine Säge hören Ver-
mischt mit dem Gesang von Schwänen
die übers Wasser streifen Möchtest
der Grasnarbe Geduld erspüren und
keinen Politiker wählen Nicht für

drei die Erde verbrauchen Sondern
die Freude wie dein Hund es kann
ins Herz einlassen Willst niemand
in Verzweiflung treiben Dem
andern nicht das Maß festhalten 

September 2022

Neue Sentenzen dieses Autors

Ossip Mandelstam, 16.01.1937

Oh, dieser langsam, atemstörend weite Raum!
Ich bin von ihm gesättigt bis zur Lösung –
Ein freigeblasener Horizont, man sieht ihn kaum –
Nun wäre eine Augenbinde schon Erlösung!

Denn eher noch ertrüge ich die Seele,
Stein-sandig-aufgetürmt: die Ufer der Kamá;
Den Ärmel ihres scheuen Armes zupfte ich und schele
Blicke würf‘ ich auf Kurven, Formen, Höhlungen*

Wir würden’s ausarbeiten – für ewig, einen einzigen Augenblick –
Stromschnellen-neidisch ich & Felsentürmung du,
Und würden unter ihrer Rinde Bretter-Stämme fließen hören Stück für Stück
Im Rundgang ihrer Fasern… ( – – – )

* * *

Anm.:

* = „Ich bin für dich & du für mich nun da.“

* * [Spinoza: Ethik T. 4, adäquate Beziehung]

Steingräber Ventlinge

Für Anna Rydstedt

Senkrecht im Stein versenkt : trotzen

Sie Witterung und Wind : im flachen

Süden umspielt von Sommer und Meer

Geht die Dichterin ihren Weg vom Fels

Zum Schieferstein an der Küste : ein paar

Hundert Meter sind’s nur : schon

Jagen die Möwen einander am Ufer

Entlang : zwischen den Feldern

Schwärmen die Sperlinge auf und nieder

Nichts hat sich geändert seit den Gedichten

Oscar Wilde heiratet einen Mann

Dreh dich doch noch einmal um. Zeig es mal her, dein Gesicht. Ich kann dich doch gar nicht sehen. Was für ein plüschiger Lampenschirm. Fransen unten dran, geschwungen der untere Rand. Was für ein Stoff ist das. Gibt die Lampe Licht ab? Es scheint so. Immerhin ist dein Gesicht voller Kontraste. Dein Haar ganz glatt von Brillantine. Irgend so etwas Glättendes ist es jedenfalls. Fest wie eine Paste. Mensch, hast du unförmige Waden. Die passen nicht zu deinem zarten Gesicht. Deine spitze Nase. Warst du in der Sonne? Hast du dich an einen Palmenstrand gelegt? Oder warst du nur im Sonnenstudio. Nirgends, wirst du sagen. Meine Haut ist so. Nichts ist da gefärbt oder angebrannt. Ich bin von Natur aus. So. Was hast du dir da umgehängt? Soll das ein Tischtuch sein? Bist du ein gedeckter Tisch?

Überhitzung

Leicht krängt das Segelboot : im Abendwind

Kräuseln sich die Wellen : kühl ist’s 

Im Schatten : vom Ufer herüber schwappen

Gitarrenmusik und Gesang : wir liegen

Unbekümmert im Sand : so läßt es sich

Leben : so können wir lieben

Was einfach und klar ist : das Wasser

Glitzert wie Glas : kein Fisch regt sich

Hüpft heraus : es ist kein natürlicher

See : ein Produkt unseres Hungers

Nach Wärme : Energie : Kohle

Wir haben sie der Erde entrissen und träumen

Uns jetzt ans Meer : nicht die Temperaturen

Überhitzen sich : dieser Planet hat schon

So manche Warmzeit überstanden : sonst

Gäbe es das schwarze Gold nicht unter

Seiner Haut : sonst gäbe es uns

Nicht und nicht unser Bibbern im Winter

Wir hetzen überhitzt : hasten ohne Rast

Hinterm Horizont geht es nicht weiter

Wir können ausharren am gläsernen See

Echo auf: Peter Handke, Lied vom Kindsein

Candido Portinari, Denise a cavalo (1960)

Der kleine Tod

Spät durch Nacht und Wind reitet Denise ihren Hippocampus. Ihre ersten Lebensjahre scheinen aber wie aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit beeinflussen sie trotzdem unbewusst bis heute. Das Seepferdchen des Gehirns nämlich steuert verschiedene Gedächtnisinhalte. Gefühle, besonders Gerüche rekapitulieren die Erinnerungen, die nicht mehr bewusst abgerufen werden können. Nun, erwachsen, erhebt sie sich über den Geliebten wie eine Windsbraut und sucht nach dem, was sie früher erlebte. Als das Kind Frau war, erwachte sie in einem fremden Bett, und immer wieder strebt sie nach der Liebe. Wie der damals gegen den Baum geworfene Stock, zittert sie heute noch.

Renata Perez de Medeiros

Echo auf: Traumseminar

Tomas Tranströmer, Traumseminar

Vier Milliarden Menschen auf der Erde.

Und alle schlafen, alle träumen.

Gesichter drängen sich und Körper

in jedem Traum –

die geträumten Menschen sind zahlreicher als wir.

Doch nehmen sie keinen Platz ein…

Bisweilen schläfst du im Theater ein.

Mitten im Stück sinken die Augenlider.

Kurze Zeit Doppelbeleuchtung: die Bühne vorn,

sie wird von einem Traume überrollt.

Dann ist da keine Bühne mehr, du bist sie.

(…)

Aus: Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte. Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel. Hanser Akzente. München 1997. S. 191f.

Dann ist da keine Bühne mehr, ich bin sie.

Und auf mir stampfen alle möglichen Leute herum,

verschwitzte Männer in Arbeitshosen, schnaufend, scheinbar vom Alltag erschöpft,

montieren den Scheinwerfer über meinem Kopf.

In eine Ecke meiner Kulissen wird ein Eimer mit Konfetti gestellt.

Eine halbfertig geschminkte Frau läuft nervös zu mir hinüber,

kehrt nach einem Augenblick wieder zurück, stellt einem Herrn in der zweiten Reihe eine Frage,

er antwortet kurz, ihre Stimmen werden nur wie unter Wasser gehört,

sie verschwindet ,,behind my scenes”.

Die verschwitzten Männer schleppen allerlei Requisiten,

simpel gemalt auf alte Holzplatten;

Mainz, Stockholm, Uppsala, die Mosel.

Sie diskutieren miteinander in welcher Folge die Requisiten organisiert werden sollen,

sie kriegen Anweisungen von einer jungen gut gekleideten Frau mit dem Manus in der Hand.

Durch eine geöffnete Tür in meinem Saal sehe ich zwei in weißen Hemden

einen Rollbehälter ziehen, der klirrt.

Ich nicke ein, tief. Es fühlt sich an, als wären ein paar Stunden vergangen.

Doch langsam werde ich  mir einer Gegenwart bewusst, erregtes Gemurmel, einzelnes Gelächter.

Es ist dunkel, auch als ich anfange, meine Augen zu öffnen.

Einige Gestalten sind im Finstern und tauschen einige Worte miteinander aus.

Nach einer Zeit tritt eine von ihnen vor, sodass ein Lichtstrich auf sein Gesicht gezeichnet wird.

Er schüttelt sein Bein, atmet dann tief ein und bleibt still,

bevor der Vorhang sich öffnet.

Alexander Singh Nobel

Sechs neue Gedichte, 3. Reihe

Solche Fenster

                             für Katharina

es gibt Fenster Die führen hinaus
                      auf den Fluss Andere führen
                                                   direkt
       auf eine Wand
                                und jeder Weg wird 
    noch durch ein Ziel zerstört
                                         nenn nicht der
       Lerche Freudenruf Bewachung ihres
                                         Bestands
    statt Einswerden mit ihrem Gott Wie auch
       ich es suche Wie auch ihr
                                 es sucht (wir alle)
         im falschen Adressbuch
                                  es gibt Fenster todnah
          todklar (verlieren ist der beste
            Weg zum Sieg)



Als wäre

seltsam dass keiner je das Richtige
                                     Treffliche
     sagt sondern nur Dies oder Das als wäre
 seine Sprache ihm entflohen in einen fremden
                                               Körper
   weggebrannt Nur noch Asche
     auf der Zunge
                    was will er mit dem Rest
  der Rede Asche zu Asche
                            stäuben?
                   bleibt nur
   die stummen Wangen 
    aneinanderreiben



Wenn

der weiße Fachwerkhof mit seinen roten Ziegeln
   und warm erleuchteten Fenstern …
                                    als ob dort
 das Glück begänne Das Zuhause Adams 
   noch vor dem Verlust seines halben
                                       Gehörs
                          nebenan
  sitzt eine alte Frau und liest in einem 
    Buch Wird sie ihr Leben noch
   korrigieren können? ein Schwarm
        Krähen fliegt hypnotisierende
                                       Schleifen
     mich liebkosend mit dem Windhauch
           der Flügel


Vierzeiler

              für Adrienne

           *

im Gras putzt eine Katze 
ungerührt ihre Pfoten 
obwohl ihr Herrchen 
gestern gestorben

          *

die Krähe krächzt 
in den März Wartet 
nicht auf Ostern Was
ist ihr Festtag wohl

          *

dem Vogelpaar beim  
Liebesspiel zugeschaut
dem blauen Fluss gefolgt  
er kann nicht umkehren 

          *

muss wie ich zum Meer …
frage mich wann der
Habicht aufhört die Taube  
zu jagen Aber warum 

          *

sollte er … Es gibt
keinen Weg Außer du
gehst ihn Hör ich im
Geblök der Schafe

         * 

die bis zum Boden
gespaltene Weide ...
sie grünt aus
toter Rinde 

         *

das Pferd auf der Wiese 
kommt wie aus Mitgefühl 
zu dir Es weiß Wie schwer
wir zu trösten

        *

gäbe es ein Ende  
müsste es längst
gekommen sein 
sagt der Regen



Wenn ich könnte

noch ist es Herbst nicht Noch
  muss ich nicht die ungeernteten
                                   Früchte
   im Gras verderben sehen Während mein
    Apfel aus Neuseeland im Kühlschrank
                                         glänzt 
          wie ein Hund höre ich auf Hopp und
    Komm des Wetterberichts meines Smart-
     phones oder auf sein Klingelzeichen
                                          Freunde
      verabreden sich aber keiner trifft 
         jemanden an Ich wollte ich könnte 
               dich beim Namen 
                                  nennen 


Noch einmal

                   für Johanna

als ich im Paradies eintraf war  
ich noch nicht bereit und bat
zurückzukehren ins Gewölk
aus Wenn und Aber Und
in die Angstlinien

              *

und man erhörte mich
und gab mir eine Sonne Einen
Pfirsich und einen Bleistift
und eine Stimme sagte
das laß dir genug sein

              *

da trat ich hinaus in die
Weite und wußte Ich bin
wieder wortlos verloren
und schlug mich mit einem
Ast Den ich fand Der

              *

zerbarst wie Porzellan in
tausend Teile Ich flehte: Gib
mir ein Wort Dann werde
ich jede Scherbe feiern Doch
die Stimme sagte: Warte!



