Erinnerungen an die Triestiner Lyrikerin Lina Galli
War es das Café Stella Polare oder das Danubio gewesen, so frage ich mich, wo Giorgio Voghera mich an einem Februartag des Jahres 1979 mit einer älteren Dame bekannt gemacht hatte, der, wie es bei ihrem Tod 1993 in der Lokalzeitung Il Piccolo hieß, „letzten Dichterin der Stadt Triest“? Die ältere Dame war damals bereits 80 Jahre alt und ich hatte von ihr bis dato noch kein einziges ihrer Gedichte gelesen. Als wir uns am nächsten Tag ohne unseren Vermittler trafen, hatte sie mir ein Buch mitgebracht, das ein paar Jahre zuvor, 1973 erschienen war: Eppure ancora un mattino, eine Auswahl ihrer Gedichte von 1934 bis 1972, herausgegeben von Nora Baldi, die eine wesentliche Rolle in ihren späten Lebensjahren spielte. Außerdem das Typoskript eines langen Gedichts, das sie unter dem Eindruck des furchtbaren Erdbebens in Friaul (Mai 1976) verfasst und im Radio vorgetragen hatte. Dieses Erdbeben, d.h. das Schicksal der davon betroffenen Menschen bewegte sie damals noch immer stark und so sprach sie fast ausschließlich darüber zu mir. Bei Giorgio Voghera sollte ich später über die Dichterin lesen:
Lina ist heute als eine von ganz wenigen Triestiner Dichterinnen auch im übrigen Italien bekannt. Zweifellos kann sie nunmehr neben den Großen der Triestiner Literatur bestehen. Unsere Großen haben jedoch, vielleicht ohne es zu bemerken, eigentümliche Haltungen eingenommen. Lina hingegen bewahrt weiterhin eine mütterliche und gleichzeitig, so möchte ich sagen, beinah mädchenhafte Haltung. Unsere Großen waren alle ein wenig egoistisch: vielleicht ein ‚sakrosanter‘ Egoismus. Lina hingegen ist immer großzügig, vor allem gegenüber jungen Schrifttellerinnen und Dichterinnen, denen sie hilft, sich durchzusetzen.
Lina Galli war im letzten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts geboren, stammte aus Istrien, aus dem venezianisch geprägten Städtchen Parenzo mit der berühmten Basilika. Die Mutter starb, als Lina vier Jahre alt war. Gemeinsam mit ihrem Bruder wurde sie von der Großmutter aufgezogen, die eine Pension geführt, in der auch viele österreichische Beamte verkehrten; einer von ihnen ermöglichte es dem begabten jungen Mädchen das Gymnasium in Gorizia zu besuchen. Mit dreiunddreißig Jahren kam sie als Lehrerin nach Triest, wo ihre für Kinder geschriebenen Reime, Filastrocche cantate col tempo noch im gleichen Jahr als Buch erschienen.
Zwischen dem darauffolgenden schmalen Gedichtband Trieste città (1938) und dem ersten Band einer Trilogie, in der sie die traumatischen Jahre des Weltkriegs in einer sehr persönlichen, autobiographisch geprägten Weise zu bewältigen suchte, waren 12 Jahre vergangen. Die alte Heimat war inzwischen jugoslawisches Staatsgebiet geworden, Parenzo hieß jetzt Pore?, und dort fühlte sie sich als eine Person, die zur Fremden geworden war. (Und an Lina Galli konnte sich in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich dort den Spuren ihrer Gedichte nachging, selbst in der Stadtbibliothek niemand erinnern.)
Im Antiquariat Misan in Triest, Fundgrube für meine eigene kleine Triestiner Bibliothek, hatte ich inzwischen den dritten Band der oben erwähnten Trilogie erworben, Notte sull’Istria, 1958 herausgegeben vom Movimento Istriano Revisionista; in Zeiten des sogenannten Kalten Krieges waren die Fronten verhärtet, zigtausende Italiener hatten Istrien verlassen (nach der Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrages am 10. Februar 1947, auf den der 48. Geburtstag der Dichterin fällt, als Istrien an Jugoslawien fiel und Triest vorübergehend zur ‚freien Stadt‘ erklärt wurde). Sie alle waren zu esuli geworden, zu Flüchtlingen, Menschen, wie seit jeher, Opfer der ‚großen‘ Politik. „Nostalgia e dolore, tu li comprendi“, „Nostalgie und Schmerz, Du verstehst sie“ stand in diesem Exemplar als Widmung für einen (mir) Unbekannten in Gallis gestochener Handschrift, die bis ins hohe Alter die gleiche blieb.
