Echo auf: Ilse Aichinger, Für das Neue Jahr

Welcher Augenblick wird auch an einem weniger spektakulären als dem Silvestertag zuletzt oder kurz vor zuletzt kostbar gewesen sein? Wer wird die Schatten, die fallen, in solche verwandeln, die einem auf die Sprünge helfen? Auch am Jahresanfang nehmen nur wenige ihre Entscheidungsmöglichkeiten wahr oder werden dazu ermutigt. Schatten aus dem letzten Jahr sind ihnen geblieben, aber es käme darauf an, sie abzuwerfen.

(In: Ilse Aichinger, Unglaubwürdige Reisen)


Mein Dorf

Wenn man mich fragt, was ich mehr in Griechenland vermisse, dann ist die Antwort immer mein Dorf. Viele Leute fragen mich: Ist es nicht langweilig, in der Wildnis zu sein? Gefällt es dir, so weit von der Stadt entfernt zu sein? Ich bin ein Stadtkind, ja. Ich liebe meine Stadt so sehr und bevorzugte schon immer Großstädte. Aber was das Dorf mir bietet, das bietet die Stadt nicht, oder? Die Landschaften, die ich in meinem Dorf sehe, und die Nähe zur Natur, zu den Bergen, zu den Tieren sind ein einzigartiges Gefühl. Schon die Fahrt ins Dorf ist eine Augenweide. Meer, ausgedehnte Wälder und der ständige Gesang der Vögel. Ich denke, diese Fahrt ist der schönste Moment des Tages. Ich fühle mich ruhig und friedlich. Auf dem Dorf bleibe ich aber nicht ruhig. Ich helfe meinem Opa  auf den Feldern, verbringe viel Zeit mit unseren Hunden und besuche Tanten und Onkel, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Aber das ist nicht für jeden Menschen etwas Schönes. An einem Ort nur von Verwandten umgeben zu sein, ist etwas, das viele Menschen vermeiden. Aber das stört mich nicht. Morgens aufzuwachen und mit Opa auf den Feldern, hoch oben in den Bergen, bis zum Sonnenuntergang zu wandern, ist für mich erfrischend. Solche Momente sind kostbar. Mit meinen Cousins und Cousinen auf dem rauen Terrain der Hügel zu sitzen, zu reden und gleichzeitig das endlose Grün und den Geruch von Erde und Olivenbäumen zu genießen. Wir wussten, dass diese Landschaften bei unserer Rückkehr in die Stadt durch Wohnblocks, den ständigen Lärm und unbekannte Gesichter überall ersetzt würden. Deswegen ist dieser Augenblick immer etwas Außergewöhnliches. Etwas Kostbares.

Petros Dramitinos

Hadleigh Castle

Die Sonne scheint und eine leichte Brise weht durch die Bäume. Der Weg zur Burgruine ist steinig und uneben. Das Meer ist nicht weit, zwischen der Ruine und dem Strand liegt nur die Bahnstrecke. Wir laufen zu dem einzigen Turm, der noch steht. Auf dem Weg dorthin laufen wir an der Mauer vorbei, hinter der man noch hinunter in die Kerker sehen kann. Der Stein ist von der Sonne ganz warm und bröckelig. Wir setzen uns ins trockene Gras. Es piekst und bleibt an unserer Haut kleben, aber das stört uns nicht. Wir breiten ein Handtuch auf dem Boden aus und legen das Baby darauf, das sich lachend hin- und her wälzt, als wir es kitzeln. Es ist ruhig um uns, um diese Uhrzeit sind nicht mehr viele Menschen dort. Ein Hund rennt um uns herum, hechelnd und mit dem Schwanz wedelnd. Genauso glücklich wie wir alle, froh, an einem so schönen Ort zu sein, sich einfach entspannen zu können mit Menschen, die man liebt.

Lea Döhms

Moment der Freundschaft

Es ist 15:26 Uhr, als unser Flugzeug den Flughafen von Athen erreicht. Ich hatte in der Nacht zuvor kein Auge zutun können. Zu groß war die Aufregung gewesen. Nach vier langen Jahren würde ich sie endlich wiedersehen. Ich würde endlich die Person wiedersehen, die mich die Bedeutung von wahrer Freundschaft lehrte und mir eine zweite Familie schenkte.
Nach vier langen Jahren würde ich auch das erste Mal wieder nach Athen reisen. Wie wird es wohl sein? Wird sich die Stadt verändert haben? Wird es sich anders anfühlen, dort zu sein? Ich schüttele den Kopf. Nein. Dies sind keine wichtigen Fragen, und die Antworten darauf sind es auch nicht.
Wichtig ist nicht die Stadt, sondern die Menschen, die in ihr leben. Was die Menschen mich fühlen lassen.
„Meine Damen und Herren, willkommen in Athen.“
Die Ansage der Flugbegleiterin holt mich in die Gegenwart zurück. Die Passagiere fangen an das Flugzeug zu verlassen und in den Bus zu steigen. Die Aufregung wird größer und größer, je mehr sich der Bus dem Terminal nähert. Ich betrete das riesige Gebäude und mache mich auf den Weg, meinen Koffer zu holen. „Nur noch ein paar Minuten“, denke ich mir und würde am liebsten schreien. Nach ein paar Minuten Wartezeit nehme ich meinen Koffer entgegen und laufe Richtung Ausgang. Und da sehe ich sie schon. Meine Definition von Freundschaft. Ich lasse meinen Koffer fallen und laufe auf sie zu. Sofort liegen wir uns in den Armen, und die Welt scheint für einen kleinen Moment vollkommen zu sein.

Anna Kandylis

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