Walter Thümler, Juli 2022

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Echo auf: Chamisso

Wie erschrak ich, als ich den Mann im grauen Rock hinter mir her und auf mich zukommen sah. Er nahm sogleich den Hut vor mir ab, und verneigte sich so tief, als noch niemand vor mir getan hatte. Es war kein Zweifel, er wollte mich anreden, und ich konnte, ohne grob zu sein, es nicht vermeiden. (…)

»Möge der Herr meine Zudringlichkeit entschuldigen, wenn ich es wage, ihn so unbekannter Weise aufzusuchen, ich habe eine Bitte an ihn. Vergönnen Sie gnädigst –« (…)

»Während der kurzen Zeit, wo ich das Glück genoß, mich in Ihrer Nähe zu befinden, hab‘ ich, mein Herr, einige Mal – erlauben Sie, daß ich es Ihnen sage, – wirklich mit unaussprechlicher Bewunderung den schönen,, schönen Schatten betrachten können, den Sie in der Sonne, und gleichsam mit einer gewissen edlen Verachtung, ohne selbst darauf zu merken, von sich werfen, den herrlichen Schatten da zu Ihren Füßen. Sollten Sie sich wohl nicht abgeneigt finden, mir diesen Schatten zu überlassen. (…)

Ich hab‘ in meiner Tasche manches, was dem Herrn nicht ganz unwert scheinen möchte; für diesen unschätzbaren Schatten halt‘ ich den höchsten Preis zu gering.«

Aus: Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte (Erstdruck 1814)

Versuch über den Schatten

Endlich springe ich über meinen Schatten und wage es, diesen Text zu schreiben. Wenn ich versuche, mich auf Deutsch auszudrücken, sind meine Ideen nur undeutlich erkennbare Gestalten. Und dann fürchte ich mich sogar vor meinem eigenen Schatten: Könnte ich es in meiner Muttersprache besser machen? Mir gefällt, dass es „Wörter” und „Worte” in dieser Sprache gibt, auf Portugiesisch ist der Unterschied nicht so deutlich. Einerseits sind Wörter konkrete Dinge und wenn wir sie übersetzen möchten, ist es, als ob wir sie mit unserer Interpretation beleuchten und nur Schatten bleiben würden. Umfang und Auflösung dieser Schatten hängen dann von der Entfernung der Empfänger ab. Andererseits frage ich mich, ob Worte, egal in welcher Sprache, nicht schon per se Eigenschaften des Schattens besitzen. Wie platonische Figuren sind sie in ihrer genauen Bedeutung unerreichbar. Ich möchte nicht dramatisch sein und meine dunkle Stelle zeigen, doch manchmal fühle ich mich einfach unverständlich, unklar. Allerdings kann auch die neue Sprache wie ein schattenspendender Baum sein, da sie manchmal eine gute Ausrede ist, um mich zu schützen. Ich beschwere mich immer, dass ich im Deutschen nur ein Schatten meiner selbst bin. Kennt man mich hier? Und falls ein Schatten auf mein Glück fällt, beschwere ich mich, dass die Fremdsprache mich in den Schatten  stellt. Unter diesem Vorwand sollte die Sprache mein Ruhekissen sein, aber ein schlechtes Gewissen verfolgt mich wie ein Schatten: Ich bin einfach eine Schwindlerin. Glücklicherweise fiel  noch nicht der leiseste Schatten des Verdachts auf mich und ich habe noch meinen Platz an der Sonne.

Renata Perez de Medeiros

Testament

I

Baudelaire hatte grüne Haare, hatte die Syphilis, Nietzsche hatte sie, und diverse Nervenkrankheiten, das nervöse Leiden, die Bleichsucht, schwere Anfälle von Melancholie, was sollte er also haben, sei denn es wären die alten Leiden der Dekadenz und die des ausgehenden 19. Jahrhunderts? Irgendein Verrückter, der Gürteltiere züchtet und isst, Ratten im Käfig hält und sie kocht, die Köpfe von Schildkröten zubereitet, auch wenn sie, wie gut er sie auch anrichtet, immer wie alter Kerzendocht schmecken, woher weiß er denn wie der schmeckt, einer, der immer weiß, wann nachts, x-mal der Tod an seine Tür klopft mit steinernem Herzen, und bei dem, entgegen aller Hoffnungen, niemals etwas besser wird, um hernach nicht umso verheerender über ihn herzufallen? Er hat sich hinein gewühlt, hineingesteigert in all diese betörenden Krankheiten des fin de siècle, bevor er sich eines Tages, frühlingshaft und unbedarft, an den Küchentisch setzt, mit einer noch dampfenden Tasse Tee in der Hand, und so auf einmal recht in der Stimmung ist, zu jammern, krank zu sein, die bodenständige Hausmannskost seiner Schwester, das olle ungesunde Weizenbrötchen, den schmierigen Brotaufstrich aus Kakaobutter, Parafin und ein bisschen Nuss und Schokolade, und nicht zu vergessen, einer Menge Zucker, als ungesund ablehnt und nach geschmortem Hahnenkamm in Burgundersauce verlangt. Er verlangt.

Und du hast mir gesagt, das wird schnell und elegant, atmet aus allen Poren, als ein flammendes Plädoyer aus zarter Haut und Parfüm den Geist des fin de siècle, du hast mir Abenteuer von Verlaine und Baudelaire versprochen, gezwirbelte Bärte, feine Cigarren, Herrengelage, gekritzelte und gestochene Karikaturen und bissigen Witz, geschmorte Kalbsleber, den Geruch von Kohle und Abwässern, den Mief und den Dunst der Industrie, den Dreck an den Kleidern und die Pferdeäppel hinter die Kutschen und dann noch all die eleganten Worte.

II

In einer Akadmie: Herr Doktor, erklären sie mir seine Krankheit. Seien Sie Arzt. Seien Sie das, was sie sind. Geben Sie sich Mühe. Ich quetsche mich neben Sie an den Schreibtisch und dann zeigen Sie mir das Radiogramm. Die Tomographie. Irgend so ein schwarzgraues Computerbild mit weißen Strichen. Ein Röntgenbild der Lunge. Die fein verzweigten Äste, tiefe Atemzüge. Sie sagen, das ist es, das Bild. Es sind nur ein paar harmlose Schatten. Er wird nicht daran sterben. Es ist nur eine ererbte Schwäche aus der Kindheit. Ich stoppe die Zeit. Und lasse die angehaltene Luft wieder heraus.

Der Atem strömt in die feuchte Außenluft. Er steht neben dem Arzt, seinem Peiniger. Der stellt ihm ein Rezept aus. Er zerknüllt es und wirft es in den Papierkorb. Komm, gehen wir. Ich möchte diese Geschichte nicht noch einmal erzählen. Ich greife nach einem Stift und schreibe was mir gerade mal zwischen Denken und Nichtdenken so einfällt. Weil es eine Wunderwaffe ist, mit der man es vielleicht doch in die Welt schafft. Worte wie Blitzgerät, Planlosigkeit, Frischhaltefolie, Kosmetiksalon, Volkswagen, Schreibtischarbeit, tastende Blicklosigkeit, Luft – werden wir irgendwann sagen, wenn der letzte Funken Sauerstoff veratmet ist.

III

Ich stehe, bin ich ein Kind, neben meiner Mutter, die eine Gesellschaft gibt, da ist sie glücklich, nicht mit meinem Vater, der schon wieder am Schreibtisch sitzt und rechnet, und ich tollpatschige, bewegungsfaule Tochter, latsche ihr voll aufs Kleid, dass es nur so kracht. An diesem Abend gab es für mich nichts zu essen. Und Jahre später rächte ich mich mit Portionen en miniatüre, Hahnenkamm und Fliegengewicht, und immer nach rechts rühren, sonst gibt’s Klumpen. Meine Taille war dünn wie ein Fliegenbein. Wer war doch gleich die Frau mit dem Tapirgesicht?

Die große Entmündigung

Ihr Verbrechende an Maß und Grenze …“ Dass wir diese Verbrechenden sind, ist Ausgangs­punkt für unzählige weitere Verbrechen, nicht die von sogenannten „Verbrechern“, sondern jene, die durch unser normales Darleben verursacht werden, durch unsere stets neu kreierten Sicherheitskon­zepte, die aus eingebildeter Angst aufsteigen. „Was groß ist, kann auch größer“ möchte man das Zi­tat fort­setzen, wo es im Orignal „was hoch ist, kann auch höher“ (George) heißt. Aber in der neues­ten Hy­bris geht es weder um „höher“ noch um „größer“, sondern um unbeschränkten Machtzu­wachs, um die Auslöschung regionbezogener politischer Willensbildung, um Beendigung demokra­tischer Macht­kontrolle. Der Maßstab ist, keinen zu haben.

Früher stand in nahezu jedem Wohnzimmer ein Globus. So konnte man ein wenig „Herr“ der Erde sein. Welchem imperialen Herzen ist die Idee des „Globalen“ entsprossen? Wenn der eine Gott überall der gleiche eine Gott ist, dann haben wir eine Voraussetzung und vielleicht auch eine Be­rechtigung, in jedem Menschen und in jeder Religion diesen einen Gott zu suchen. Aber ist der Um­kehrschluss auch richtig, dass überall der Weg zu diesem Gott der gleiche sein muss? Wann sind wir der zwanghaften Gleichmacherei verfallen? Wann dem Glauben, dass Unterschied Minderung be­deutet? Ist hier nicht das uralte Muster, die Verwechslung von Gott und Opfer, reaktiviert worden, aber jetzt, weil es um den einen Gott geht, weltweit? Das Opfer ohne Gott soll über­all gleich sein. So wurde aus der Einheit Gottes die Einheit der Welt oder vielmehr die Bestre­bung, eine einheitli­che Welt zu erschaffen. Dieses Opfer zu vollziehen gab und gibt es plausible Gründe, wie z.B. die Waren- und Verkehrswege zu verbessern. Dafür galt es, die Erde zu er­obern, zu erforschen, zu be­reisen. Ein Interesse, das jede Expansionsbestrebung sofort zu teilen be­reit war. Da man den Gott mit dem Opfer verwechselte, verwechseln wollte, war es gleichgültig, wer nun jen­seits des Meeres wie lebte. Der Räuber-Sinn fügte sich nahtlos ein ins Modell des Un­terschiedslosen, dem Gleichma­cherischen. Die Idee des Globalen wird Wahn und Wunschdenken der Ge­walttätigen hinter der Tarn­kappe der Philanthropie. Jemand will weltweit agieren, aber weiß nicht einmal, was sich im Zwanzig-Kilometerumkreis seines Hauses befindet, kennt nicht die Fuß­wege der Nähe. Das Projekt der globalen Besetzung, also dem Erdkreis eine Uniform zu verpassen, ist das Simul­tanprojekt von Technokratie, Szientismus und Oligarchie. Alle sind den gleichen Herrschaftsvorstell­ungen unter­worfen. Niemandem fällt indessen mehr auf, dass die Welt des Blicks überall mit Werbung zuge­stellt ist. Der Raum, der allen zu gleichen Teilen ge­hört, ist verkauft. Wo ich mich auch aufhalte, überall stoß ich über kurz oder lang auf Werbung. Sollte ich eine dieser Werbetafeln übermalen oder wegreißen, habe ich’s sofort mit den Häschern der Oligar­chie zu tun. Der Mensch ist aber ein We­sen, das sich veräumlichen muss. Genau dieser Raum wird markiert, wird qua Werbung ausgedeu­tet. Was für den Bildraum gilt, gilt auch für den Klang­raum. Wer an der allgemeinen gesellschaftli­chen Kommunikation teilnehmen will, muss sich Wer­bung anhören oder anschauen. Die Wahrneh­mungsräume sind be­setzt, sind fremdcodiert.

Zu allen Zeiten haben die Mächtigen und Gewalttätigen ihre Bilder aufgestellt. Doch jetzt haben diese Bilder eine subkutane, universalmanipulierende Qualität erreicht. Wir kennen nur noch Ziele, keine Wege mehr. Der besetzte Raum ist verwahrlost. Ist ein einziger In­dustrievorort der immerglei­chen Labels geworden, ein Ort, der mit seinen Fahnen, Lagerhallen, Fa­briken, Hochstra­ßen, Büros und Malls nicht aufhört. Er ist überall zeichenhaft zugegen. Konnten sich bisher die Bevölkerungs­gruppen per erkämpftem politischen Mandat gegen die schlimmsten Übergriffe, Zu­mutungen und Bevormundungen zur Wehr setzen, so ist nun auch dieses verkauft. Die Politik wird nicht mehr von der Bevölkerung und ihren Vertretern bestimmt (wurde sie das je?), sondern direkt von den Beset­zern des Raums: Der Monopolwirtschaft, der Technokratie, der Oligarchie. Jetzt muss sich kein Lobbyist mehr als Politi­ker tarnen. Nein, die „Sache des Volkes“ ist Sache der Monopoleigner ge­worden. Eine Herr­schaftsriege hat die übrigen Menschen ans Smartphone gefesselt, das diese nur zu gerne in der Hand halten. Die Demokratie ist ein Dino­saurier. Im Projekt der globalen oligarchi­schen Tech­nokratie gibt es kein Mitspracherecht, keine Machtkontrolle, keine Wahlen. Und wer wollte an­gesichts von Klima­wandel, Ressourcen-Knapp­heit, globaler Kapital- und Warenströme be­zweifeln, dass wir eine Glo­bal Governance, eine Weltregierung brauchen? Doch wie eine multikul­turelle Welt regieren, ohne sie zu uniformieren, ohne Wert-Normierung, ohne globales De­sign und deren gewalt­tätige Durchsetzungsmanöver?