Als ich diesen Band zum ersten Mal las, wusste ich nicht, dass das Drama der Foibe auch ihre eigene Familie erfasst hatte, ihr Bruder und ein Schwager Opfer einer grausamen Rache geworden waren, die auch unschuldige Menschen nicht verschonte:[1]„Du bist jetzt ein Schatten/ auch in meiner Erinnerung“, beginnt das Gedicht „Fratello“, in dem es gegen Ende zu heißt:
Man hat mir gesagt, sie haben euch hingestellt
an den Rand eines Steilhangs
– Gott hatte seine Hand zurückgezogen –
Tief unten plätscherte das Wasser.
Der Horizont war noch immer prächtig
über den duftenden Buchen.
Mit der Maschinenpistole haben sie euch niedergemäht
Am Ufer des Aurania.[2]
Autorin von Vita di mio marito und Dichterin der Nostalgie
1942 machte Lina Galli der Witwe von Italo Svevo, mit der sie befreundet war, den Vorschlag, eine Biografie über ihren Mann zu verfassen – was diese ‚begeistert‘ aufgenommen haben soll. Vita di mio marito erschien 1950 in dem von Anita Pittoni gegründeten Verlag Lo Zibaldone; als Verfasserin fungierte Livia Veneziani Svevo und darunter war in Klammern vermerkt: „Stesura di Lina Galli“, „Fassung von Lina Galli“. Was jahrzehntelang nur als Mitarbeit gegolten hatte, sollte erst vor wenigen Jahren durch die akribischen Nachforschungen der Triester Literaturwissenschaftlerin Daniela Picamus bewiesen werden: „Die Biografie von Svevo war von der Ehefrau gewollt, wurde aber gänzlich von Lina Galli strukturiert und geschrieben.“[3] In den langen Listen von Fragen, die die ‚Mitarbeiterin‘ an die Witwe stellte, befindet sich auch diese: „Was wurde aus der Übersetzung von Senilità von Piero Rismondo? – sowie die Antwort von Livia Veneziani Svevo: „Die Übersetzung von Piero Rismondo ist in Wien vor dem letzten Krieg verloren gegangen“.[4]
Noch in Parenzo hatte Lina Galli Nike Clama kennengelernt, die in der Pension ihrer Großmutter wohnte und in der dortigen Scuola elementare ihre Kollegin war. Nike Clama war 1896 in Graz geboren, „di padre icognito“, „Vater unbekannt“, wie es in den Dokumenten hieß; Lina Galli erzählte mir, dass er ein „nobile tedesco“ – womit ein Österreicher gemeint war – gewesen sei. Nike hatte in Graz die Universität besucht und sprach fließend deutsch (verfasste sogar eine Grammatica di Lingua tedesca); ihre Heimat war jedoch Istrien, von wo ihre Mutter stammte. So wie Lina Galli selbst, hatte sie erste Gedichte in der Görzer Zeitschrift Squille isontine veröffentlicht. Die beiden Frauen blieben ein Leben lang eng befreundet, und als Nike 1962 starb, gab Lina in den folgenden Jahren einige Bändchen mit Nikes verstreuter Prosa heraus (und widmete ihr u.a. das schöne Gedicht „Sei fuggita“, „Du bist entflohen“).
Gemeinsam mit Nike und einer anderen Freundin, der Dichterin Maria Milcovich Oliani (deren Leben 1941 durch Selbstmord endete), nahm vor allem Lina früh am literarischen Leben der Stadt Triest teil; schon 1933 veröffentlichte sie eine Rezension von I nostri simili des jungen Schriftstellers Pier Antonio Quarantotti Gambini (geboren 1910) und wurde nicht müde, auch nach seinem Tod (1965) immer wieder die Erinnerung an den Freund, der so wie sie aus Istrien stammte und mit dem sie die Liebe zu der ‚verlorenen Heimat‘ verband, wachzuhalten.
„Du bist meine Stadt der verschwiegenen Worte/ im Netz der verlassenen Straßen/ und jener lebendigen im Getöse“ beginnt „Città-Acipelago“, das 1968 in La mia città di dolore, einer erweiterten Sammlung ihrer Triest-Gedichte, aufgenommen wurde. Eine Stadt mit vielen in sich geschlossenen Inseln und Inselchen, mit Gegensätzen, die oft hart aufeinanderprallen, mit Menschen, gefangen „in contorti conflitti“, „in verworrenen Konflikten“. Eine Stadt, die jedoch immer wieder neu ist, „mit ihrem Wind/ und den weißen Felsen mit dem Fuß im azurblauen Meer“: der Wind, das Meer, und der Himmel über Triest – das sind Tröstungen, die die Dichterin über alle Unbilden hinweg unermüdlich zu variieren weiß – selbst als sie schon in ihre letzte Jahreszeit, in den „Winter des Lebens“ eingetreten ist. Doch da war bereits eine neue Zeit angebrochen, die nicht mehr die ihre ist, in der die Generationen auseinanderdriften, „die Stimme der Menschen/ metallen geworden ist/ nur mehr Ziffern skandiert.“ Die Dichterin notiert auch den Beginn dessen, was uns erst Jahrzehnte später mit voller Wucht treffen wird, die Zerstörung der Umwelt, den Verlust von Solidarität und Empathie.
