Bruxelles, Musée Fin-de-Siècle.

L‘homme en Rouge war ihr Lieblingsbild. Helles Rot, geparkt auf einem schlanken männlichen Leib, der seine Bewegungen zu koordinieren wusste, den dünnen Schnurrbart zwirbelte. Glitzernde Edelsteine perlten an seinen Fingern, die Stimme hatte den warmen Schokolade-Klang von Cellosaiten. Dass so ein Mann die Frauen liebte, war ein Geschenk, das Esther sich bei der nächsten Gelegenheit abholen wollte. Sagte sie sich. Grüne Salatrüschen wanden sich über ockerfarbenen Käsescheiben und geeister Schaumwein wurde herum gereicht.

Wie im Traum, aus der Zukunft kommend, denkt sie:

Ich will bei ihm bleiben.
Ich bin neugierig.
Das Gefühl ist anziehend.
Nichts stellt sich ihm in den Weg.
Ich lächle das süßeste, kirschrote Lächeln,
stoße mit dem Glas gegen seinen Anzug,
an seine Brust, genau dort,
wo sich das Herz befindet.

„du bist nicht aus dem Barock, du passt nicht zu Rubens, deine Taille ist geschnürt, aber das will ich nicht sehen.“

Ein Bleicher mit grüner Haarsträhne am Hinterkopf gesellt sich zu Esther, und da er merkt, wie sehr sie sich für den Herren im roten Anzug interessiert, spricht er sie ungeniert an. „Die Dame des Salons hat sich mit ihrem Mann gestritten, er redet nicht mit ihr,  und sie isst nun seit drei Tagen nur noch Brot mit dünner Margarine.“

„Eine Verschwendung, bei so einem hübschen Menschen.“

Wo, zum Teufel, blieb in der Gegenwart das Mystische? Es verbarg sich in Spaziergängen, in ihnen lag die Lösung. Wer jedoch in karger Erde grub, würde niemals fündig werden.

„Wissen Sie, wer der Mann dort am Büffet bei den Pralinen ist? Es ist Henry van de Velde. Einer der größten Designer unserer Zeit. Er hat die neue Kunst geprägt.“ „Oh“, macht Esther, senkt die Hand. Blass hält sie den Kelch mit dem kirschroten Bier. „Van de Velde. Mein Gott.“

Erinnerung an Tavira

Nichts gleicht den Stränden im Winter, dem Licht am Wasser, auf hellem Sand. Die kleine Stadt hinter dem Meer, mit ihren weißen Mauern. Dem Platz hinter der Brücke. Cafés und dunkle Arkaden, unter denen das Wort pulsiert. Geschriebenes Wort aus der Zeitung, den Medien, kehlig diskutiert.

In den Menschen ist Zeit, sie hat sich angesammelt in ihnen, wie nutzlos stehen sie herum. Sind einfach da. Geben den Mauern, den Straßen Halt.

Prinzessinnen rennen durch die Straße, Jungen mit Konfetti und knallenden Revolvern, auf der anderen Flußseite. Am Ortsrand. Vom Himmel die Flut aus Licht. S. zeigt mir die weißgekalkten Kirchen, die Ruine eines Kastells. Der Blick über die weiße Stadt, in der Ferne die Linie Meer. Gezogen wie mit dem Lineal. S. ist schon im nächsten Ort, am nächsten Strand. Wir sitzen auf Stühlen vor der Lagune, ein Boot rührt das Wasser auf. Hell leuchtet das Kiosk, wie die Zähne der Frau an der Bar, die den Kaffee bringt.

Es ist möglich, im Auto zu schlafen, hoch über der Stadt. Lila und rote Blüten wachsen über den Duschen, das Wasser läuft kalt.

Der Strand dehnt sich wie Wüste, hell, er scheint endlos. Da ist der Balken aus Wasser, das Blau einer Waage, ins Lot gebracht. Hotelburgen erheben sich fern, am Horizont, weiß auch sie. Abendlich nur das Leuchten.

S. bleibt am Strand, ich fahre zurück in den Ort. Sehe die alten Dächer auf der anderen Flußseite wieder, den Karren, vom Esel gezogen. Die Menschen sind mißtrauisch, die alten Frauen. Die Kinder werden vor mir entfernt, als nähere sich der Leibhaftige. Hinter Greisin und Kind schließt sich die Tür, fällt geräuschvoll ins Schloß.

Der Tag wird aus Licht geboren, aus einem Brunnen aus Zeit. Er steigt herauf, lange, bis die Sonne, unsichtbar, im Zenit steht.

Was ist Poesie

Poesie ist,
wenn ich spüre, was alles durch dich
hindurchschwingt - während du mich
ansiehst und vom Himmel sprichst
und versicherst, hoch hinauf
und tief hinunter bedeute das selbe
und dazwischen
wir stattfinden

Im Netzwerk all dessen was in uns
und hinter uns liegt - verwoben in die
Textur der Zeit, der kommenden und
der vergangenen - und sich bündelt
wenn du sagst - ich sehe dich - 
meine Hand in deiner

Je. Onegin: Kapitel eins, achte Strophe

Und was Jewgeni sonst noch wusste
Zu sagen, hat gar keinen Sinn;
Was sicherer er als alles Wissen wusste,
Was sein Elyseum war, so wie ich Tabor bin,
Was Mühe, Schweiß und sogar Freude war –
Wie Fetzchen Glück inmitten eines Schwermutsanfalles so klar –
Wenn er im leeren Zimmer saß den ganzen Tag
Und grübelte: Ach pfui! Ob sie mich wirklich mag?
Das war die Wissenschaft der sanften Leidenschaft,
Welche Ovid besungen, die ihn alles kostete,
Was je ein Mensch verschenkt‘, der niemals rostete,
Weil’s Leben ein Martyrium war, das Glück erschafft
Inmitten endlos weiter Steppe – in Moldawien,
Fernab der heißgeliebten Heimat, von Italien.

Reden : immerhin

für M. C. und M. S.