Aber wir brauchen keine Demokratie, keine demokratische Willensbildung mehr. Diese geschieht automatisch, indem mein Verhaltensprofil, das sich im Smartphone manifestiert, statistisch ausge­wertet wird. So werden automatisch Mehrheitsbedürfnisse berücksichtigt. Die Ökonomie pro­duziert angesichts dieser Bedürfnisse. Oder ist es umgekehrt? Die Bedürfnisse wer­den manipulativ erschaf­fen? Der politischen Willensbildung bedarf es nicht, denn es gibt nichts mehr zu wollen. Alles ge­schieht bereits nach dem statistisch festgestellten Willen der Mehrheit. So befinden wir uns in einer manipulierten und manipulierenden Mehrheitsdiktatur. Was die Mehrheit will, bestimmen Glo­bal Player und Monopolisten. Das heißt der Mensch als ein Wesen, das Wahlfrei­heit zu seiner Selbster­fassung benötigt, ist geopfert. Es herrscht planwirtschaftliche Ökonomie und normative Verhaltens­kontrolle, welche die Welt in einen kakophonischen Gleichklang versetzt.

Das Soziale, der Geist des Miteinanders und der Polis, ist zum Geist der Überwachung geworden. Statt Empathie füreinander ist unser Interesse nun die Kontrolle des andern. Diesen Geist der Überwa­chung zu installieren gibt es kein tauglicheres Mittel als eine tatsächliche oder gemutmaßte Seuche. Jetzt ist die Welt nicht mehr meine Welt, sondern eine, darin ich potenzieller Verbrecher, Gefähr­der bin. Meine Spuren werden gespeichert, nachgelesen. Mir wird grundsätzlich misstraut. Es ist mir unmöglich, mich richtig zu verhalten. Über mir schwebt das Urteil. Kein metaphysisches oder religiöses, son­dern das der Grausamkeit des Man, das alle Mittel der Zivilisation in seine Gewalt gebracht hat.

„We all live in America“ oder „we all live in China“. Wer das Ganze liebt, wird auch das Detail lieben. Das Detail, das sind die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und ihre je eigene Kultur, das ist der Einzelne. Ein politisches Han­deln und Trachten, das dies außer Acht lässt, heißt Totalitaris­mus. Das Detail ist jedoch nicht das Nationale. Es ist das Partikular-Verantwortliche, das um das Ganze weiß. Was im Kleinen verantwortet ist, kann im Großen nicht falsch sein. Umgekehrt hinge­gen schon. Die neue Tyrannis kommt nicht mit Stiefeln und Ledermänteln daher, sondern mit subti­ler Verführung und einem großartigen tech­nischen Knowhow. Diese Tyrannis erschafft die glo­bale Sprachlosigkeit, die globale Amnesie. Allein die Tyrannis darf reden, darf erinnern. Das bereitet die Grundstimmung der Unterwerfung. Wer nicht mehr sprechen kann, dem bleibt nur Schreien oder Verstummen. Der erste Schritt der Unterwerfung ist, sich von jeglichem Eigentum zu trennen. Ist es nicht beque­mer, alles nur ge­liehen zu bekommen? Die neue Tyrannis aus Technokratie, Szientis­mus und Oligarchie bedarf zu ihrer Machtentfaltung und Machterhaltung der genauen Kontrolle der Be­völkerung. Die technischen Mittel dafür hat sie. Sie gibt diese Überwachung als unseren Schutz, un­sere Sicher­heit aus. Globalis­mus bedeutet Detailvernichtung, und da wir Menschen nur en detail Vertrauen fas­sen und erleben können, bleibt uns nur das Gegenteil von Vertrauen: Angst. Dieser Angst begegnet der globale Si­cherheitsapparat mit der Anonymität von Schaltungen und Regelun­gen, mit abstrakten Vorgängen, mit panoptischer Überwachung. Am besten wir internalisieren dies und verhalten uns im vorauseilenden Gehorsam regelkonform.

Wir erleben kaum Protest gegen den drohenden Verlust der Freiheit … „Freiheit“ ist ein janusköp­figes Gut. Die Diebe der Freiheit arbeiten, wie stets, mit unseren allzumenschlichen Schwä­chen. Ein Besteller des Bestellten per Tastendruck zu werden, überall jedermann erreichen zu können, Te­lefon, Musik, Videos, Fotos, Nachrichten, Landkarten usw. in einem kleinen handgroßen Gerät bei sich zu tragen, das fühlt sich an wie Freiheit, ja, wie Allmacht. Die bedrohlichen Nahräu­me ver­nachlässigen und die Fernräume bespielen können hat etwas Verzauberndes. Die andere Blickrich­tung der Freiheit: In die Qual der Wahl, in verantwortete Nähe, vom Fliehenden der Schrift in die Gegenwart des Wortes, in den Akut von Feier und Fest, in die analoge Ausführung und Vor­führung, kurz, in die befreiende Schwerkraft. Das hat jedoch der Mensch nie wirklich haben wollen. Die Mündigkeit zu erringen war nicht erste Wahl. Also warum nicht brav an der Leine der Überwa­chungskameras, des elektronischen Fingerabdrucks, der Trojaner und anderer Datensamm­ler her­umlaufen? Die Freiheit ist ein Versprechen, das nur ich selbst einlösen kann.

Vermag der Mensch überhaupt unter globalistischen Umständen zu leben? Ist sein Körper nicht auf re­gionspezifische Nahrung, Bakterien, Viren angewiesen? Um im globalen Virenhaushalt nicht von einer Pandemie in die andere zu geraten, muss sich fortan die gesamte Weltbevölkerung konti­nuierlich impfen lassen. Impf­stoffe stellen Technokratie und Oligarchie gerne bereit. „Weltbevölke­rung“, das sind die Mehrwertbeschaffer, die von ihrem Überlebensanteil an diesem Mehrwert sich die Impf­stoffe per Steuerabgaben kaufen müssen. Ein für die Herrschaftselite ökono­misch ergiebi­ges Hamsterrad.

Sollen wir jetzt zu „Ludditen“, zu jenen Maschinenstürmern von Nottingham des 19. Jahrhunderts werden und unsere „dark Satanic Mills“ (William Blake), die Smartphones, in der Badewanne ver­senken und unsere WhatsApp-Chats und unsere Impfzertifikate verlöschen sehen? Werden wir dann, wie jene Ludditen, hingerichtet oder statt nach Australien auf den Mond verbracht? Können wir die Ver­wechslung von Gott und Opfer noch rückgängig machen? Dazu müssten wir es wollen. Aber um es wollen zu können, müssen wir uns von den tagtäglichen Einreden befreien, die uns aus jedem Gerät, das für unsere Alltagsbewältigung unabdingbar ist, wie z.B. das Smartphone, entge­genschlagen, müssen wir es wagen, den Raum der Dauer neu zu eröffnen.

Walter Thümler, Juni 2022

Echo auf: Tomas Tranströmer

Der Name

Ich werde schläfrig während der Autofahrt und fahre unter die Bäume neben der Straße. Rolle mich auf dem Rücksitz zusammen und schlafe. Wie lange? Stunden. Das Dunkel ist schon eingefallen.

Plötzlich bin ich wach und erkenne mich nicht wieder. Hellwach, aber das hilft nicht. Wo bin ich? WER bin ich? Ich bin etwas, das auf einem Rücksitz erwacht, in Panik umhertobt wie eine Katze in einem Sack. Wer?

Endlich kehrt mein Leben wieder. Mein Name kommt wie ein Engel. Außerhalb der Mauern ertönt ein Trompetensignal (wie in der Leonorenouvertüre), und die rettenden Schritte kommen rasch rasch die viel zu lange Treppe herunter. Das bin ich! Das bin ich!

Aber unmöglich, die fünfzehn Sekunden Kampf in der Hölle des Vergessens zu vergessen, ein paar Meter von der Landstraße entfernt, wo der Verkehr mit angeschalteten Lichtern vorbeigleitet.

Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel

Mein Name

Als Hanna in die Klasse kam, stellte sich Hannas Welt auf den Kopf.

Auf einmal musste sie die Grundlage ihrer Identität teilen. Wenn ihr Name gerufen wurde, konnte sie nicht mehr sicher sein, dass sie gemeint war: „Ah, ich meinte nicht dich“ wurde ein Satz, den sie oft zu hören bekam. Beim Klang ihres Namens horchte sie auf, ihr Rücken versteifte sich, ihr Kopf drehte sich herum; dann sackte sie immer wieder in sich zusammen, mal erleichtert, mal enttäuscht. Die Erwähnung ihres Namens löste nicht selten Verwirrung aus; bei Lehrern, bei Mitschülern, bei ihr selbst.

„Warum heißt die Neue auch Hanna?“, fragte sie eines Tages ihre Mutter.

Die zuckte nur mit den Schultern. „Das ist normal. Viele Leute haben den gleichen Namen. Es gibt noch mehr Hannas auf der Welt, genauso wie es noch mehr Annikas und Michaels und Maxe gibt.“

„Aber warum?“, fragte Hanna empört, doch ihre Mutter war schon wieder in den Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeine vertieft.

In der Schule gab es viele Experimente, um Missverständnisse zu vermeiden. „Hanna eins und Hanna zwei“ wurde schnell verworfen, genauso wie „Hanna Susanna und Hanna Marie“ oder „Die eine Hanna und die andere Hanna“.

Durch Herumprobieren einigte sich das Kollektiv schließlich darauf, die beiden anhand der ersten Buchstaben ihrer Nachnamen zu unterscheiden: Hanna P. und Hanna N. Damit konnte selbst Hanna – Hanna P. – sich anfreunden. Sogar genug, um sich ein bisschen mit Hanna N. anzufreunden. Sie war nicht mehr eine Rivalin, die darauf aus war, ihren Platz einzunehmen, sondern eine klar von ihr getrennte Einzelperson.

Nach langem Kampf hatte Hanna P. also ihre eigene Identität zurückerlangt, oder zumindest eine eigene Identität. Sie hatte wieder eine Bezeichnung, die unverwechselbar und unmissverständlich auf sie hinwies; sie konnte sich wieder darauf verlassen, wer sie war.

Manchmal fragte sie sich, was passieren würde, wenn eine zweite Hanna P. in die Klasse käme.

Julie Schneider

Dichterleben : Hochzeit und Haus

für Bora und Angelina

Was war das für eine Zeit vor Gavrilo Princip

Von Fehden und Grenzen polyglott durchwebt

und dennoch auf seltsame Weise friedlich

Seitdem Vorwände zur Mobilisierung

dienen : zerfetzen die Texturen

Bora sah Angelina auf einem Bild

im Schaufenster des Photographen  

fünf­undzwanzigjährig : im Matrosenkostüm

daran erkannte er sie : abends wieder

auf dem Maskenball

Womit hat er sie becirct : der berühmte

arme Dichter kaufte ein Haus : nicht

wie es aussah : nicht wieviele Zimmer

es hatte : Hauptsache Wein

rankte sich an den Wänden empor

Eine Laube im Arbeiterviertel : Unterstadt

unweit der Donau : im Keller

lagerte schon das Faß : der Garten

mit Blumen bepflanzt : Zwiebeln

Tomaten : Erdbeeren : Himbeeren

Das Arbeitszimmer mit Schreibtisch

nach hinten raus : vorn das Klavier

das Ehebett aus Paris mitgeschleppt

bald sprangen zwei Töchter heraus

und eine dritte folgte : während im Keller

Der Wein gärte : in der Rauchkammer

Fleisch trocknete : eine Herberge

am Wegrand : drumski han

Freunde : Verwandte : Schauspieler

Dichter gingen ein & aus

Bis Gavrilo kam : der Große Krieg das Haus

in Brand setzte : in den Zwanzigern

wiederhergestellt : bis der zweite

Große Krieg kam und es dem Erdboden

gleich machte : das Haus an der Vršacka

Den ersten Treffer platzierte

am sechsten April 41

ein Geschwader der Deutschen

zerbombt wurde das Dichterhaus

von Allierten zu Ostern 44

Echo auf: Das Ende von Eddy

Édouard Louis, Das Ende von Eddy

Mein Vater

Da ist mein Vater. Als er geboren wurde, 1967, gingen die Frauen des Dorfs noch nicht ins Krankenhaus, sondern entbanden zu Hause. Seine Mutter brachte ihn auf dem völlig verdreckten Sofa zur Welt, es war voller Staub, Hunde- und Katzenhaare und Dreck, wegen der immer schlammigen Schuhe, die niemand auszieht, wenn er das Haus betritt. Im Dorf gibt es natürlich asphaltierte Straßen, aber auch viele Feldwege, die immer noch existieren, wo Kinder spielen, unbetonierte Sand- und Schotterwege an den Feldrändern und Gehwege aus gestampfter Erde, die an Regentagen zu schlammigem Treibsand werden.