Gerade in ihren Altersgedichten hat Lina Galli einen seltenen Höhepunkt erreicht, ist ihre Sprache immer konziser, lapidarer, treffender geworden. In kleiner Auflage, aber sorgfältig editiert, erschien 1989, noch zu Lebzeiten der Dichterin, ein letztes Buch, I Sogni.[5] Darin sind 55 Traumnotizen versammelt, Fragmente aus ihrem Leben, verwandelt wiederkehrend, in poetischen Stenogrammen beschrieben: „Mein zerstörtes Haus ist noch da/ Die Fassade ist neu gemalt/ die Fensterscheiben glänzen.“ An Bilder von Giorgio de Chirico mag man bei der Lektüre von „La città“ denken, ein surreales Triest, in dem die Träumende durch antike, verlassene Straßen wandelt, in denen sich architektonische Versatzstücke „multiplizieren“, als ob die „Mauern sich selbst gezeugt hätten“.
Als ich Lina Galli im April 1992 in der Casa di Riposo Anna in der via San Lazzaro besuchte, war ich zutiefst bewegt von der Aufnahme, die sie mir dort bereitete: Obwohl ihr Leben auf wenig mehr als auf ein Bett reduziert war, das in dem Mehrbettzimmer nahe an einem Fenster stand, und ihren Blick nur mehr auf den Himmel über der belebten Piazza Goldoni frei gab, hatte sie sich auf dieser Insel ein letztes poetisches Reich eingerichtet, in dem sie, einer alterslosen Fee gleich, noch immer Gedichte schrieb. Aus diesem Reich schickte sie mir danach noch drei Gedichte über jene Orte, die ihre Schicksalsstädte waren: „Parenzo“, „Trieste“, „Venezia“; letzteres sei noch unveröffentlicht, hatte sie dazu notiert; die erste Zeile lautet(e): „Nella tua bellezza la morte.“ „In Deiner Schönheit der Tod.“ Als hätte sie vorausgesehen, dass ein außer Rand und Band geratener Tourismus eines Tages im Begriff sein würde, ‚ihr‘ Venedig zu zerstören, „sommergersi“, untergehen zu lassen.
Es wäre hoch an der Zeit, aus dem umfangreichen Nachlass von Lina Galli auch ihren Briefwechsel mit den (nicht nur inzwischen berühmten) Mitgliedern (und nicht nur) des „Archipels Triest“ herauszugeben; ihre, in so vielen Zeitungen und Zeitschriften verstreute Prosa über Persönlichkeiten und Orte in ganz Italien; und, endlich, auch einen Band mit einer Auswahl ihrer Gedichte in deutscher Sprache.
Lina Galli
Gedichte ausgewählt und übersetzt von Ilse Pollack [6]
10. Februar 1947
Finsterer Februar
gepeitscht vom Wind.
Zu jener Stunde
hörte man Schreie.
Aus den Schlünden
erhoben sich fleischlose Arme
taumelten fluchend
fluchend.
Ähnlich wie die Ermordeten
schwanken stumm die Lebenden:
zu Stein geworden jedes Gesicht.
Die Häuser atmen nicht mehr,
der Himmel ist begraben im tiefen Meer.
Erschöpft biegt ums Eck ein vorsichtiger Mensch.
Es ist ein Überlebender, und er zittert.
Esuli – Die Geflüchteten
An Bord des Schiffes, von Pola getrennt
dachten sie angstvoll an die Städte
die sie erwarteten.
Aus ihrer Heimat gerissen
die an bildschönen Küsten vorüberglitt
auf ein unbekanntes Morgen zu.
In Venedig empfängt sie ein Schwarm von Leuten
mit abweisenden Schreien, verweigert ihnen Nahrung
und in Bologna kann der Zug nicht halten
wegen der feindseligen Menge.
Die Kinder schauen verwirrt um sich.
Die Eltern können ihnen nichts mehr geben.
Das Morgen – ein Albtraum.