Die Melancholie : nachdem die Gäste

Gegangen sind : die Kinder

Haben sich abgetrocknet

Und harren auf ihren Sitzen

Im Auto der Abfahrt : auf dem Tisch

Die Reste : der Abwasch

Stille

Ich bleibe mit der Katze allein

Im Garten und den ungezählten

Anderen Tierchen : die sich

In den Ritzen angesiedelt haben

Ich bin allein mit meinen alten

Chinesen und genieße

Die Stille

Und weine : Vater und Sohn

Bilden keine Bastion : nur Träume

Wir können reden : immerhin

Von den Vertreibungen

Vom gestundeten Paradies

Von der Hülle : der Fülle

Und von der Stille

Featuring : Heinz-Joachim Heydorn : Gedichtzyklus aus dem Nachlaß

Yang-Kuei-Fei

Flötenspiel
und verhallender
Trommelschlag

Lärmende Feste
ersterben in der Nacht –

Du aber hast sie verlassen –
Tschangans nächtliche Gassen
und der Paläste
lichtüberflutete
Drachensäle

Und die Stille
der Gärten
umfängt Dich

Noch hörst Du die Stimme
das heisere Rufen
des trunkenen Kaisers –
Taumel und Schrei

(Wie ihn Dein lüsterndes
Lächeln verwundet)

Rabenkrächzen
zerreißt
die Nacht

Zu Deinen Füßen
verflammende
Blüten

Bald
wird es
Winter sein –

Hinter träumenden Lidern
siehst Du den Tod –
den Erwartenden

Und Deine schmalen Augenbrauen
zittern

*

Featuring : Poesie oder Prosa

Wenn wir als Vögel in himmlischen Lüften
wiedergeboren, entschweben den Grüften,
entfliehen dem engenden Erdenringe,
soll jedem von uns nur eine Schwinge –
ein Fittich nur beschieden sein,
auf daß wir ewig fliegen zu zwein.

Wenn wir aus dem Grabe zum Lichte steigen
als Pflanzen, so wollen wir mit Ästen und Zweigen
einander umflechten, umarmen, umringen,
untrennbar für immer, für ewig umschlingen.

(„Lied von unsterblicher Liebe und Sehnsucht“, dt. Ernst Schwarz)

*

Weiter ging es auf unserem Wanderweg zum Edelsteinfluß von Noda [FN 168] und zum berühmten „Stein im Meer“ [FN 169]. Auf dem kleinen Berg, der Sue no Matsuyama hieß, hatte man einen Tempel gebaut, der Mashshozan [FN 170] benannt wurde. Ringsum zwischen den Kiefernstämmen sahen wir überall Gräber und es durchfuhr mich unwillkürlich der Gedanke an all die Liebesschwüre und was von ihnen geblieben ist: an den „Doppelvogel mit gemeinsamen Schwingen“ oder an die „Zwei Bäume mit ihrem ineinandergewachsenen Stamm“ [FN 171]. Es nimmt eben alles ein Ende – und ich empfand hierüber Trauer, in die ich mich hineinverlor.

(„Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“, dt. G.S. Dombrady)

Herren mit Niveau

„Sie sind nicht berechenbar, aber immer noch viel zu gut, um gekündigt zu werden. Das wissen Sie, und deshalb starten Sie von vorn und erwarten Sie das nächste freundliche Angebot.“

Eine rhythmisch behaarte Männerhand legte drei Münzen auf das Tablett und jemand ihr gegenüber am Tisch verneigte sich altmodisch. Im Funkeln der Lüster fühlte sie sich genarrt. So ein Taschentrickspieler. Dicke Brillengläser und schwarzer Rollkragenpullover und so ein musternder, versierter Blick. Ein Alter mit einem jungen Gesicht, gegenüber ein Blonder, die beiden sahen aus wie die Schachbrettkekse, die man zur Adventszeit überall kaufen konnte. Herren beim Abendessen, sicher eine Homoannonce, dachte sie bissig. Herren mit Niveau.

Nichts wie Morgen

Starre mich selbst nieder
Während das ewig selbe 
Haus vis-á-vis im
Kaisergelb den Himmel
Ausbeutelt.
Das Vertrauen erschüttert
Im Traum Räume betreten wo
Möbel in zimmermittiger Berghülle wie vorm Ausmalen
Mir Kahlheit und Fragen ins Erwachen legten.
Beim Kaffee dann mit Oma geredet
Bist wieder jung sag ich. Bei allen Lieben
Es gibt keinen Krieg.
Der Radio rauscht
Treibt den Faradayschen Käfig durchs Unwetter
Die Sonne kommt raus. Die Nase läuft
Die Zigarette schmeckt
Das Bahnsignal diffundiert durch
Samstag-Mittag-Sirene.

Samt und Cotton

Sie haben sich den Schal heruntergerissen, dann geraucht. Aber weshalb die Grauen? Wissen Sie denn nicht, dass die voller Teer sind? Gerade die Grauen, und Sie, Sie mit ihren gezierten Worten über gesunde Ernährung und rauchfreie Zonen, greifen zu diesem Ascheton. Die Braunen sind aber noch schwerer und voller Stickoxyde. Da mögen Sie Recht haben. Das sind eben die Braunen. Bei Braun, da denke ich an Kaffee, Kakao, Einspänner, braune Stutzer und braune Schäker, auf jeden Fall: an Zügelloses. Aber die Grauen.

Alles gritzegrau im Leben, meinen Sie wohl, warum sollte es im Rauchen anders sein? Und nun schlucken Sie schön einen Löffel braunen, cremigen Hustensaft. Den mit dem Opium. Der macht Sie entspannt. Entspannt sind Sie? Wie Sie so daliegen, glaube ich Ihnen das fast. Heißt Ihre Zigarette etwa nach der Freundin, die Ihnen den Mantel, den Sie da tragen und der Sie nicht wärmt – den Schal haben Sie sich heruntergerissen. Und Sie ziehen sich Sachen an, in Samt und Cotton, Stiefel, die Ihnen nicht gehören, nur um ein anderes Lebensgefühl zu kosten? Geben Sie mir Ihre Hand, Madame. Immer das Rauchen. Ich rate Ihnen zu den Zigaretten, die Ihre Freundin raucht, die Freundin, in deren Mantel Sie sich räkeln, die Ihnen die Sachen geliehen hat, die Sie da anhaben. Sie raucht Chateau. Die mit dem Himmelsschlösschen. Mit denen sie Figürlein pusten kann. Die Blauen. Chateau raucht man gern mal gegen zwei Uhr nachts, die sind so leicht, dass Ihre Lunge aufatmet.

Glitter oder sempre en vogue

Du erfuhrst es Tausendschönchen

Hände über letternbeschriebenem

Blatt in deinem ockern anthrazitfarbenen

Antlitz spiegelt sich die Welt der Seidenen

samtene Tellerchen spielst du, hölzern

auf Decke aus Lein aus Gesticktem

auf dem Staubweg der gesäumten Geraden

pulsierend sempre en vogue

Liefst du dann auf Bogenhaaren

auf Saiten. Barfuß die Rillen

unter den Fingerkuppen

auf dem auseinandergezogenen

Fächer der abblätternde Lack.