Bevor ich zur Mittelschule ging, machte ich mehrmals in der Woche Fahrradtouren auf den Feldwegen. Ich klemmte kleine Stückchen Karton in die Speichen, damit mein Fahrrad klang wie ein Motorrad, wenn ich in die Pedale trat.

Der Vater meines Vaters trank viel, Pastis und Wein aus Fünf-Liter-Kartons, wie die meisten Männer des Dorfs. Sie kaufen das im Lädchen, die außerdem als Kneipe und Tabakwarenladen dient und wo man auch Brot bekommt. Man kann seine Einkäufe dort zu jeder Zeit tätigen und braucht nur bei den Inhabern anzuklopfen. Sie sind immer für einen da.

Sein Vater trank viel, und wenn er betrunken war, schlug er seine Mutter. Plötzlich drehte er sich zu ihr um und fing an, sie zu beschimpfen, bewarf sie mit allem, was ihm in die Finger kam, manchmal sogar mit einem Stuhl, und dann schlug er sie. Mein Vater war noch zu klein und ein schmächtiges Kind, er sah ohnmächtig zu und fing stillschweigend an, ihn zu hassen.

Das alles hat natürlich nicht er mir erzählt. Mein Vater redete nicht, jedenfalls nicht über so etwas. Das tat meine Mutter, ihrer Rolle als Frau entsprechend.

Eines Morgens – mein Vater war fünf Jahre alt – verschwand sein Vater für immer, ohne Vorwarnung. Das hat meine Großmutter mir erzählt, die ebenfalls die Familiengeschichten weitergab (wiederum die Frauenrolle). Sie lachte noch viele Jahre später darüber, glücklich, dass sie dann endlich von ihrem Mann befreit war Eines Tages ist er in die Fabrik auf Arbeit gegangen und nicht zum Abendessen gekommen, wir haben auf ihn gewartet. Er war Fabrikarbeiter, er brachte das Geld nach Hause, und als er verschwand, stand die Familie mittellos da, kaum genug zu essen für sechs, sieben Kinder.

Das hat mein Vater nie vergessen, er sagte, so dass ich es hören konnte Der dreckige Hurensohn hat uns sitzenlassen, meine Mutter, ohne alles, auf den scheiß ich.

Am Tag, als der Vater meines Vaters starb, fünfunddreißig Jahre später, saßen wir im Wohnzimmer, vorm Fernseher, en famille.

Mein Vater wurde von seiner Schwester angerufen, oder aus dem Heim, in dem sein Alter seine letzte Lebenszeit verbrachte. Wer auch immer da anrief, sagte, Dein – Ihr – Vater ist heute früh verstorben, Krebs, aber vor allem eine zerschmetterte Hüfte, nach einem Unfall, die Wunde hat sich entzündet, wir haben alles versucht, aber wir haben ihn nicht retten können. Er war auf einen Baum gestiegen, um Äste zu beschneiden, und hatte den abgesägt, auf dem er selbst saß. Als sie das am Telefon hörten, mussten meine Eltern derart lachen, dass sie eine ganze Weile aus der Puste waren. Den Ast absägen, auf dem er draufsitzt, der Blödmann, das musst du erst mal bringen. Der Unfall, die zerschmetterte Hüfte. Als er das erfuhr, konnte sich mein Vater vor Freude kaum halten (…)

Aus: Édouard Louis, Das Ende von Eddy. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Frankfurt a.M. 2015. 7. Auflage 2019. S. 18f.

Meine Eltern

Mein Vater ist Lotse. Zwei Drittel des Monats verbringt er an Bord. Meine Mutter arbeitete bei der Hafenverwaltung, bevor sie vor zwei Jahren in Ruhestand ging. Der Hafen lag weit weg am Rand der Stadt, sie kam deshalb alle zwei Tage nach Hause und nahm sich dann zwei Tage frei. Das heißt, meine Eltern haben nur ungefähr fünf Tage im Monat, um wirklich miteinander zusammen zu sein, was eigentlich, meiner Meinung nach, das Geheimnis ihrer dauerhaften Ehe ist. Die konzentrierten Streite in diesen fünf Tagen, oder mit ihrem Wort, ihre Art zu kommunizieren, reicht für eine normale Familie das ganze Quartal aus. Noch spannender, sie haben eine kraftvolle Stimme. So ruft mich meine Mutter vom Wohnzimmer aus, als befände ich mich nicht im anderen Zimmer in derselben Wohnung, sondern in einem anderen Berg. Ich habe es gehasst, als Kind mit ihnen zusammen einkaufen zu gehen, denn 90 Prozent würden sie dann im Laden wegen irgendeines Krams anfangen, auf ihre Art zu kommunizieren, und das Zentrum der Aufmerksamkeit sein, wobei ich nur hilflos daneben wartete und hoffte, mich in eine der Erdbeeren im Einkaufswagen verwandeln zu können.

Jetzt muss ich komischerweise an ein Märchen von Oscar Wilde denken. Ein Riese kam bei einem Freund zu Besuch. Nach sieben Jahren hatte er alles gesagt, was er zu sagen hatte, und ging nach Hause. Ich weiß nicht, ob es das Grundprinzip aller Beziehungen ist. Vielleicht löscht die Liebe aus, wenn alles ausgesprochen wird, was man sagen will. Vielleicht sind meine Eltern doch ziemlich glücklich, immer miteinander streiten zu wollen.

Jing Lin

„Oma Darmstadt“

Der tiefe Schmerz, damals, am Ufer des Tejo, nach der Rückkehr aus England. Die sieben Jahre währende Beziehung war am Ende, und ich dachte an die andere Großmutter, Mutter des Vaters, „Oma Darmstadt“, an die ich kaum Erinnerungen hatte, an dieses Fehlende, Ausgesparte, Verbannte, den blinden Fleck in der Familie. „Oma Lene“ sollte bald sterben, sechsundneunzigjährig. Sie war immer Sonne gewesen, Licht, sie hatte gelitten, doch wohlhabend, nicht wie die andere, „Oma Darmstadt“, die sich das Leben genommen hatte (zwanzig Jahre waren vergangen), der finanziellen Hilfe durch ihre Kinder bedürftig, der Vater an erster Stelle. Sie ertrug die Schmerzen nicht mehr, schrieb sie in dem Brief, den sie hinterließ. War es dieser Schmerz, der sich, zwanzig Jahre später, in Lissabon in Erinnerung brachte? Oder war es eine andere Erinnerung? Ich saß am Ufer, im Licht eines zu Ende gehenden Tages, und das Licht traf auf den Schmerz, machte ihn klar und bewußt. Etwas Neues begann. Die Zäsur war da. Mehr wußte ich noch nicht.

Markus Sahr

Brief an die Mutter

Als Kind scheinst du glücklich gewesen. Deine Mutter war immer da, sorgend, fürsorglich, vielleicht nur allzu besorgt, zu ängstlich. Eine starke Frau, emanzipiert für ihre Zeit, doch einsam, seit sie selbst als Kind zu den Großeltern weggegeben und erst später, nach der Geburt der Geschwister, ihrer Stiefgeschwister, wieder zurückgeholt worden war, um der Mutter bei der Erziehung der beiden jüngeren Kinder zu helfen.

Als Mutter hielt sie die Hand über dich, vielleicht eben zu sehr. Doch autoritär war sie nicht. Das besorgte dein Vater.

Das glückliche Kindergesicht, das im Wald zur Mutter aufschaut. Ein Idyll inmitten des Kriegs oder kurz vor dessen Ausbruch. Wie alt warst du auf diesem Bild? Das Licht zwischen den Bäumen, den Stämmen, selbst auf dem alten, leicht vergilbten Schwarzweißfoto wirkt das Licht wie ein Kegel, in dessen Mitte du stehst, neben der Mutter. Du hast die Hände ineinandergelegt, trägst ein helles Kleid, es sieht aus, als hieltest du einen kleinen Strauß Blumen zwischen den Händen, und schaust lächelnd, den Kopf leicht zurückgelehnt, zur Mutter. Sie hat einen Arm gegen den Baum gelegt, der andere fällt locker an ihrer Seite herab. Sie trägt einen breitkrempigen Hut, ein Kleid mit halblangen Ärmeln. Auch sie lächelt, schaut zum Betrachter, dem Fotografen des Bilds, vermutlich, sehr wahrscheinlich, ihrem Mann, deinem Vater. Es könnte ein blaues Kleid sein, es reicht bis zu den Knien, fällt noch darüber. Unter dem Kleid trägt sie dunkle Strümpfe.

1940 hast du auf die Rückseite des Fotos geschrieben, weiter nichts. Es könnte der Gonsenheimer Wald sein, die Bäume stehen dicht, doch lassen sie Platz genug für das einfallende Licht. Es scheint hell ringsum, hohes Gras wächst zwischen den Bäumen, von der Sonne geflutet.

Du bist etwa vier Jahre alt.

Von einem Krieg in Polen, einem Einmarsch in Frankreich weißt du nichts. Nichts davon ist zu ahnen.

Ich war ein Kind während der ersten RAF-Gewalttaten, ich verstand nicht, was ich im Fernsehen sah, zwischen Flipper und Skippy, dem Buschkänguruh, wenn wir zu Filmen und Abendnachrichten zu Tante Anni und Onkel Hans hinaufgingen, in den vierten Stock. Doch ich erinnere mich an deine Stimme, deinen Lynchjustiz fordernden, unnachgiebigen Ton, deinen wie aus einer offenen Muschel aufquellenden Haß. Selbst heute noch meine ich, das Dach oder die Fassade des Frankfurter „Kaufhof“ zu sehen, kalt und in Schwarzweiß, und dazu deine Stimme zu hören, ein wütendes Maschinengewehr, ein Trommelfeuer explodierender, sich überstürzender Silben, die den Tod der Beteiligten fordern, den Strang, ja, ich meine sogar, deine Sätze begannen mit der Vorstellung, was du höchstpersönlich mit ihnen tun würdest.

Alle Verben galten der physischen Vernichtung der Gegner. Das Wort „Bande“ klang aus deinem Mund wie ein Brandschatz. Du kanntest kein Halten.

Vielleicht, denke ich heute, dachtest du dabei an deine eigene Mutter, die selbst in einem „Kaufhof“ arbeitete, wenn auch nicht in Frankfurt. Doch aus deinem Mund kam der Krieg, das Schützenfeuer, fuhren Panzer und detonierten die Bomben.

Du holtest den betrunkenen Vater aus den Kneipen der Nachbarschaft, warst ein junges Mädchen, eine junge Frau schon. Es war die Zeit nach dem Krieg, Anfang der 50er Jahre.

Der Vater war bei der Marine gewesen, in Wilhelmshaven oder Hamburg, er wollte es „den Engländern zeigen“, ein glühender Nazi war er nicht. Die Uniform stand ihm. Ein langer Mantel betonte die äußerlich schlanke Gestalt. Seine Frau, deine Mutter, soll ihm frischen Spargel aus Mainz nach Wilhelmshaven gebracht haben, mit dem Auto, während des Kriegs.

Sein Magen rebellierte, sein Mundwerk war lose, er verlor die Uniform, trug wieder Zivil. Geschehen ist ihm nichts.

Autos gab es am Ende des Kriegs nur noch wenige. Zuvor hatten viele im Hof deiner Eltern gestanden. Das Grundstück, das deine Mutter von ihrer Aussteuer gekauft hatte, unweit des Rheins, mitten in der Stadt, war der Autos wegen umgestaltet worden. Statt eines großen Gartens, wie zuvor, Stellplätze für die Wagen. Dein Vater,  gelernter Mechaniker, fuhr Paare im offenen Wagen zur Kirche, zur Hochzeit. Der Fuhrpark im einstigen Garten – ein Taxiunternehmen. Auch deine Mutter fuhr, stolz auf ihren Führerschein, als noch lange nicht alle Frauen einen solchen besaßen, geschweige denn Auto fuhren.

Es gibt ein Foto von dir, schon als junge Frau, Lehrmädchen in einem Bürobetrieb, da legst du die Hand auf die Klinke eines großen, feudalen Wagens. Alle Lehrmädchen durften das, einzeln, und wurden dabei fotografiert. Der Wagen gehörte einem Vorgesetzten. Die junge Frau, fast ein Mädchen noch, im langen Rock, schüchtern, stolz, die Hand auf der Klinke der Wagentür. Etwa so, wie man Kinder in meiner Generation mit einem Ball in der Hand oder einem Telefonhörer auf einer Decke fotografierte. Autos waren in deinem Leben immer wichtig. Sie waren die neue wie die alte Zeit.