Die Italiener empfinden sie nicht als Brüder
sie sind Leute, die es abzuweisen gilt, Geflüchtete.
Diese betrachten alles stumm
mit weit aufgerissenen Augen
in denen die Tränen stocken.
Zum Schmerz, alles verloren zu haben
kommt dieser neue Schmerz hinzu.
Ganz leise sprichst du mit den Toten
Jetzt wehen von den Bergen
die grausamen Winde, es stöhnen die Pinien
gekrümmt über dem Meer
unter dem Dach der grauen Wolken.
Vater, weit weg, lebender und verlorener Vater,
so alt sehe ich dich und kenne nicht
dein letztes Gesicht.
Zusammengekauert in der stillen Küche
neben dem Feuer,
gegenüber dem Feuer, das dir den Frost nicht vertreibt.
Die Kälte schneidet in die gipsernen Knochen
und du wartest und wartest, und schaust doch nicht hin zur Schwelle
denn niemand wird kommen.
Dein Blick folgt dem Licht, das sich von den Dächern zurückzieht
wie in dir selbst.
Ein rötlicher Fleck auf den Hügeln
zwischen den segelnden Nebeln, und die Krähe fliegt auf.
Das ist die Saison! Erinnerst du dich wie du
die roten Bracken herbeigepfiffen hast?
Unter deinen Stiefeln knirschte fröhlich der Frost.
So stumm sehe ich dich und kenne nicht
deine letzte Stimme.
fange ein fernes Echo nur auf.
Ganz leise sprichst du mit den Toten
und zählst die Zeit:
von Weihnachten bis Ostern.
Hinter deinem weißen Nacken
schlägt die alte Pendeluhr die Stunden
eurer entwurzelten Existenzen
und immer schwerer wird das Herz
im bleiernen Strudel der Tage.
Anders ist jenes Meer
Unruhig wittert der Verbannte die Luft
und sucht nach einem verlorenen Geruch.
Wer vergisst die heiteren Segel
in der leichten Brise des Südwinds,
und das Rollen der Karren
wegelang um den Weinberg?
Wer vergisst die engen Gassen vertieft
in das Summen des Nachmittags
und auf den Schwellen das Geflüster der Alten
im violetten Feuer des Abends?
Jedes Land, jede Stadt ist fremd –
anders ist jenes Meer, anders ist jener Wind.
Wo ist mein Laut? Wo ist mein Hügel?
In Parenzo
Ich bin gekommen um zu suchen
was ich verloren habe.
In meiner Erinnerung stand es fest.
Unter unwissenden Leuten
finde ich eine Menge Schatten
und die Leere, das Meer, den Wind.
Svevo
Du kehrst zurück mit den runden, freundlichen Augen
den schwarzen, im gelblichen Gesicht.
Du trägst „Melone“ und gehst wie ein Kaufmann
durch die Straßen von Triest wo die Kutschen widerhallen.
Niemand weiß von deinem „stillen Leiden“.
In Gedanken versunken, hält dich ein verborgener Fluss
ab von den kleinen Dingen des Zufalls.
Du denkst nicht an deine Erscheinung
an dein vagabundierendes Gehen.
Bei der prächtigen Villa, dem bequemen Gefängnis
nimmst du die übliche Haltung an.
Hier ist es wichtig zu lachen, zu lachen wie Chaplin:
die Frauen erwarten dich, neugierig,
lachen vor den zerstreuten Enkeln.
Nicht einmal du weißt in deiner Doppelbödigkeit
was die Wahrheit ist.
Gierig umklammerst du die Zigarette
gestattest dir ein Nickerchen.
Du rauchst, rauchst und verbrennst dich innerlich.
„Die letzte“ bettelst du, bevor du stirbst.
So sehr hast du den Tod gefürchtet, und dann kam er still und sanft.
„Weine nicht, Letizia, sterben ist gar nichts.“
Noch immer schmerzten die langen Jahre des Schweigens.
Die Geige, ach, ein Komplize!
Ein grausames Schweigen hattest du dir auferlegt
und dich verletzt.
Straßen bei Nacht
Auf Bürgersteigen gehe ich
über die müden Abfälle des Tages.
Der Nacht fehlt der Atem des Geheimnisses
das mich mit dem verlassenen Meer verband.
Ich suche es an den Ufern wo traurig sind
die Augen der Kinder gerichtet auf ein Meer
das dicht wie Pech nicht zu atmen scheint.
Ach, könnte ich die Traurigkeit ändern
den Himmel des Exils in schwarzer Nacht.
Tagsüber täusche ich mir einen Bodensatz an Beschäftigungen vor
während meine Träume ins Schleudern geraten.