Abschied

Als du fortgegangen warst,

stürzten die Meere in die Tiefe.

Ich fühlte die Leere, die

auch Briefe nicht schreiben.

Ich liebte dich wie die

Musik, als du mich umgabst.

Ich lieb dich wie gestern,

als du neben mir lagst,

als du zu mir kamst,

deine Hände mich umgaben,

mich ohnmächtig an dich

schmiegten, benommen

von soviel Glück, soviel

Nähe, dass ich wie eine

Krähe, meinen rauen Schrei

ausstieß, um dich zu halten.

Daher : eine Katze

Poesie ist keine Lebensform

Poesie ist Rückzug vom Leben

Selbstgespräch mit Gott

Sprachspiel gegen sich selbst

Poesie ist eine Illusion

Poesie ist eine Illustration

Draußen zerkratzen die Häuser

Wolken : lautstark

Wie leise kommt die Poesie

Daher : eine Katze

Die sich allein nicht ernähren kann

Irgendjemand gibt ihr Futter

Noch rankt sich kein Wein

An den entvölkerten Türmen

Empor : noch stürzen

Die Flugzeuge ab : wer

Spendet Trost : die Priester

Bedienen sich der Poesie

Um den Kult zu erneuern

Und selig zu sterben

Im Menschenkloster

Das sie gründen

Für Abtrünnige 

Gefallen aus der Kirche

Poesie führt sie im Garten

Zusammen : Poesie

Trennt und vereint

Sie des Nachts

Featuring : Puschkin : Onegin LX (1)

gunteru ennovicu

Noch dachte ich übers Konzept nach und wie den Helden nennen; schon hatte ich meines Romans ersten Teil beendet; las streng Korrektur: der Widersprüche sehr viele, möchte sie aber nicht ausmerzen.

Werde der Zensur mein Pflichtteil entrichten und den Journalisten zur Beurteilung die Früchte meiner Arbeit übergeben: so geh‘ denn hin gen Ufer der Newá, mein neugebor’nes Werk,

Und hole heim des Ruhms Geschenk:

Expertenmeinung, Krach, Gezänk!

27.07.2023

Mondlicht, Echsenhaut schuppig

Mit feingliedriger Hand malst du Rosen

an eine Wand, die sich winden, berührst

die weichen Rinden, die Lorbeerblätter,

die Stängel aus grünem Samt, tanzt du

tanzt mit Frauen, die süß dich umgarnen.

Irrlicht auf fremden Wegen, läufst du,

Engelsgesicht, durch Gefilde,

Regen fällt lau auf dein Haar, benetzt es

mit glänzendem Perlentau.

Ersteigst Stufen du, die im flimmernden

Sonnenglanz, vorbeiziehende Figuren,

auf Stein, auf Fels auf teergebranntem

Asphalt erschien plötzlich das smaragdfarbene

Bein einer Echse, deren Schuppenhaut

schon Mond ist. Puppe geh vorbei,

oder bleib noch und schreib die Worte

auf, die ich sage …

Auf allen Pfaden

lass uns uns verirren
in den wirren der irren
irre sind wir nacheinander
durcheinander auch
lege dir den gurt gut an
schnüre dir den faden um
bevor wir losgehen
in die irre
in der irre wird es bunt
und laut
kostbarkeiten tauchen auf
am wegesrand
hoffentlich auch ein papierkorb
dahinein alle verzettelungen
die um uns herumfliegen
und uns von der irre ablenken
oder hineinführen
halte mich an dir
an deiner hand
an deiner brust
an der ich dich kraule
mir den mut ins herz
für die irrungen und wirrungen

der offenen himmel lacht über uns
als er uns so stolpern sieht
übereinander über deine, über meine füße

sie tragen uns mit voller wucht
die lampen fallen uns aus der hand
doch im dunkeln wartet die geborgenheit auf uns
da sind wir einzig und in aller klarheit
zusammen ganz.

Die Welt / ein Märchen ?

in jeder Geschichte
muss jeder
seinen Weg finden & gehen
selbst wenn er nur für sich selbst
die Hauptrolle einnimmt
und nicht in einem Baumzweig
ein Zauberstab schlummert
oder einen jedes Schwein
auf den Rücken nimmt
um über einen Fluss zu bringen.

oder war das ein Fuchs?
oder gar ein Pfannenkuchen?
ich weiß es nicht
ich hab damals abgelehnt –
auf meiner Seite des Flusses.

Aus : Die fünf Minuten des Isaak Babel

Jiddisches Erbe kommt herein, der tiefe Witz ostjüdischer Schwänke, die Diesseitigkeit der chassidischen Lehre, die Weisheit der alten hebräischen Bücher. Vom Großvater Levi Jizchok wird in der Novelle gesagt, er schreibe an einem Manuskript – dem „Mann ohne Kopf“. Wie das Buch geschildert ist, erinnert es an die Geschichten der Schalom Asch, Mendele Mojcher Sforim und Jizchok Lejb Perez. Und natürlich an Scholem Alejchem, mit dessen russischer Herausgabe Babel 1925/26 und dann wieder 1936 beauftragt war. Am 2. Dezember 1938 schreibt er anläßlich einer Inszenierung von „Tewje, der Milchhändler“, er verspüre selbst Lust, ein Stück daraus zu übersetzen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß der Erzähler in der „Reiterarmee“, Kirill Ljutow, in der Novelle „Der Rabbi“, befragt, womit der Jude sich beschäftige, antwortet: „Ich setze die Abenteuer des Hersch Ostropoler in Verse.“ Das läßt an Babels geplanten Herschele-Zyklus denken, aus dem 1918 in Petrograd „Schabos-Nahmeh“ erschien. Hersch Ostropoler war so etwas wie ein ostjüdischer Eulenspiegel, der lange Zeit am Hofe des ukrainischen chassidischen Rabbi Baruch aus Tuldzyn lebte und den gemütskranken Zaddik mit witzigen Einfällen erheiterte. Eine berühmte Sammlung der Geschichten vom Hersch stammt von Chajim Bloch.