In den Jahren nach dem Krieg, als du deinen Mann kennenlerntest, meinen späteren Vater, da war es die Fahrt nach Italien. Die Fahrt in den Urlaub, nach Rimini oder an die venezianische Küste, zu einer Zeit, da kaum jemand überhaupt daran dachte, mit dem Auto zu verreisen. Oder es sich jedenfalls nicht leisten konnte. Einen Führerschein hattest du nicht. Es war dein späterer Mann, blutjung noch, wie du, der den Führerschein machte und das vom Schwiegervater hergerichtete, geliehene Auto fuhr.

Doch offenbar gab es einen Bruch zwischen dem glücklich erscheinenden Mädchen und der späteren Frau. War es die Heirat mit dem falschen Mann? Das Kind, das du nicht wolltest? Der Verzicht auf die Arbeit, als das Kind in die Schule kam? Das Haus? Das Haus, das ihr gebaut habt und das dich aufs „Land“ verbannte?

Die Spur der Familie führt zurück zum 27. Februar, der Bombennacht, die 1945 nicht nur die Stadt zerstörte, unzählige individuelle Leben und Heime, sondern auch, sichtbar nach Jahren erst, die Identität der Überlebenden. Als sie sich aus den Trümmern befreiten, in notdürftigen Unterkünften die Familie der Mutter, die noch dreizehn Jahre nach dem Krieg in Ruinen lebte, oder in neu gefundenen Häusern, die die Bombennächte einigermaßen unbeschadet überstanden hatten, vollzog sich, unmerklich noch, der Abschied von der alten Stadt, und endgültig begraben wurde diese mit dem Häuserbau der Wunderjahre. Hier kamen die Generationen zusammen, in neu errichteten Mauern, mit den alten Geschichten, ohne Zukunft.

Der Geist blieb dem Alten verhaftet, er entwarf sich nicht, er setzte Grenzen, die verständlich sein mochten von früher her, die jedoch ausschlossen von einer Entwicklung. Es war ein unfruchtbarer Neuanfang, steril und kinderlos, selbst dort, wo es Kinder gab.

Ich sehe uns, dunkel, in einem matt beleuchteten Raum, in einer Ecke der früheren, der ersten Küche in der Neustadt noch, die Decke ist schräg, ein Tisch, eine Bank oder Stühle stehen in dieser Ecke, gedrängt, ich höre deine Stimme, die von Corned Beef spricht, Fleisch aus der Dose, das schmeckt. Die Stimme ist hell, sie bietet das violette, rosafarbene Fleisch an, preist es, offenbar ist es wichtig, der Vater ist anwesend und doch nicht, ich sehe ihn nicht, höre ihn nicht sprechen.

Markus Sahr

Sechs neue Gedichte, 2. Reihe

Aus „Wahrenberger Stanzen“

                 *

Igel und Fledermaus haben sich in 
den Winterschlaf gelegt Ihnen ist egal 
was Putin und Biden treiben Diese 
Manifestationen unserer Ansprüchlichkeit 
am Knick der Elbe hat ein Schiff

festgemacht Seine Lampen leuchten 
durch gewellte Herbstluft und hinter
jedem Fenster auf dem Wasser und
hier in deinem Dorf wird um Krümel
der Liebe gefeilscht Was Igel und 

Fledermaus nicht interessiert Sie
zweifeln nicht am Willen der Seligkeit 
in allen Dingen Derweil das Gebell des 
nachbarlichen Hundes übergeht in 
Wolfsgeheul Sibiriens Wind

              *

der Januar ist eine Sturm- und 
Regenfront Die Wolken ziehen 
dunkelschwadig und eine schwere 
Boe zerknickt meinen Schirm 
dessen blecherndes Gestänge 

(ein Billig-Produkt zur Erhaltung 
des Traumes vom ewigen Markt) 
nun verbogen ist Während man 
überall hin die Freiheit exportiert 
der Regen läßt etwas nach und

ich seh eine alte Frau Wie sie 
über ihren Hof humpelt als wäre 
sie Atlas und trüge das Gewicht 
der Welt Was sie vielleicht tut 
(und das ist nicht nur Gleichnis)

               *

Schnee hat mein Dorf weiß ein-
gehüllt Die Wildgänse sind nicht 
fortgezogen Vielleicht frieren sie 
und meine Stiefel sind die von 
Amundsen und meine Mütze die 

eines russischen Soldaten Der 
gleich blutend im Schnee liegt Ich
hoffe niemandem zu begegnen Wie 
in der Dunkelheit ihm die Angst
vor mir nehmen Wiewohl kein 

Krieg ist … Ein Lkw steht 
schweigend am Weg In seiner 
Kabine muß es rasch weich und
warm werden Ein Zuhause Doch
wer kann wen heimholen

               *

die Elbe führt Hochwasser und
die Buhnen wirken wie abgetauchte
U-Boote oder (in Friedenszeiten)
wie überspülte Walfische In einem
Fenster seh ich einen Mann und

zwei Frauen zu Abend essen und
sich langweilen wie in Van Goghs
Kartoffelessern (keiner wagt das
befreiende Wort) Woanders
sitzt man rücklings zum blau 

flackernden Fernseher Bewegungs-
melder verraten mich Wir sind jene 
denen stets etwas fehlt Die sich 
sicherungsverwahren unter 
Odysseus’ leuchtenden Plejaden

              *

der volle Mond blickt silbern
durch den Dunst der Nacht und
mein rechter Handschuh sträubt
sich auf der linken Hand Auf
einer Terrasse zur Elbe hin

werden zwei alte Frauen 
gefüttert von helfender Hand
im Hintergrund flackern die
Nachrichten Ein Bombardement
auf Aleppo Oder ist’s eine

andere Stadt Der Mond sagt
ich werde mich nicht wollen
können und die Weide streckt
sich igelborstig in die Nacht
wie Kakteen im Sterbezimmer

              *

jede Grenze wird mit dem Blut
eines Soldaten gezogen und aus 
Beischlaf wird das Haus gebaut 
darin wir am Ofen sitzen ver-
gessen oder üben für den Krieg 

so bilden wir stets neu die neue
Welt Komm her zu mir du mit
dem vergifteten Kamm im Haar
erwache aus dem Schlaf Damit
auch ich erwache Zieh mich

weg vom schwarzen Fieber Wer
löst den Kamm der Feindschaft 
daß herabfällt dein goldenes 
Haar die Grenze sanft wird 
still das Haus und wunderbar


Walter Thümler, Mai 2022

Diese Gedichte als Video-Lesung

Bellizistische Schüttelreime über die letzten Tage der Menschheit

Die meisten Medien haben Partei ergriffen. Die im allgemeinen oberflächliche und sensationalistische Berichterstattung, die mangelnden Kenntnisse vieler Journalisten, die schwarzweiße Schilderung der Ereignisse formen in der Öffentlichkeit das Feindbild des „verbrecherischen Bösen“. Doch Stereotypen und Verallgemeinerungen sind gefährlich. Was die Rede von „den Juden“ in Deutschland ausgelöst hat, ist allseits bekannt. Genauso voreingenommen ist es, von „den Deutschen“ zu reden und „die Nazis“ zu meinen. Oder „den Russen“, „den Ukrainern“, „den Chinesen“, „den Taiwanesen“, den „Amerikanern“ usw. usf.

Der Weltkrieg löste in bürgerlichen und intellektuellen Kreisen europaweit Kriegsbegeisterung aus – die sich heute völlig unerwartet zu wiederholen scheint. Vorreiter waren/sind Autoren, Philosophen und Politiker, deren Verbalattacken den Boden für eine dumpfe, nationalistische Stimmung bereiten. In einem lyrischen „Höhenflug“ wurden Unmengen von Gedichten an die Presse gesandt, Schätzungen aus Deutschland reichen von 50.000 Gedichten pro Tag bis zu 1,5 Millionen allein im August 1914 (Andrea Stangl). Auf den Listen derer, die der euphorischen Stimmung erlagen – schriftlich und teilweise auch als Freiwillige im Kriegsdienst –, findet sich das „Who is Who“ der damaligen Zunft, darunter Hermann Bahr, Alfred Döblin, Hermann Hesse, Gerhard Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Richard von Schaukal, Georg Trakl, Anton Wildgans und andere. Als Kriegsberichterstatter wirkten Alexander Roda Roda und Felix Salten, Robert Musil redigierte eine Soldatenzeitung und Stefan Zweig, Rainer Maria Rilke, Alfred Polgar, Felix Salten, Rudolf Hans Bartsch, Franz Karl Ginzkey und Franz Theodor Csokor verdingten sich wenigstens zeitweise im Kriegsarchiv, um Propagandaschriften zu verfassen, was Rilke ironisch als „Heldenfrisieren“ bezeichnete.

Wir wollen den Krieg verherrlichen, – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ (Filippo T. Marinetti, Futuristisches Manifest in Le Figaro, 1909)

Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig … Geschähe doch einmal etwas. (…) Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“ (Georg Heym in seinem Tagebuch, 1910)

Japan ist eine Mottenplage, Menagerievölker wie die Serben und Montenegriner sind vollends indiskutabel.“ (Egon Friedell)

Du Deutschland und du Österreich,
auf auf nun zieht ins Feld.
Es haben sich viel Schuft rings
gegen euch gestellt
Gebt dem Ruß einen Schuß
dem Franzos auf die Hos
dem größten Schuft, dem Oberschuft
dem Britt´ einen Tritt

Der Britte hat bar Geld bezahlt
den Schuften gelb und weiß
sie sollen Deutschland-Österreich
erschla´n auf sein Geheiß
Gebt dem Japs einen Klaps
schlagt den Serben zu Scherben
vom schwarzen Berg den Hammeldieb
dem Dieb gebt Hieb´

Der Britte dachte schlau: Goddam!
Sechs Schufte, das ist viel
die damned Germans schlagen wir
das ist nur Kinderspiel
Gebt dem Ruß einen Schuß
dem Franzos auf die Hos
dem größten Schuft, dem Oberschuft
dem Britt´ einen Tritt

Der Britt soll sich verrechnet han
zwei Starke ziehn das Schwert
und haun die Schufte kurz und klein
so wie es sich gehört
Gebt dem Japs einen Klaps
schlagt den Serben zu Scherben
vom schwarzen Berg den Hammeldieb
dem Dieb gebt Hieb´

Text und Musik: Arnold Mendelsohn (1914) „Jeder Stoß ein Franzos. Neue Kriegslieder“, Jena 1914. Verlegt bei Eugen Diederichs:

Ernst Lissauer (1882 – 1937) galt als der deutscheste aller jüdischen Autoren (Walter Berendsohn), lehnte es aber ab, sich christlich taufen zu lassen, um nicht zum Verräter zu werden. Stefan Zweig sagte von ihm: „Er war der preußischste oder preußisch assimilierteste Jude, den ich kannte. .. und der gutmütigste Mensch, den man sich denken konnte. Mit allen seinen Lächerlichkeiten musste man ihn doch gern haben, weil er warmherzig, kameradschaftlich, ehrlich und von einer dämonischen Hingabe an seine Kunst war.“ 1914 ließ er sich vom nationalen Pathos mitreißen und schrieb einen „Haßgesang gegen England“:

Was schert uns Russe und Franzos,
Schuss wider Schuss und Stoß wider Stoß
Wir lieben sie nicht
Wir hassen sie nicht
Wir schützen Weichsel und Wasgenpass
Wir lieben vereint
Wir hassen vereint
Wir haben nur einen einzigen Feind:
England

Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos …,  Propagandapostkarte 1914, Österreichische Nationalbibliothek
Wohlfahrts-Karte des Vaterländischen Frauenvereins, Provinzialverein Berlin zum Besten der Kriegsfürsorge, Vertrieb: Norddeutscher Export-Verlag: Jeder Schuß – ein Russ’! Jeder Stoß – ein Franzos’! Nun woll’n wir sie mal dreschen!

