Günther und Marlies
Günther hat eine lange Autofahrt hinter sich. Er hatte Marlies, seiner Frau, schon per Handy seine Ankunft angekündigt. Darum ist das Essen fertig, als er zur Tür eintritt. Sie begrüßen und küssen einander. Marlies fragt, wie der Tag war und ob Günther müde sei. Ja, er sei müde, aber es ginge ihm gut. Unterwegs habe er sich sogar noch ein paar Euro hinzuverdient. Er müsse nur nach dem Essen schnell an den Computer und eine Datei verschicken. Günther schaltet den Computer schon ein.
Marlies ist neugierig geworden und fragt, was es denn so Dringendes sei. „Ich erzähl’s dir beim Essen“, antwortet Günther. Die beiden sitzen jetzt am Familientisch und speisen. Im Hintergrund läuft im Fernseher ein Musikvideo. Günther beginnt mit halbvollem Mund zu erzählen: „Auf der Autobahn, in der Nähe von Hannover, hat auf der Haltespur ein brennender Bus gestanden. Ja, einfach so dagestanden. Ich habe abgebremst wie all die anderen auch. Aber dann bin ich nicht an dem Bus vorbeigefahren, sondern habe hinter ihm gehalten und das Feuer mit dem Handy gefilmt. Du weißt doch, wie gute Aufnahmen unser neues Handy macht. Schließlich bin ich mit laufender Kamera an dem Bus vorbeigefahren. Vorne stand ein Mann und hat wild mit den Händen gestikuliert. Der müßte auch auf dem Film sein. Nach dem Essen schaue ich mir das Material kurz an und schicke es, sofern es etwas taugt, ans Fernsehen. So ein Film kostet schon was. Dafür kann man etwas verlangen.“
„Und“, fragt Marlies, „waren noch Menschen in dem Bus?“ „Das konnte ich von hinten nicht genau sehen. Aber als ich vorbeifuhr, sah ich, dass der Bus offenbar noch nicht ganz geräumt war. Einige Leute saßen oder standen auf dem Grünstreifen.“ „Und ? hast du nicht angehalten?“ fragt Marlies. „Aber Schatz, was hätte ich denn tun sollen? In so einem Fall muß man das Helfen den Fachleuten überlassen. Habe den Unfall gleich übers Handy gemeldet. Was aber schon etliche vor mir getan hatten.“ Marlies hakt noch einmal nach: „Und bist du sicher, dass du nicht helfen konntest?“ „Ja, absolut. Ich hätte mich nur selbst in Gefahr gebracht. Keiner hat angehalten. Kein einziger Pkw stand bei dem Bus. Hier konnte nur die Feuerwehr helfen.“ „Aber Günther, wir haben doch einen Feuerlöscher im Auto!“ „Das ist mir später auch eingefallen. Aber was willst du mit so einem Ding gegen einen brennenden Bus ausrichten? Sei vernünftig, Marlies, und beruhige dich. Es ist alles in Ordnung. Du weißt doch, wie ich solche Situationen auf der Straße hasse. Immerhin, hier ist der Film“, er hält das Handy hoch, „und den schick ich gleich ab. Mal sehn, was sie zu zahlen bereit sind.“ „Aber Günther, ich find’s irgendwie furchtbar“, sagt Marlies bedrückt.
„Man darf nicht so empfindlich sein, wenn man sich um jeden Cent prügeln muss“, versetzt Günther. „Ich weiß nicht, wie viele vor mir und nach mir Aufnahmen von dem Bus gemacht haben. Sah übrigens aus, wie so ein typischer Oma-Bus, du weißt schon, Kaffeefahrten und so weiter. Wahrscheinlich hat eine von den Alten mit Feuer gespielt. Nun, genug davon. Nachdem ich den Film abgeschickt habe, machen wir’s uns gemütlich. Du kannst schon den Wein hinstellen.“ „Wenn du meinst“, lächelt Marlies ihm nachdenklich und zögerlich zu.
Der Artikel ist leider sehr passend für die heutige Zeit.
Habe ihn mit Spannung gelesen.
Vielen Dank.