Sechs Jahre bevor Babel seinen Erzähler von den „Stürmen der Phantasie“ sprechen läßt, klagt er (1918) : „In meinem Charakter liegt ein unerträglicher Zug zur Besessenheit und unrealen Haltung gegenüber der Wirklichkeit.“ Das sei zu überwinden. Die „Stürme der Phantasie“ zu bändigen und doch nicht zu dämpfen, sie zu beherrschen, das verhieß, die Wahrheit schonungslos und schön sagen zu können. „Ein Vergleich muß genau sein wie ein Rechenschieber und natürlich wie der Geruch des Dills“, sagte Babel 1921 zu Paustowski. Die Geschichte seiner Vorbilder ist die Geschichte der Disziplinierung seiner Prosa. Babel liebte Puschkin, Tschechow, Maupassant. Kiplings „eiserne Prosa“. Gorkis Novelle „Nach Hause“ aus dem Zyklus „Wanderungen durch Rußland“. Tolstois „Hadschi Murat“.

„Als ich ‚Hadschi Murat‘ wieder las“, sagte er 1937, „dachte ich, hier mußt du lernen. Hier ging ein Strom aus der Erde direkt in die Hand, direkt auf das Papier, ohne jede Wand, riß mit dem Wissen der Wahrheit alle Hüllen schonungslos herunter, doch diese Wahrheit trug, sobald sie sichtbar wurde, leichte und schöne Kleider.“ So sollten seine Geschichten sein: Voller heidnischer Lust, unmäßig wie das Leben, fabuliert, doch auf den Punkt genau überlegt. „Kein Eisen dringt glühender ins menschliche Herz als ein zur rechten Zeit gesetzter Punkt“, heißt es in „Guy de Maupassant“. Die Novelle war da gerade recht. Babel bezog sich später auf Goethes bekannte Definition. Aber das war eher eine Aushilfe. Babel erneuerte die Novelle in einer Weise wie wenige vor ihm. Boccaccio und Maupassant, Turgenew und Tschechow waren bei ihm aufgehoben – und neu entdeckt. Auch dem Novellenzyklus forderte er Neues ab. Es war, wie Tolstoi fünfzig Jahre zuvor formuliert hatte: „Angefangen bei Gogols ‚Toten Seelen‘ bis hin zu Dostojewskis ‚Totenhaus‘ gibt es in der neuen Periode der russischen Literatur nicht ein einziges Prosawerk, das nicht ein wenig über die Mittelmäßigkeit hinausginge, die in der Form des Romans, des Poems oder der Erzählung völlig Platz gefunden hätte.“

Man hat sich einen Text von der sprachlichen Dichte der Prosa Johannes Bobrowskis vorzustellen. Auch an den Iren Synge ist einmal erinnert worden. Ein englischer Kritiker verglich 1928 die „in natürlichen Rhythmen gebrachte urwüchsige Volkssprache“ der Novellen „Salz“ und „Ein Brief“ mit Synges Sprache im Stück „Ein Held der westlichen Welt“. Was Babel leistete, wird aus einer Gegenüberstellung deutlich. In Larissa Reisners „Front“ heißt es: „Einer hält eine Rede – ach, eine Rede hält er, eine ungestüme, von Fehlern strotzende, grobe Rede, die noch vor einer Woche nur ein schiefes Lächeln geerntet hätte – doch der Kapitän ersten Ranges hört sie mit klopfendem Herzen, mit fliegenden Händen, und fürchtet sich einzugestehen, daß das Rußland dieser Weiber, Deserteure und Grünschnäbel, das Rußland des Agitators Abram, der Mushiks und der Sowjets, daß das sein Rußland ist, für das er gekämpft hat und immer kämpfen wird, ohne Furcht vor Läusen, Hunger und Fehlern; noch weiß er nicht, noch fühlt er es nur, daß hier allein das Recht, das Leben, die Zukunft ist.“

So eine Stelle ist bei Babel undenkbar. Bei Babel stehen diese „Reden“ da, die Larissa Reisner beschreibt: als Brief, als Beschwerde, als Augenzeugenbericht, als Lebensbeschreibung, Ansprache, Dialog. Babel läßt die historischen Subjekte selbst auf ihre Taten sehen. Haltungen werden nicht auktorial erläutert, sondern in ihrer sprachlichen Evidenz festgehalten. Babel arbeitet oft mit dem Denksystem, mit der Sprache seiner Helden, ohne korrigierend einzugreifen, ohne andererseits die Begrenztheit dieses Systems zu überdecken. Im Russischen heißt es „Skas“. Bei uns spricht man von personalem Erzählen. Wichtig ist ihm die Gelegenheit, durch eine Anstrengung des Gewöhnlichen das Außerordentliche zu erforschen.

Der Unterschied zwischen dem zitierten Brief des Kosaken Samuil Fjodorowitsch Schadrin und den Briefen in „Ein Brief“, „Die Sonne Italien“, „Die Geschichte eines Pferdes“, „Salz“, „Fortsetzung der Geschichte eines Pferdes“ oder „Der Verrat“ besteht in der differierenden semantischen Funktion der Texte und ihrer Elemente. In „Der Verrat“ schreibt ein Kavallerist: „… wie Feuer brennt die Seele und sprengt das Gefängnis unseres Körpers.“ Es korrespondiert nicht zufällig mit dem Bekenntnis des Erzählers Ljutow, „dessen uralten Leib die Stürme der Phantasie fast sprengen.“ Die Struktur der „Reiterarmee“ baut mit dieser Energie: mit dem Vorgefühl und der Vorwegnahme einer „vollständigen Emanzipierung aller menschlichen Sinne und Eigenschaften“. Die Glückssuche der „Reiterarmee“ ist nur so zu verstehen. So auch der Ernst, mit dem in „Die Geschichte eines Pferdes“ und „Fortsetzung der Geschichte eines Pferdes“ um ein Pferd gekämpft wird: „Die Kommunistische Partei ist, soviel ich verstehe, zur Freude aller und zur Errichtung einer unbedingten, uneingeschränkten Gerechtigkeit gegründet worden und muß sich auch um die kleinen Leute kümmern. Nun möchte ich den Schimmelhengst erwähnen, welchen ich den unverbesserlichen, konterrevolutionären Bauern abgejagt habe und der dazumal ganz armselig ausgesehen hat; viele Genossen haben ungeniert darüber gelacht. Ich aber hatte die Kraft, ihr boshaftes Gelächter zu ertragen, und habe mit zusammengebissenen Zähnen den Hengst für unsere gemeinsame Sache bis zur gewünschten Veränderung gepflegt, weil ich, Genossen, ein Liebhaber weißer Pferde bin und sie mit den letzten Kräften pflege, die mir nach dem imperialistischen Krieg und dem Bürgerkrieg geblieben sind.“ Und nur so versteht sich jener vielfach mißdeutete Satz Ljutows über seinen Freund Chlebnikow: „… uns beide verzehrten die gleichen Leidenschaften. Wir blickten auf die Welt wie auf eine Wiese im Mai, eine Wiese voller Frauen und Pferde.“ Babel besänftigte nicht das Pathos durch die Ironie des Beobachters, wie gelegentlich behauptet wird, er überwindet die Ironie durch das Pathos der neuen Realität.