„Jeder Schuss ein Russ! – Jeder Stoß ein Franzos! Jeder Tritt ein Britt! – Serbien muss sterbien!“ Der letzte Reim wird Felix Salten zugeschrieben, Redakteur der Wiener Zeitung Die Zeit, Verfasser des ersten pornographischen Romans Josefine Mutzenbacher, Beitragender für Theodor Herzls Zeitschrift Die Welt und im Jahrzehnt vor 1914 „gefragt, berühmt, ungeheuerlich produktiv“. Vom Kriegsausbruch war Salten begeistert. Von ihm stammte die Parole der Neuen Freien Presse: „Es muß sein!“ Während des Krieges war Salten als Blattmacher beim Fremdenblatt, der Zeitung des österreichischen Außenministeriums, einer der maßgeblichen Kriegspropagandisten. 1927 übernahm Salten von Arthur Schnitzler die Präsidentschaft des österreichischen P.E.N.-Clubs. Als P.E.N.-Präsident wurde er in eine Auseinandersetzung mit Nazi-Deutschland hineingezogen, bewies „wenig Scharfsinn“ und trat zurück …

Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit

„Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen! Ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate … In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr noch dazu Zeit bleibt; (…) in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da vermögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten.“

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war Karl Kraus ein Verehrer des Thronfolgers. Anlässlich des Attentats in Sarajewo verfaßte er einen Nachruf auf Franz Ferdinand, der er in seiner Zeitschrift Die Fackel im Sommer 1914 veröffentlichte. Seine Einstellung veränderte sich mit dem Grauen und der Inhumanität des Krieges. Er sympathisierte mit der Sozialdemokratie, verurteilte in der Folge die Habsburger, vor allem aber den deutschen Kaiser Wilhelm II. – aus seiner Sicht waren die Politiker gemeinsam mit den Militärs für diesen „Weltenbrand“ verantwortlich.

Gebrauchsanweisung:

Verfolgst du kämpfend den Franzosen,
So gib ihm tüchtig auf die Hosen,
Begegnest du dem Söldner-Britten,
So regaliere ihn mit Tritten,
Siehst du von weitem schon den Ruß,
So vorbereite dich zum Schuß.

Das Drama endet in einer apokalyptischen Szene, der Auslöschung der Menschheit durch den Kosmos. Alle Menschen erweisen sich als unwürdig, auf dieser Welt zu leben, weil sie die Unmenschlichkeit und Grausamkeit des Krieges zuließen und deshalb auch zu Grunde gehen müssen. „Ich habe es nicht gewollt“, ist der letzte Satz der „Stimme Gottes“ im Drama – tatsächlich ein Zitat von Wilhelm II.

Echo auf: Jean Améry

Sinnieren über Herkunft, Heimat und Identität (als Reaktion auf Jean Améry: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“)

Vor kurzem habe ich einen Roman gelesen, „Daheim“ von Judith Hermann. Ein sehr tröstlicher Text. Ich muss an einen Dialog zwischen der neu zugezogenen Protagonistin, deren Name nie genannt wird, und ihrer Nachbarin Mimi denken, in dem es um Wurzeln geht. Wo sind deine Wurzeln? Die beiden Frauen haben dazu unterschiedliche Gedanken. Oh, ich fürchte, ich habe keine. Und: Manche Leute haben Wurzeln und andere eher nicht. Man könne auch vorläufig verwurzelt sein, an einem Ort, an dem man sich in der gegenwärtigen Lebensphase zu Hause fühlt.

Fühle ich mich verwurzelt? Wo? Oder wann? Welche Rolle spielen Herkunft und Heimatgefühl in der Konstruktion meiner Identität?

Die Vorfahren meiner Großmutter mütterlicherseits stammen aus Frankfurt und Umland, der Vater meiner Mutter ist allerdings in Kosel in Oberschlesien geboren und musste, nachdem er Ende des Zweiten Weltkriegs von der Ostfront zurückgekehrt war, fliehen. Er war ein Vertriebener, der, soweit ich weiß, in Frankfurt aber eine neue Heimat fand.

Meine Großeltern väterlicherseits und ihre Vorfahren kommen aus dem Odenwald, aus der Gegend um Bad König und Darmstadt. Deren Ururgroßeltern waren Hugenotten, calvinistische Glaubensflüchtlinge, die Anfang des 17. Jahrhunderts dort Zuflucht suchten und blieben. Auch sie ihrer Heimat beraubt. Mein Urgroßvater, ein Nachkomme dieser Vertriebenen, Postmeister in einer Kleinstadt und NSDAP-Mitglied, beging 1944 Suizid. Hatte er dabei mitgewirkt, anderen ihre Identität und damit ihre Daseinsberechtigung, ihr Leben, abzusprechen?

In meinen Venen fließt Blut der Vertreibung und Blut der Täterschaft. Wie bringt man das zusammen?

Ich bin an einem scheinbar wahllosen Ort groß geworden, der zunächst auch für meine Eltern, als sie dort hinzogen, ein Ort ohne Bedeutung war. Die Verbindung mussten sie erst aufbauen. Fühle ich mich dieser meinigen Heimat so wenig verbunden, weil sie nicht die Heimat meiner Ahnen ist? Die Erde dort ist stumm, sie kann mir unsere Geschichte nicht erzählen.

Andere Orte, an denen ich gewesen bin, sprechen zu mir, ohne dass ich zu sagen wüsste, warum. Ich sehne mich bisweilen zutiefst nach ihnen. Es ist die Sehnsucht nach einem Heimatgefühl, einem In-Sich-Ruhen, einer Rast. Flüstern mir das Pfeifen des Winds, das Rauschen des Meeres, das Rascheln der Kornfelder und das Geschrei der Möwen vom Leben meiner Vorfahren? Dann erkenne ich mich selbst und kann still sein.

Liliane Katharina Urich

Wir sind alle deutsche Juden

„Maman, durch dich bin ich Jude. Dir habe ich den ganzen Schlamassel zu verdanken.“ Mit diesem Satz fängt die Dokumentation “Wir sind alle deutsche Juden” an, auf die ich vor einiger Zeit in der ARD-Mediathek gestoßen bin. Daniel Cohn-Bendit, ein deutsch-französischer Publizist und Politiker der Grünen, begibt sich auf die Suche nach seiner jüdischen Identität. Cohn-Bendit entstammt einem säkularen jüdischen Haushalt, der jüdische Werte akzeptierte, Religion jedoch ablehnte. Im Jahr 1933 flohen seine Eltern aus Deutschland nach Paris. In Frankreich geboren, verbrachte Cohn-Bendit seine Kindheit in der Normandie, bis er mit 13 Jahren nach Frankfurt am Main kam. Zwischenzeitlich war er staatenlos. Wie oft er sich wohl die Frage nach seiner Identität stellen musste. Wer bin ich eigentlich? Bin ich Franzose, Deutscher, Jude, nichts von allem oder doch alles zusammen? Die Reise auf der Suche nach seiner Identität findet nicht in Berlin, dem Geburtsort seines Vaters, oder Posen, dem Geburtsort seiner Mutter, statt. Cohn-Bendit reist dafür nach Israel, an einen Ort, wo die jüdische Identität von jedem Juden auf verschiedenste Weise interpretiert und gelebt wird. Auf seiner Reise stellt er sich die Frage: „Ich bin Jude. Was bedeutet das?“ Während seine Mutter das Judentum intensiv gelebt hat, ohne religiös zu sein, weiß Cohn-Bendit mit seinen 75 Jahren immer noch nicht, was das ist. Denn wie kann er jüdisch sein, ohne jüdisch zu leben? Bevor er sich auf die Suche nach seiner Identität in Israel macht, besucht er seinen Bruder in Frankreich, der sagt: „Es sind die anderen die einem eine Identität formen und ich will mich einfach nicht einsperren lassen in einer Identität, die die anderen aus mir machen wollen. […] Das Einzige, was man mir unterjubeln will, obwohl ich überhaupt nichts dafür kann, ist Jude zu sein.“ Er möchte nicht in Schubladen gesteckt werden, keinen Stempel von anderen aufgedrückt bekommen. Cohn-Bendit widerspricht seinem Bruder: „Wir sind Juden, auch wenn ich nicht erklären kann, was es für mich bedeutet.“ Hat man eine Wahl bei seiner Identität? Die Frage nach der jüdischen scheint oftmals viel schwieriger zu beantworten. Denn das Judentum ist viel mehr als „nur“ eine Religion. Es ist Kultur, Tradition, Kunst, Sprache(n), aber auch Verfolgung, Holocaust, Erinnerungskultur und die israelische Politik. Aber wie kann eine solche Suche und die erhoffte Entdeckung aussehen, wenn man nicht glaubt, weder Jiddisch noch Hebräisch spricht, keinen Schabbat feiert und auch keine eindeutige Meinung zum Staat Israel hat? Cohn-Bendit trifft auf seiner Reise Menschen, die sich vom Judentum emanzipieren oder es zelebrieren, Menschen, die den jüdischen Glauben mit Überzeugung leben oder verwerfen, die die Politik des jüdischen Staates unterstützen oder bekämpfen, die ihre Identität gefunden haben oder diese immer noch suchen. Eine Rabbinerin, die er trifft, sagt: „Jude sein bedeutet, morgens mit einer Frage aufzuwachen und abends mit einer Frage schlafen zu gehen.“ Am Ende seiner Reise steht Cohn-Bendit auf einem Hügel und hinterfragt seine Identität, die oftmals mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Sie entspringt der Geschichte seiner Familie, dem Gedächtnis des jüdischen Volkes, seinem Anspruch an die Welt und sich selbst. „Vielleicht gibt es nicht auf jede Frage eine Antwort. Vielleicht sind wir alle deutsche Juden, entwurzelte, auf der Suche nach der eigenen Identität.“

Magdalena Loska

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/wir-sind-alle-deutsche-juden/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuL2EwMmY0OWI4LTFhOTgtNDEwMS05NjA4LTkyMTM4YWNiZWQ4OA

Monopterus albus

Gelber Aal : dunkel gefleckt : glatt

& schup­­penlos : Rücken-, Schwanz- & Afterflosse

verschmelzen zu einem Flossensaum

kurz & breit der Kopf : kleine Augen

Das große : von dicken Lippen umfaßte

Maul ist tief gespalten : unter der Kehle

wachsen die Kiemen zusammen & bilden

einen quergestellten Kiemenschlitz

Lebt in Schlammlöchern oder Felsspalten

Teichen : Kanälen : Flüssen & Reisfeldern

frißt Fische : Würmer : Krebse : auch größeres

Getier & treibende Pflanzenreste

Proterandrischer Hermaphrodit : wechselt

im Laufe des Lebens das Geschlecht

zuerst männlich : dann weiblich

ein : e minimalistische : r Künstler : in

Zur Fortpflanzung baut das Männchen

frei treibende Schaumnester : die befruchteten

Eier werden nach dem Laichakt hinein-

gespuckt & bewacht : bis sie geschlüpft sind

Sechs neue Gedichte, 1. Reihe

Nachts


die Eisschollen krachen wie Feuerwerk und
                                              dann wieder
   wie Paletten auf dem Gemüsemarkt 
        zusammengeworfen Dazwischen schlürft ein  
     Wal den Fluss und die
                                  Wildgänse errichten 
       einen fliegenden Teppich aus 
                                       Klang 
      darunter bin ich allein in der Nacht Und
     in den Häusern vor den Bildschirmen 
       löscht man sich selber aus
                           seh den Großen
      Wagen wie er senkrecht auf der Deichsel
        steht (die Ladung 
                             herausgekippt)


Missa Brevis

                 für Ute

Kyrie

kein Wort Das sich 
erkennt … Und Sterben wie 
Leben ist so einfach (dass 
ich es nicht kann)

Gloria

Wasser (mit
der Wünschelrute nicht
zu finden) strömt als
Glück (preist)

Credo

seine Gedanken sind
nicht meine Gedanken So
schält er mich gegen 
den Strich 

Sanctus

die hören: sprechen
   : Feuer Wie
der Atem kommt
und sich erneuert

Agnus Dei

den Alptraum
  gibt es Etwas muß
sich zerbrechen
(für uns)


Feiertag

der Supermarkt hat die Werbe-
  tafeln hereingeholt der Parkplatz
    feiert seine Leere und die Reisegruppe
 atmet niemandem die Luft weg Ich
   höre ich hätte Sand in meinen
 Brunnen geschüttet und müsse ihn
  wieder hinausschaufeln solange
    gütig die Kuh noch kaut


Namen

starke Mai-Winde treiben
    junge Blätter um mich herum und 
      missachten
                   Name und Bedeutung Ich
       habe verstanden Lass das 
    Eichenblatt fallen und durchfühle
         meine 
                  Unwissenheit 



Was lebt

alles was lebt wächst alles was lebt
   wird müde alles was lebt
                             stirbt
beim Menschen kommt hinzu Er 
  versucht zu lieben und ist vielleicht
    Ziel eines solchen Versuchs
 verrät und wird verraten 
                          überwacht 
 sein Auto und seine Tür  
    (und wird überwacht)  
                      ab und an  
     erklingt bei ihm Musik 
       weil er (wie zum Trotz)
                               leben will



o.T.

                  für Jutta

aber zum Glück du gibst uns
                        preis Wie
    wenn wir aufgetan für das 
       Atmen? Schwere hebt uns
   durch die Schwebe Da sein
       kann ich nicht Nur
          hier Zersaust


Walter Thümler, Mai 2022


Diese Lesung als Video anschauen

Echo auf: Saša Stanišic, Herkunft

Oskoruša, 2009

(…)

Auf dem Friedhof von Oskoruša teilte ich meinen Namen und Brot mit den Toten. Wir aßen Räucherfleisch auf meinen Ahnen, da ergriff Gavrilo das Wort.