*
Immer neu bist du mit deinem Wind
und den weißen Felsen mit einem Fuß im Blau.
Freudenspenderin scheinst du zu sein jedoch
wirbelst du ständig aufrührerische Seelen durcheinander.
Der Winter des Lebens
Die tiefsten Gedanken
nehmen mich nicht an der Hand.
Schläfrig hänge ich
ein müdes Blatt am Zweig.
Ein Rest in der irdischen Zeit.
Ein Schritt, der sich entfernt.
Nichts reißt mich aus dem Fluss der Dinge
keine Erinnerung an mein heimliches Brodeln.
Nur im Traum gehe ich ständig
steige Stufen, steile Pfade
wohin weiß ich nicht.
Ist das der Winter des Lebens?
Und doch gibt es immer noch
das endlose Lauschen.
Im Traum
Sie kommen im Traum
die vergessenen Tage.
Aus dem Unbewussten blühen sie wieder auf
die verlorenen Geschöpfe,
die verletzten Augenblicke, die unmöglichen Erwartungen,
die verbotenen Vereinigungen.
Aus einem Durchgang schießen Forderungen,
Blicke von Verdammnis, von enttäuschter Liebe.
Die Verschwundenen tauchen auf
in verwandelten Häusern, in unbekannten Landschaften
auf steilen Stufen, wir suchen sie
auf einstürzenden Korridoren.
Im Traum erfüllt sich
was uns nicht gewährt worden ist.
Unaufhörlich sickern sie durch
diese Erinnerungen, verborgen
im vermeintlichen Leben.
Zwei sind wir in einem.
Verlangen
Diese herabstürzende Lawine
ach, sie aufhalten können!
Wie ein Geizhals die Münzen zählt
festhalten können die verbleibenden Tage.
Ein Wort
Ein Wort:
„Tod“
und ich werde nichts als geträumt haben.
Ilse Pollack
Anmerkungen
[1] Mit dem italienischen Wort Foibe, abgel. von lat. Fovea, fossa, werden unzugängliche Höhlen im Karst bezeichnet. Der Begriff Foibe-Massaker bezeichnet brutale Kriegsverbrechen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg von jugoslawischen Partisanen an Italienern aus Rache verübt wurden, v.a. in den istrischen und dalmatinischen Küstengebieten. Vgl. dazu z.B. Cristin, Renato Hg. 2007, Die Foibe. Vom politischen Schweigen zur historischen Wahrheit/Foibe. Dal silenzio politico alla verità storica. Berlin u.a.: LIT.
[2] Nur wenige Orte wie das istrische Aurania/Vranja haben durch die Operationen der Partisanen Gewalt und Hinrichtungen erlitten, so betont Dario Alberti 1997 in seiner Monographie Istria. Storia, arte, cultura. Trieste: Lint.
[3] Daniela Picamus, bei der ich mich für die elektronische Übermittlung ihres 2014 publizierten Textes bedanke: La stesura di Lina Galli di ‚Vita di mio marito‘ di Livia Veneziani Svevo. In: Giorgio Baroni/Cristina Benussi Hg., L’esodo giuliano-dalmata nella letteratura. Atti del Convegno internazionale. Trieste, 28 febbraio-1 marzo 2013. Pisa/Roma: Fabrizio Serra Editore, 103-109.
[4] Der in Triest geborene und in Klagenfurt gestorbene Schriftsteller Piero Rismondo (1905-89) hatte bereits 1929 seine Übersetzung von Zeno Cosini publiziert; Senilità wurde in seiner Übersetzung unter dem Titel Ein Mann wird älter im Jahr 2000 im Wagenbach Verlag veröffentlicht.
[5] Galli, Lina 1989, I Sogni. Trieste: Edizioni Triestepress (mit einem Porträt der Dichterin von Marcello Mascherini und einem Vorwort von Licio Damiani).
[6] Die Gedichte stammen aus folgenden Lyrikbänden von Lina Galli: „10. Februar 1947“, „Esuli“, „Ganz leise sprichst du mit den Toten“, „Anders ist jenes Meer“. Aus: Notte sull’Istria. Poesie. Pola: L’Arena di Pola, 1958. „In Parenzo“. Aus: Eppure ancora un mattino. Padova: Rebellato Editore, 1973. „Svevo“, „Straßen bei Nacht“. Aus: Mia città di dolore. Poesie. Trieste: Società artistico letteraria, 1968. „Der Winter des Lebens“, „Im Traum“, „Verlangen“, „Ein Wort“. Aus: Il tempo perduto. Milano: Istituto propaganda libraria, 1986.