Die Sprache modelliert, noch bevor sie zum Baustoff der Literatur wird, in komplizierter Form die Vorstellungen von den Beziehungen der Phänomene im Leben. Sie enthält, was die Arbeit des menschlichen Bewußtseins eintrug, darunter auch, was aus früheren literarischen Strukturen in sie einging. Der Dichter arbeitet also gegen den Widerstand seines Materials. Der künstlerische Effekt seiner Arbeit ist immer ein Bündel von Verhältnissen, das etwa umfaßt: das Verhältnis des neuen Texts zu den ästhetischen Normen seiner Zeit, zu den gängigen Gattungsvorstellungen, zum Sujetbegriff, zur Erwartung des Lesers, die Verhältnisse innerhalb des Texts, also das Verhältnis des Erzählers mit fiktivem Persönlichkeitswert zur realen Persönlichkeit des Autors, das Verhältnis der verschiedenen Stilebenen zueinander usw. Johannes Bobrowski formulierte das einmal sehr deutlich in einem Interview von 1965 : „Ich fürchte eine gewisse Stagnation in der Entwicklung, wenn wir in dem bisherigen Literaturdeutsch bleiben. Und ich habe mich bemüht, volkstümliche Redewendungen, sehr handliche Redewendungen, eben volkstümliches Sprechen bis zum Jargon, mit einzubeziehen, um die Sprache ein bißchen lockerer, ein bißchen farbiger und lebendiger zu halten. Außerdem geht das auch auf die Syntax. Ich bemühe mich um verkürzte Satzformen, um im Deutschen nicht sehr gebräuchliche Konstruktionen, die alle etwas Handliches haben.“ Bobrowski hat vom personalen Erzählen viel gehalten, und nicht zufällig imponierte ihm eine von Babels Tagebuchnotizen so, daß er sie als vorletzten Absatz in „Ich will fortgehn“ hereinnahm. Es ist: „Djakow kommt. Das Gespräch ist kurz: Für dieses Pferd kannst du fünfzehntausend bekommen, für jenes zwanzig. Wenn es aufsteht, dann ist es ein Pferd.“ Babel verwandte die gleiche Notiz in der Novelle „Der Chef der Kavalleriereserve“.

Die Sprachmischungen der „Reiterarmee“ sind so kompliziert wie in Bloks „Zwölf“ oder Majakowskis „Gut und schön“. Es ist keineswegs damit getan, die Herkunft der einzelnen Elemente zu benennen: Bauernrussisch, Militärjargon, Revolutionsvokabular, chassidische Beredsamkeit. Stilbildend ist das Nebeneinander und Gegeneinander der Polaritäten, die wechselnde Vereinigung des vorher Unvereinbaren. Und die polemische Korrespondenz dieses Verfahrens zur vorliegenden Literatursprache. Die Übersetzung muß vieles unterschlagen. Der stilistischen Funktion regelwidriger Grammatik in den „Briefen“, der Volksetymologien, des Nebeneinanders von Amtssprache, revolutionärer Losung und Dialekt, der Ukrainismen und Hebraismen kann die andere Sprache nur selten gerecht werden. Aber das sind die üblichen Verluste. Die Spannungen, die die Worte, Sätze, Absätze und Novellen zusammenhalten, sind durchaus zu reproduzieren. Freilich bleibt das schwer. Denn: „Ein Satz wird geboren – schön und häßlich zugleich. Das Geheimnis besteht in der kaum spürbaren Umstellung. Der Hebel muß gut in der Hand liegen und warm werden. Umstellen muß man in einem Zug, nicht in mehreren.“ „Berestetschko“ bietet sich als Beispiel an.

Die Novelle heißt so nach dem polnisch-russischen Grenzstädtchen und beginnt, wie fast alle Novellen, mit der Information über einen Ortswechsel: „Wir zogen von Chotin nach Berestetschko.“ Das schafft, wie die zusätzliche Datierung und geographische Festlegung von zwölf Novellen am Schluß des Texts (zum Beispiel „Bei Sankt Valentin“ mit „Berestetschko, August 1920“) jene „Authentizität“, die Babel für den Aufbau seiner Struktur brauchte: Sie gehört zum System der semantischen Steigerung der Autentica wie „Brief“, „Beschwerde“, „Ansprache“ und „Lebensbeschreibung“, in denen Fiktion das Dokument „dokumentarischer“ macht. In diesem Sinn ist Gorki zu verstehen, wenn er schreibt: „Wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie, hoffe ich, Babel zustimmen, weil die Soldaten seiner ‚Reiterarmee‘ mehr Menschen sind als die Soldaten Budjonnys.“

„Wir zogen von Chotin nach Berestetschko.“ Das ständige Unterwegssein der 1. Reiterarmee kann gefaßt werden: „Nowograd-Wolynsk, Juli 1920“, „Belew, Juli 1920“, „Brody, August 1920“ usw. (wobei zu bemerken ist, daß Babel diese „Chronologie“ nicht wahrt.) Und: „Ich schlage mich nach Leszniów durch…“, „Gestern abend nahm unsere Division Berestetschko“, „Die 6. Division hatte sich im Wald beim Dorf Tschesniki gesammelt…“ usw. Der große Bilderbogen, die sinnliche Gleichzeitigkeit, an den Bauernbreughel erinnernd, Babels Struktur ohne Mitte, nach allen Seiten offen – gibt eine Entsprechung für diesen technisch wie sozial und historisch dynamischen Teil der jungen Roten Armee.