»Hier«, sagte er und goss etwas Schnaps in die Erde, »liegt dein Urgroßvater. Die Urgroßmutter hat nur heimlich getrunken.« Auch auf ihre Seite stellte er einen Becher und sah dann weg, damit sie weiterhin heimlich trinken konnte. Wir stießen an.

( . . . )

Die Friedhofshitze schmeckte salzig und klang nach Zikaden. Gavrilo suchte meinen Blick. Ich nickte ihm zu und fand es sofort unpassend, genickt zu haben auf einem Friedhof.

»Siehst du das?« Er zeigte in die Landschaft. »Da stand das Haus«, sagte er.

»Von meinen Urgroßeltern?«

»Ja.«

»Da?«

»Nein, da.«

»Da, wo man den Zaun sieht?«

»Nein, da wo man nichts sieht.«

Ich lachte. Gavrilo fand es nicht komisch, und das war der Augenblick, da Gavrilo mich fragte, woher ich käme.

Also doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los. Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien verschafft.

(Aus: Saša Stanišic, Herkunft. Luchterhand Literaturverlag, München 2019)

Herkunft

Als ich ein Kind war, brachte mir eine Tante von einer Reise in die Schweiz eine Schachtel Schwarzschokolade mit. Die kleinen, in goldene Folie eingewickelten Würfelchen lagen säuberlich in der exquisiten Blechschachtel. Das schöne Geschenk aus dem fernen Westen schätzte ich so sehr, dass schon eine Woche vergangen war, bis das erste Stück endlich gekostet werden konnte. Doch für ein kleines Mädchen ist die Definition von Schokolade einfach Milchschokolade. Der trockene, bittere Geschmack hat mich dazu gebracht, sie sofort wieder auszuspucken. Ich war noch zu jung, um an etwas anderem als an Süßem Gefallen zu finden, aber auch nicht mehr jung genug, um lügen zu können. Ich tat so, als würden sie mir schmecken, und die ganzen Sommerferien versuchte ich mit gerunzelter Stirn, sie wirklich zu genießen. Sie kamen doch aus der Schweiz! Es konnte nicht sein, dass sie nicht gut waren.

Nicht viel anders sind manche Erwachsene beim Umgang mit anderen. Hast du früher bei der Suche nach dem Mutterleib eine ausgezeichnete Arbeit geleistet, bist du dann diese Schweizer Schokolade, für die die Leute mehr Toleranz aufbringen. Du kannst jede Form, jeder Geschmack sein, ohne dir Sorgen zu machen, dass keiner dich aus dem Regal nehmen würde, denn deine Herkunft hat schon all dein Anderssein legimitiert. Sei laut, du bist temperamentvoll, nicht unhöflich; sei ruhig, du bist nachdenklich, nicht zurückgezogen. Sei sparsam, du bist nicht geizig, der Minimalismus ist doch in Mode; gib viel aus, du bist nicht von Konsum dominiert, sondern der Meister im Genießen des Lebens. Leider, für Pechvögel ist die gestempelte Herkunft eventuell ein lebenslanger Kampf mit unmöglicher Lösung.

Jing Lin

Das Haus im Süden des Landes

Im Süden des Landes steht ein Haus, das seit vielen Jahren unbewohnt ist. Die Einrichtung erinnert mehr an die Vergangenheit, als an die Gegenwart. Wenn man das Haus betritt, scheint es, als wäre die Zeit im Jahre 1976 stehen geblieben. Die orangenen Küchenvorhänge und weißen Tischdecken wurden von Hand genäht und der blaue Teppich über Generationen hinweg weiterverschenkt. Das Porzellan steht fein säuberlich und unbenutzt hinter der Vitrine. Auf der Nähmaschine bilden sich feine Staubwolken und an den Wänden hängen Schwarzweißporträts. Zu jedem Ferienbeginn stiegen meine Mutter und ich, vollgepackt mit Ariel Waschpulver und Lindt Schokolade, in den Reisebus und fuhren in das Haus im Süden des Landes. Auf dem kleinen Fernseher liefen amerikanische Filme, deren Dialoge von einem Sprecher in monotonem Tonfall synchronisiert wurden. Zwischen unseren Beinen klemmten Taschen mit selbst belegten Brötchen, an der Tankstelle zur Grenze gab es zum amerikanischen Film grüne Pringles. An jeder Raststätte füllte sich der Bus mit kaltem Zigarettenrauch. Nach sechzehn Stunden Busfahrt quer durch zwei Länder und einer kurzen Taxifahrt, stiegen wir mit Ariel Waschpulver und Lindt Schokolade am grünen Gartentor des Hauses aus. Großmutter wartete schon an der offenen Haustür auf uns, die Haare kurz und lockig, das einfache Kleid lang bis über die Knöchel. Ich habe meine Großmutter nie eine Hose tragen gesehen. Meine Mutter ließ als erstes alle Koffer unausgepackt auf dem Boden liegen und lief in den großen Garten. Jedes Mal merkte ich in diesem Moment die große Sehnsucht nach ihrem Zuhause und nach der Freiheit, die sie nicht mehr in der Stadt im Ausland, sondern in der Natur in ihrer Heimat fand. Meine Kindheit im Süden des Landes beschränkte sich auf zwei Straßen. Mehr brauchte ich nicht. Mir reichte unser Garten, in dem ich mit meiner Cousine zeltete, die Küche meiner Tante eine Straße weiter, und das Fernsehzimmer meiner Großmutter, in dem wir täglich zusammen die 20 Uhr Nachrichten schauten. Ihr liebster Platz war auf der rechten Seite am Küchenfenster. Heute, viele Jahre später, sitze ich an ihrem Platz und blicke aus dem Fenster in den großen Garten, in dem meine Cousine und ich schon vor langer Zeit unsere Zelte abgebaut haben. Die sechzehnstündige Busfahrt habe ich gegen den einstündigen Flug eingetauscht. Die Pringles von der Tankstelle an der Grenze zum monoton synchronisierten Film schmecken dennoch besser als am Flugsteig. Ich sitze auf dem Platz meiner Großmutter, blicke aus dem Küchenfenster und sehe, wie meine Mutter bei ihrer Ankunft die Koffer liegen lässt und in den Garten Richtung Freiheit läuft. Früher konnte ich nicht verstehen, warum sie die orangenen Küchenvorhänge nicht gegen neue eintauschen wollte, warum sie am blauen Teppich ihres Großvaters hing, und warum das Porzellan in der Vitrine nie benutzt wurde. Heute, während ich auf dem Platz ihrer Mutter sitze, verstehe ich es, denn auch ich würde manchmal gerne die Zeit anhalten. Ich laufe eine Straße weiter in die Küche meiner Tante, denn mehr als diese zwei Straßen im Süden des Landes brauche ich immer noch nicht, und denke daran, wie gut die orangenen Küchenvorhänge zur weißen Tischdecke passen.

Magdalena Loska

Echo auf: Bei Dao, Das blaue Haus

Mit dem Sommersemester beginnt eine neue Folge von „Ecos da escrita“ – Echos auf ausgewählte Textausschnitte. In der Schreibübung in Germersheim reagieren Studentinnen in dieser Woche auf einen Text des ersten chinesischen Übersetzers von Tomas Tranströmers Gedichten, den Lyriker und Essayist Bei Dao. (Aus rechtlichen Gründen folgt hier nur ein kurzer Auszug aus Bei Daos Text.)

Bei Dao, Das blaue Haus

1       Das blaue Haus liegt auf einer kleinen Insel nahe Stockholm, es ist das Landhaus des schwedischen Dichters Tomas Tranströmer. Es ist winzig und alt. Es kann die strengen Winter in Schweden nur überstehen, weil es immer wieder repariert und gestrichen wird.

Ende März dieses Jahres ging ich nach Stockholm auf eine Konferenz, die deprimierend und langweilig war, wohl so wie Konferenzen überall auf der Welt. Einen Tag vor der Abreise hatten Annika und ich uns zu einem Besuch bei Tomas in Vasteras verabredet. Von Stockholm bis zu dieser Stadt braucht man zwei Stunden. Annika fährt einen roten Saab. Der Himmel war düster, ab und zu fielen Schneeflocken. Der Frühling hatte in diesem Jahr auf sich warten lassen, die trübseligen Wälder lagen noch in tiefem Schlaf, die Felder gaben sich graublau, kahl lagen sie da, hoben und senkten sich mit der Fahrbahn.

(In: Bei Dao, Gottes chinesischer Sohn. Essays. Übersetzt von Wolfgang Kubin. Weidle-Verlag, Bonn 2012)

Julie Schneider, Besuch bei der alten Dame

Das erste was ich in Bukarest tat war, mich zu verlaufen. Kaum am Bahnhof angekommen (Gleis zwei, 11:28), ging es schon los: es kostete mich ganze zehn Minuten, den Ausgang zu finden, da ich sofort zielstrebig in die falsche Richtung gelaufen war und es erst bei Gleis 14 realisierte. Als ich es dann endlich geschafft hatte, dem Bahnhof zu entkommen, holte ich meinen Notizzettel mit der Wegbeschreibung zu Großtante Ioanas Adresse heraus. Sollte nicht allzu schwer sein, dachte ich mir in meiner Naivität. Eine Viertelstunde zu Fuß, da lohnt sich ein Taxi nicht.

Und so begann ich, voller Zuversicht durch die mal breiten und geraden, mal schmalen und gewundenen Straßen Bukarests zu marschieren. Immerhin war ich hier aufgewachsen, die Wegbeschreibung war vermutlich ohnehin überflüssig. Abgesehen von einigen neuen Geschäften und Baustellen hatte sich nicht allzu viel verändert.

Eine halbe Stunde später verwandelte sich mein strammes Schritttempo allmählich in ein gemäßigtes Schlurfen, immer wieder unterbrochen von Pirouetten, wenn ich mich verwirrt umsah. Irgendetwas stimmte nicht. Ich hätte schon längst an dem Kiosk bei der Baumallee vorbeikommen sollen; stattdessen stand ich vor einer Statue von George Enescu. Definitiv stimmte da was nicht.

Reflexartig zog ich mein Handy aus der Tasche und klappte es auf, nur um es direkt wieder zuzuklappen. Großtante Ioana hatte kein Telefon, was bedeutete, dass nur eine Person blieb, die ich hätte anrufen können – und das kam gar nicht in Frage. Bevor ich zu solch einer Verzweiflungstat herabsinken würde, bräuchte es schon mehr als 30 Minuten Umhergeirre in Bukarest.

Genaugenommen brauchte es zwei Stunden Umhergeirre in Bukarest, wie ich anderthalb Stunden später feststellte. Die Sonne brannte unnachgiebig auf mein erhitztes Gesicht, der Schweiß lief mir den Nacken hinab, und ich hatte mindestens drei Blasen an den Fersen. Nun gut, dann sollte es wohl so sein.

Mit einem leidenden Seufzer zog ich mein Handy erneut hervor und wählte die Nummer meiner Cousine Alina. Es kostete mich immense Willenskraft, auf die Anruftaste zu drücken und beinahe ebenso viel, um nicht direkt aufzulegen, als sich die vertraute näselnde Stimme meldete: „Hat der Zug sich verlaufen oder du?“

„Es wäre lieb, wenn du mich abholen würdest“, knurrte ich so höflich wie möglich zurück und schaute mich nach einem Straßenschild um. Meine Güte, war mein Rumänisch eingerostet. „Ich bin beim, äh– Carol Park.“

Wo?“ Ich spürte den Luftzug ihres verächtlichen Schnaubens förmlich in meinem Ohr. „Du bist hoffnungslos.“

Und bevor ich durch wortloses Auflegen ein Zeichen setzen konnte, hatte sie schon aufgelegt.

Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, mein Rumänisch wieder aufzufrischen, indem ich sämtliche mir bekannten Schimpfwörter vor mich hin grummelte. Als mein Wortschatz erschöpft war, trat ich zum Abschluss gegen eine Mülltonne, setzte  mich auf eine Bank im Schatten und wartete.