„Berestetschko“ rückt die Zeiten zusammen: Auf den tausendjährigen Grabhügeln verstümmelte Leichen. Am Grabe Bogdan Chmelnizkis das Lied der Bauern von vergangenem Kosakenruhm. Die jahrhundertealte Tradition einer dürftigen Architektur. „Der Ort stank in Erwartung einer neuen Ära…“ Das verlassene Schloß des einstigen Herrschers über Berestetschko und die Rede Winogradows über den Zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale und der französische Brief von 1820: „Berestetschko, 1820. Paul, mein Geliebter, man sagt, Kaiser Napoleon sei tot, ist das wahr? Ich fühle mich wohl, die Niederkunft ist leicht gewesen, unser kleiner Held wird schon bald sieben Wochen alt.“ „Berestetschko“ schließt: „Und unten ertönt noch immer die Stimme des Kriegskommissars. Voll Leidenschaft überzeugt er die staunenden Kleinbürger und die ausgeplünderten Juden: ‚Ihr seid die Macht. Alles, was hier ist, gehört euch. Es gibt keine Pans mehr. Ich schreite zur Wahl des Revolutionskomitees…'“

Neue Räume tun sich auf. Es ist eine Prosa der weiten Perspektive. Babels fünf Minuten beherbergen die Welt. Der Banduraspieler, der von vergangenem Ruhm singt, der Kosak, der tötet, Winogradow, der die Zukunft für angebrochen erklärt, der Kleinbürger, der staunt, Ljutow, der einen Brief von 1820 findet – sie stehen in der Geschichte. Das ist freilich keine Geschichtlichkeit quantitativer Art. Es gibt bei Babel keine Schlacht von Waterloo oder Borodino. Das ist ihm seinerzeit vorgeworfen worden. Schlachten sind bei Babel entweder vorbei („Gestern abend nahm unsere Division Berestetschko“, beginnt „Bei Sankt Valentin“) oder noch voraus („Und auf das Zeichen des Divisionschefs begannen wir die Attacke, die unvergeßliche Attacke auf Tschesniki“, schließt Tschesniki). In „Afonka Bida“ gibt es diesen Absatz:

„Am nächsten Morgen war Afonka verschwunden. Bei Brody begannen Kämpfe und hörten wieder auf. Niederlage wechselte mit vorübergehendem Sieg; wir bekamen einen neuen Divisionskommandeur. Afonka aber war noch immer nicht da. Nur das drohende Gemurr in den Dörfern bezeichnete die böse Raubtierspur seines Leidensweges.“ Er besorgte sich ein Pferd.

Diese Verschiebung der Proportionen führt zu der verblüffenden historischen Sättigung der „fünf Minuten“, also zur besonderen Art der epischen Dimension der „Reiterarmee“. Bis zum äußersten erkundet, wird die Realität phantastisch. Nicht nur Babels Gestalten, auch seine Landschaften sind von dieser Phantastik. Man verglich sie mit Kulissen. Das hat etwas für sich, denn es betont ihre relative Selbständigkeit. Da es bei Babel keine „Seelenlandschaften“ gibt, bleibt die geographische Szenerie seiner Novellen frei von expliziter Psychologie. In „Berestetschko“ gibt Babel der Landschaft drei Funktionen: die Geschichtlichkeit der Gegend aufzurufen; die sozialphysiologische Skizze des Grenzorts zu zeichnen, die ein Drittel der knapp drei Seiten einnimmt, und natürlich ihre Aufgabe nicht nur für „Berestetschko“, sondern für den ganzen Zyklus hat; und die aktuelle Atmosphäre der „fünf Minuten“ zu fixieren („Die Stille des Sonnenuntergangs färbte die Gräser vor dem Schloß blau…“ – „… sah über Wiesen hin, wo Nymphen mit ausgestochenen Augen alte Reigen tanzten“). Der Wechsel der Einstellungen erfolgt übergangslos. Auch die Landschaftsschilderung dient Babel dazu, die Assoziationsarbeit des Lesers durch genau berechneten Schnitt der Erkenntnis nutzbar zu machen. Wieviel Mühe Babel auf die richtige Anordnung der Elemente verwandte, ist gut zu verfolgen an Hand der Entwürfe für „Kampf um Brody“.

Im Tagebuch steht eine lange Eintragung vom 7. August 1920, beginnend mit: „Denkwürdiger Tag. Morgens von Chotin nach Berestetschko.“ Vergleicht man die Notiz mit der Novelle, so stellt man als Wichtigstes fest: Jeder Affekt, jedes Staunen, diese äußere Überraschung des Moments ist fort. Aufgesucht ist der historische Angelpunkt des Staunenerregenden, Überraschenden. Und: der historische Angelpunkt für den Affekt des Tagebuchs. Denn die „Reiterarmee“ erzählt zugleich, wie das Tagebuch aufgehoben wurde – bewahrt, potenziert und überwunden. Im Brief vom 13. August 1920 hieß es: „Ich habe hier zwei Wochen völliger Verzweiflung hinter mir, das kam von der rasenden Grausamkeit, die hier nicht eine Minute innehält, und davon, daß ich deutlich begriffen habe, wie ungeeignet ich für das Werk der Zerstörung bin, wie schwer es mir wird, mich vom alten zu lösen, von … dem, was vielleicht schlecht ist, für mich aber Poesie atmete wie der Bienenstock Honig; jetzt komme ich wieder zu mir, was soll da weiter sein – die einen werden die Revolution machen, und ich werde das singen, was sich abseits findet, was tiefer liegt, ich habe das Gefühl, daß ich das kann und daß dafür Platz und Zeit sein wird.“ Keine Drückebergerei. Es war die früheste Formulierung der Erzählperspektive der kommenden „Reiterarmee“. Noch undeutlich wie das ganze Werk im Jahre 1920. Ungefüge, kein Vergleich mit der exakten Tolstoi-Gegenüberstellung von 1937. „Abseits“ bezog sich nicht auf einen Platz außerhalb der Revolution, und „tiefer“ meinte die Tiefe der Revolution. Babel hat tatsächlich noch am Entferntesten, Ungeeignetsten das Außerordentliche des Neuen demonstriert und dieser neuen Außerordentlichkeit damit von vornherein die falsche Glorie versagt.

Weder im Tagebuch noch in den Entwürfen und Notizen gibt es einen Hinweis auf den Erzähler.

(Konzepte Leipzig : S. 79-87)

Manöver : all die Tage

Eine schwarze Gurke schwebt über der Stadt : rot

Blinken die Lichter : einen dröhnenden Schwanz

Zieht sie hinter sich her : eine Notlandung

um uns zu erschrecken all die Tage

Zwischen den Blöcken spielen die Kinder

Verstecken : Kuchen wird aufgetischt

Ein paar Jugendliche besprühn Wände : all die Tage

Hör ich den Bass : I’m on the highway to hell

Über den Wolken trommelt das Schlagzeug : unsichtbar

Slapsticks : untergründiges Gegrummel : fünf Millionen

Werden verbrannt in den Lüften all die Tage : Donnergrollen

Damit wir an die Allmächtige glauben : die Gewalt

Mit ihr wird keiner alt

Was ist ein Text?

„22 : 57 : Und heute Nacht, sagt ein anderer, hat er geträumt, dass er ein Schmetterling ist, und dass es ihm zu kalt ist, dass er auf einem Stein in der Sonne sitzt und die Flügel ausbreitet, und das hat er nicht von außen geträumt, also nicht so, dass er sieht, wie der Schmetterling auf dem Stein sitzt, dass er sieht, wie der Schmetterling die Flügel ausbreitet, nicht so, wie er den Stein sieht und die Flügel sieht und“

*
Teil der Sprache, sprachliches
Gebilde

Gegensatz
zum Namen, Patrick
* *
Doomsday
>22 ist kleiner als 57<
hat das eine Bedeutung
hat das etwas zu sagen
hat das wirklich eine

Die Spatzen pfeifen es
* * *
Dostoprimetschatelnosti
Dostojewskowo, kogo

Togo, Kongo
mitten ins Herz

Einer Finsternis. Einer? Ihrer
* *
Der Finsternisse sind viele
*
Der Finsterling
e

mail or not mail,
_’tis _’e quest…

Beck, immer B. wie damals
als der arme B. B.

ihn hörte:
* *
der durch sie hindurchging
* * *
Die Tannen pissen
* *
Der absinthene Himmel –
ein Schmetterling
Papagei

Schmetterlingspapagei
*
Gegensatz
>>Die Tonnen,

Siehst du sie?<<

+

„Und überwinterte sein Glück. __ (B. P.)

An *

Ich war der, dessen Texte immer unter einem anderen Namen erschienen…
Aus einem privaten Brief in deutscher Sprache

Dein schönes,
Von Edelsteinen zerkratztes Gesicht
Leuchtet in der Sonne

Die kleine,
Von armen Leuten stammende Mitgift
Vergammelt in der Tonne

Allmählich
Frage ich mich beim Betrachten der Ikone,
Wer damit wohl gemeint sei:

Du und ich – ?
Sind es nicht, – –
Denn es sind immer 3

13.05.23

„Das Gedächtnis ist ein amethystfarbenes Meer“

Erinnerungen an die Triestiner Lyrikerin Lina Galli

War es das Café Stella Polare oder das Danubio gewesen, so frage ich mich, wo Giorgio Voghera mich an einem Februartag des Jahres 1979 mit einer älteren Dame bekannt gemacht hatte, der, wie es bei ihrem Tod 1993 in der Lokalzeitung Il Piccolo hieß, „letzten Dichterin der Stadt Triest“? Die ältere Dame war damals bereits 80 Jahre alt und ich hatte von ihr bis dato noch kein einziges ihrer Gedichte gelesen. Als wir uns am nächsten Tag ohne unseren Vermittler trafen, hatte sie mir ein Buch mitgebracht, das ein paar Jahre zuvor, 1973 erschienen war: Eppure ancora un mattino, eine Auswahl ihrer Gedichte von 1934 bis 1972, herausgegeben von Nora Baldi, die eine wesentliche Rolle in ihren späten Lebensjahren spielte. Außerdem das Typoskript eines langen Gedichts, das sie unter dem Eindruck des furchtbaren Erdbebens in Friaul (Mai 1976) verfasst und im Radio vorgetragen hatte. Dieses Erdbeben, d.h. das Schicksal der davon betroffenen Menschen bewegte sie damals noch immer stark und so sprach sie fast ausschließlich darüber zu mir. Bei Giorgio Voghera sollte ich später über die Dichterin lesen:

Lina ist heute als eine von ganz wenigen Triestiner Dichterinnen auch im übrigen Italien bekannt. Zweifellos kann sie nunmehr neben den Großen der Triestiner Literatur bestehen. Unsere Großen haben jedoch, vielleicht ohne es zu bemerken, eigentümliche Haltungen eingenommen. Lina hingegen bewahrt weiterhin eine mütterliche und gleichzeitig, so möchte ich sagen, beinah mädchenhafte Haltung. Unsere Großen waren alle ein wenig egoistisch: vielleicht ein ‚sakrosanter‘ Egoismus. Lina hingegen ist immer großzügig, vor allem gegenüber jungen Schrifttellerinnen und Dichterinnen, denen sie hilft, sich durchzusetzen.

Lina Galli war im letzten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts geboren, stammte aus Istrien, aus dem venezianisch geprägten Städtchen Parenzo mit der berühmten Basilika. Die Mutter starb, als Lina vier Jahre alt war. Gemeinsam mit ihrem Bruder wurde sie von der Großmutter aufgezogen, die eine Pension geführt, in der auch viele österreichische Beamte verkehrten; einer von ihnen ermöglichte es dem begabten jungen Mädchen das Gymnasium in Gorizia zu besuchen. Mit dreiunddreißig Jahren kam sie als Lehrerin nach Triest, wo ihre für Kinder geschriebenen Reime, Filastrocche cantate col tempo noch im gleichen Jahr als Buch erschienen.

Zwischen dem darauffolgenden schmalen Gedichtband Trieste città (1938) und dem ersten Band einer Trilogie, in der sie die traumatischen Jahre des Weltkriegs in einer sehr persönlichen, autobiographisch geprägten Weise zu bewältigen suchte, waren 12 Jahre vergangen. Die alte Heimat war inzwischen jugoslawisches Staatsgebiet geworden, Parenzo hieß jetzt Pore?, und dort fühlte sie sich als eine Person, die zur Fremden geworden war. (Und an Lina Galli konnte sich in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich dort den Spuren ihrer Gedichte nachging, selbst in der Stadtbibliothek niemand erinnern.)

     Im Antiquariat Misan in Triest, Fundgrube für meine eigene kleine Triestiner Bibliothek, hatte ich inzwischen den dritten Band der oben erwähnten Trilogie erworben, Notte sull’Istria, 1958 herausgegeben vom Movimento Istriano Revisionista; in Zeiten des sogenannten Kalten Krieges waren die Fronten verhärtet, zigtausende Italiener hatten Istrien verlassen (nach der Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrages am 10. Februar 1947, auf den der 48. Geburtstag der Dichterin fällt, als Istrien an Jugoslawien fiel und Triest vorübergehend zur ‚freien Stadt‘ erklärt wurde). Sie alle waren zu esuli geworden, zu Flüchtlingen, Menschen, wie seit jeher, Opfer der ‚großen‘ Politik. „Nostalgia e dolore, tu li comprendi“, „Nostalgie und Schmerz, Du verstehst sie“ stand in diesem Exemplar als Widmung für einen (mir) Unbekannten in Gallis gestochener Handschrift, die bis ins hohe Alter die gleiche blieb.