Die Zeit verstrich, und ich begann bereits zu befürchten, dass Alina mich eiskalt hier sitzen lassen würde, da bog endlich ein kleiner, klappernder Volkswagen um die Ecke. Ich erkannte das Auto sofort – meine Eltern hatten es mir nach dem Schulabschluss geschenkt, doch da ich wenige Monate später zum Studium nach Frankreich gezogen war, hatten sie es an Alina weitergegeben. Nicht, dass ich darauf neidisch gewesen wäre; ich hatte jetzt sowieso mein eigenes Auto. Einen Porsche.

„Willkommen in meiner bescheidenen Heimatstadt“, rief mir Alina zu. Das Fenster auf der Fahrerseite war heruntergekurbelt, und sie ließ einen Arm lässig heraushängen. Ihr Blick hinter der knallrot umrahmten Sonnenbrille war undurchdringlich.

Ich rollte mit den Augen und setzte mich ohne ein Wort auf den Beifahrersitz. Dann überlegte ich, ob ich nicht vielleicht doch etwas zu unhöflich war – immerhin hatten wir uns seit Jahren nicht gesehen und sie war eben zu meiner Rettung gekommen. „Hi“, sagte ich.

Alina sagte nichts.

Mein „Du mich auch“ ging im Aufbrummen des Motors unter, als wir uns in Bewegung setzten. Die ersten Minuten verbrachten wir in Schweigen.

„Keine Ahnung, wie du es geschafft hast, den Weg nicht zu finden“, murmelte Alina schließlich. „Das war die einfachste Wegbeschreibung, die man sich vorstellen kann.“

Ich räusperte mich pikiert. „Ich muss falsch abgebogen sein.“

„Ja, so um die fünfzig Mal. Gut, dass wir keine Abkürzungen dazugeschrieben haben, sonst wärst du jetzt wahrscheinlich in Bulgarien.“

„Man wird sich doch wohl mal in der Straße irren dürfen.“

„Na ja, du warst ja seit Jahren nicht mehr hier. Da kann man schon mal alles komplett vergessen.“

„Ich kann dich in Toulouse herumführen, wenn du irgendwann vorbeikommst“, gab ich zurück.

„Nein danke. Ich bin vollauf zufrieden damit, hierzubleiben.“

„Natürlich. Vielen Dank, dass du extra für mich das Haus verlassen hast, das muss ein großes Opfer gewesen sein.“

Alina schnaubte, und dieses Mal klang es weniger herablassend und mehr stocksauer. „Ich kann dich gerne im nächsten Straßengraben absetzen.“

„Nein danke“, sagte ich schnell. Von da an redete ich kaum noch und ließ stattdessen Alina jede Ecke und Gasse Bukarests kommentieren, als hätte ich noch nie einen Fuß in die Stadt gesetzt. Der nervigste Audioguide der Welt.

Endlich tauchte vor uns die vertraute Silhouette unseres alten Familienhauses auf. Ich warf einen Blick auf die Uhr: die Fahrt hatte nur 15 Minuten gedauert. 15 Minuten, die mindestens doppelt so lang gewesen waren wie die zwei Stunden davor. Wie lang würde dann erst das Wochenende hier werden?

Magdalena Loska, Gespräche in vier Wänden

Wie jeden Mittwochnachmittag, saßen wir zusammen in der Runde und besprachen die kommenden Arbeitsaufgaben für die nächste Woche. Nach Abschluss des Meetings erzählte uns Eran, der Verantwortliche für uns Volontäre, von einem Anruf, den er vor Kurzem erhalten hatte. Ein älterer Mann namens Michael, der kurz vor dem Zweiten Weltkrieg von Deutschland nach Israel gekommen war, hatte erfahren, dass in unserer Einrichtung jährlich deutsche Volontäre ein freiwilliges Jahr absolvierten. Sehr gerne würde er sich wieder mit jemandem in seiner Muttersprache unterhalten, ein bisschen Computerhilfe könnte er auch gebrauchen. Ich meldete mich sofort. Wo sonst hätte ich die Möglichkeit gehabt, Geschichten von einer Person zu hören, die mir von den 1930-er Jahren in Deutschland, von Flucht und Krieg und von einem Land erzählen konnte, das vor 80 Jahren noch einen anderen Namen trug als heute, und wo dort, wo heute Stadt ist, früher Wüste war? An einem Mittwochabend im November machte ich mich auf den Weg zu unserem ersten Treffen. Michael und Miriam wohnten nicht weit von meiner Wohnung in der Katzenelson entfernt. Die Straße hoch, an der Bushaltestelle vorbei, an der ich so oft am Wochenende saß. Nach Fahrplänen- und Zeiten sucht man hier vergeblich. Stattdessen holt man sich eine Falafel um die Ecke, setzt sich auf die Bank und wartet. Vielleicht kommt man am Abend noch an der Klagemauer in Jerusalem oder auf der Party in Tel Aviv an. An der Haltestelle geradeaus, an schönen Einfamilienhäusern vorbei, die so typisch für Kiryat Tivon sind, erreichte ich das Gartentor von Michael und Miriam. Ich verspürte sofort Sympathie diesem älteren Ehepaar gegenüber, das vor kurzem seinen 70. Hochzeitstag feierte. Sie gehörten zu denjenigen, die zwar fast ihr gesamtes Leben in Israel verbracht hatten, aber sich nie an die Hitze und Trockenheit des Landes gewöhnen konnten, und die eine gewisse Aura von der Eleganz des alten Europa ausstrahlten. Ich fing die Unterhaltung auf Hebräisch an, sie unterbrachen mich in fließendem Deutsch. Ich war überrascht, dass Michael nach all der Zeit seine Muttersprache nicht vergessen hatte und sie so fließend sprach, als wären keine Jahrzehnte und Kriege vergangen. Sogar Miriam und seinen zwei Töchtern hatte er seine Muttersprache beigebracht. Es überraschte mich nicht nur die Tatsache, dass er noch Deutsch sprechen konnte, sondern vielmehr, dass er es wollte. Ich wusste vom Israel des vergangenen Jahrhunderts, auf dessen Straßen die verschiedensten Sprachen Europas zu hören waren. Aber die meisten Menschen dieses Landes, auf der Suche nach einer neuen, gemeinsamen Sprache und Identität, hatten sich schon vor langer Zeit von ihren Muttersprachen und Heimaten verabschiedet, die oftmals an schmerzhafte Erinnerungen geknüpft waren. Vor mir stand jemand, der augenscheinlich weniger Probleme damit hatte als ich, die deutsche Sprache in Israel zu sprechen. Schon nach dem ersten Treffen und dem gemeinsamen Abendessen verspürte ich eine tiefe Verbundenheit den beiden gegenüber. Und somit trafen wir uns jeden Mittwochabend. Michael wurde schnell zu dem Großvater, den ich niemals gehabt hatte. Unsere Treffen hatten einen routinierten Ablauf: Michael und ich gingen in sein Arbeitszimmer, in dem wir vor seinem Computer Platz nahmen. Manchmal stellte er mir Fragen zur Internetnutzung, manchmal schauten wir uns philosophische YouTube-Videos an, aber immer erzählte er. Wenn er den Computer ausmachte und das Abendessen noch nicht fertig war, erzählte er von Krieg, Flucht, dem Ankommen und dann wieder von Krieg. All diese Gespräche fanden in seinem Arbeitszimmer statt, denn wenn er beim Abendessen weiter erzählen wollte, unterbrach ihn Miriam. Sie wollte nichts mehr von Krieg hören, geschweige denn darüber sprechen. Es schien, als hätte sie das Wort „Krieg“ mit all ihren Erinnerungen in eine Schublade gepackt und den dazugehörigen Schlüssel vor allen versteckt. Nicht selten war ich etwas darüber enttäuscht, dass ich das Ende einer Erzählung nicht mehr hören konnte, aber konnte ich es ihr verübeln? Natürlich nicht. Michael kam mit 13 Jahren aus Köln nach Israel (damals noch Palästina), Miriam mit neun aus einem Teil Russlands, dessen Grenzen im Laufe der Zeit verschwammen, und der später zu Rumänien wurde und heute Moldawien ist. Beide verließen noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ihre jeweilige alte Heimat – nicht ahnend, dass weitere Kriege in ihrer neuen Heimat auf sie warten würden. Wenn Michael sprach, schwieg Miriam. Und somit gewöhnten wir uns an, die Tür seines Arbeitszimmers vor Miriam zu verschließen. Er erzählte von seiner Mutter, die psychisch krank geworden war, als sein Vater die Familie verlassen hatte und mit seiner neuen Frau nach Argentinien ausgewandert war. Kurze Zeit später wurde seine Mutter in eine Psychiatrie eingewiesen. Michael konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als er mit drei Jahren von den Erziehern des Kölner Kinderheimes abgeholt wurde. Er versteckte sich unter seinem Bett in der Hoffnung, dass man ihn nicht finden würde. Gewaltsam wurde er mit seinem Bruder und seiner Schwester aus dem Haus gezogen und in ein Kinderheim gebracht. Bei einem seiner Besuche in der Psychiatrie, nicht ahnend, dass es der letzte sein würde, nahm seine Mutter ihn bei der Hand und führte ihn zum See. Sie wollte ihn und sich ertränken. In letzter Sekunde wurde eine der Pflegekräfte auf sie aufmerksam. Michael sah seine Mutter nie wieder. Die Patienten dieser Psychiatrie waren mitunter die ersten, die ein paar Jahre später von Nationalsozialisten ermordet wurden. Als Michael 13 Jahre alt war, gewannen er und sein Freund durch ihre guten sportlichen Leistungen ein Ticket nach Israel. Das Kölner Kinderheim, in dem sein Bruder und seine Schwestern blieben, verließ 1942 die Stadt in Richtung Minsk. Als sie ankamen, wartete schon das Erschießungskommando auf sie. Während er mir all das erzählte, zitterten seine großen Hände. Michael hatte Parkinson. In seinen Augen, die sich tief hinter der dicken, orangenen Brille versteckten, sah ich den Schmerz und gleichermaßen das Verlangen danach, seine Geschichte zu erzählen. Mit seinen Kindern und Enkelkindern konnte er all das nicht teilen, denn sie befürchteten, dass sich sein gesundheitlicher Zustand durch seine Reise in die Vergangenheit verschlechtern würde. Während er sprach, blickte ich immer wieder auf das große Schwarzweißbild seiner Geschwister auf der Wand. Ich hörte seiner zittrigen Stimme zu, und gleichzeitig hörte ich immer wieder meine eigene Stimme im Kopf: weine nicht vor ihm. Ich sah mich nicht im Recht, den Tränen freien Lauf zu lassen, die er unterdrückte. Jede Woche erzählte mir Michael ein Kapitel aus dem Buch seines Lebens. Wenn ich nicht vor Ort in Israel war, dann führten wir unsere Gespräche am Telefon weiter. Jeden Mittwochabend. Ein paar Jahre später erkrankte er an schwerer Demenz. In einem Wutanfall, verschuldet durch die Krankheit, riss er das große Schwarzweißbild seiner Geschwister von der Wand. Das letzte Mal, als ich ihn sah, war kurz vor seinem Tod in einem Pflegeheim. Auf der Hinfahrt im Taxi bereitete mich Miriam darauf vor, dass er mich vielleicht nicht erkennen würde. Michael saß in einem Rollstuhl im Garten und blickte auf die Landschaft. Als ich mich zur Begrüßung zu ihm hinunterbeugte, nahm er mein Gesicht in seine zitternden Hände und fragte mich, was ich mir zu meinem Geburtstag nächste Woche wünschte. Natürlich hatte er diesen nicht vergessen. Wir saßen zusammen im Garten und ich versuchte nicht daran zu denken, dass es das letzte Mal sein könnte. Ein paar Wochen später starb Michael friedlich im Schlaf. Und wenn ich an ihn denke, dann sehe ich uns beide in seinem Arbeitszimmer sitzen. Ich spüre seine großen, zittrigen Hände auf meinen, und ich blicke auf das große Schwarzweißbild seiner Geschwister an der Wand.

So geht das Reisen

So geht das Reisen in diesen Zeiten

Der Maulesel bleibt daheim : der Maulkorb

Wird auf dem Bahnsteig angeschnallt

Die Läden flunkern anhaltende

Schlemmerfreuden vor : Seuchenkrieg

& Kriegsseuche finden keinen Platz

Hinter den Schaufenstern : dem Führer

In der Lok gelingt das Kuppeln nicht

Eine zweite Lok wird vorgespannt

Hü hott : auf geht’s ins bekannte

Niemandsland : das fremdelnd einst

ich mein Zuhause nannte