Als ich diesen Band zum ersten Mal las, wusste ich nicht, dass das Drama der Foibe auch ihre eigene Familie erfasst hatte, ihr Bruder und ein Schwager Opfer einer grausamen Rache geworden waren, die auch unschuldige Menschen nicht verschonte:[1]„Du bist jetzt ein Schatten/ auch in meiner Erinnerung“, beginnt das Gedicht „Fratello“, in dem es gegen Ende zu heißt:

Man hat mir gesagt, sie haben euch hingestellt

an den Rand eines Steilhangs

      – Gott hatte seine Hand zurückgezogen –

Tief unten plätscherte das Wasser.

Der Horizont war noch immer prächtig

über den duftenden Buchen.

Mit der Maschinenpistole haben sie euch niedergemäht

Am Ufer des Aurania.[2]

Autorin von Vita di mio marito und Dichterin der Nostalgie

1942 machte Lina Galli der Witwe von Italo Svevo, mit der sie befreundet war, den Vorschlag, eine Biografie über ihren Mann zu verfassen – was diese ‚begeistert‘ aufgenommen haben soll. Vita di mio marito erschien 1950 in dem von Anita Pittoni gegründeten Verlag Lo Zibaldone; als Verfasserin fungierte Livia Veneziani Svevo und darunter war in Klammern vermerkt: „Stesura di Lina Galli“, „Fassung von Lina Galli“. Was jahrzehntelang nur als Mitarbeit gegolten hatte, sollte erst vor wenigen Jahren durch die akribischen Nachforschungen der Triester Literaturwissenschaftlerin Daniela Picamus bewiesen werden: „Die Biografie von Svevo war von der Ehefrau gewollt, wurde aber gänzlich von Lina Galli strukturiert und geschrieben.“[3] In den langen Listen von Fragen, die die ‚Mitarbeiterin‘ an die Witwe stellte, befindet sich auch diese: „Was wurde aus der Übersetzung von Senilità von Piero Rismondo? – sowie die Antwort von Livia Veneziani Svevo: „Die Übersetzung von Piero Rismondo ist in Wien vor dem letzten Krieg verloren gegangen“.[4]

Noch in Parenzo hatte Lina Galli Nike Clama kennengelernt, die in der Pension ihrer Großmutter wohnte und in der dortigen Scuola elementare ihre Kollegin war. Nike Clama war 1896 in Graz geboren, „di padre icognito“, „Vater unbekannt“, wie es in den Dokumenten hieß; Lina Galli erzählte mir, dass er ein „nobile tedesco“ – womit ein Österreicher gemeint war – gewesen sei. Nike hatte in Graz die Universität besucht und sprach fließend deutsch (verfasste sogar eine Grammatica di Lingua tedesca); ihre Heimat war jedoch Istrien, von wo ihre Mutter stammte. So wie Lina Galli selbst, hatte sie erste Gedichte in der Görzer Zeitschrift Squille isontine veröffentlicht. Die beiden Frauen blieben ein Leben lang eng befreundet, und als Nike 1962 starb, gab Lina in den folgenden Jahren einige Bändchen mit Nikes verstreuter Prosa heraus (und widmete ihr u.a. das schöne Gedicht „Sei fuggita“, „Du bist entflohen“).

Gemeinsam mit Nike und einer anderen Freundin, der Dichterin Maria Milcovich Oliani (deren Leben 1941 durch Selbstmord endete), nahm vor allem Lina früh am literarischen Leben der Stadt Triest teil; schon 1933 veröffentlichte sie eine Rezension von I nostri simili des jungen Schriftstellers Pier Antonio Quarantotti Gambini (geboren 1910) und wurde nicht müde, auch nach seinem Tod (1965) immer wieder die Erinnerung an den Freund, der so wie sie aus Istrien stammte und mit dem sie die Liebe zu der ‚verlorenen Heimat‘ verband, wachzuhalten.

 „Du bist meine Stadt der verschwiegenen Worte/ im Netz der verlassenen Straßen/ und jener lebendigen im Getöse“ beginnt „Città-Acipelago“, das 1968 in La mia città di dolore, einer erweiterten Sammlung ihrer Triest-Gedichte, aufgenommen wurde. Eine Stadt mit vielen in sich geschlossenen Inseln und Inselchen, mit Gegensätzen, die oft hart aufeinanderprallen, mit Menschen, gefangen „in contorti conflitti“, „in verworrenen Konflikten“. Eine Stadt, die jedoch immer wieder neu ist, „mit ihrem Wind/ und den weißen Felsen mit dem Fuß im azurblauen Meer“: der Wind, das Meer, und der Himmel über Triest – das sind Tröstungen, die die Dichterin über alle Unbilden hinweg unermüdlich zu variieren weiß – selbst als sie schon in ihre letzte Jahreszeit, in den „Winter des Lebens“ eingetreten ist. Doch da war bereits eine neue Zeit angebrochen, die nicht mehr die ihre ist, in der die Generationen auseinanderdriften, „die Stimme der Menschen/ metallen geworden ist/ nur mehr Ziffern skandiert.“ Die Dichterin notiert auch den Beginn dessen, was uns erst Jahrzehnte später mit voller Wucht treffen wird, die Zerstörung der Umwelt, den Verlust von Solidarität und Empathie.

Gerade in ihren Altersgedichten hat Lina Galli einen seltenen Höhepunkt erreicht, ist ihre Sprache immer konziser, lapidarer, treffender geworden. In kleiner Auflage, aber sorgfältig editiert, erschien 1989, noch zu Lebzeiten der Dichterin, ein letztes Buch, I Sogni.[5] Darin sind 55 Traumnotizen versammelt, Fragmente aus ihrem Leben, verwandelt wiederkehrend, in poetischen Stenogrammen beschrieben: „Mein zerstörtes Haus ist noch da/ Die Fassade ist neu gemalt/ die Fensterscheiben glänzen.“ An Bilder von Giorgio de Chirico mag man bei der Lektüre von „La città“ denken, ein surreales Triest, in dem die Träumende durch antike, verlassene Straßen wandelt, in denen sich architektonische Versatzstücke „multiplizieren“, als ob die „Mauern sich selbst gezeugt hätten“.

Als ich Lina Galli im April 1992 in der Casa di Riposo Anna in der via San Lazzaro besuchte, war ich zutiefst bewegt von der Aufnahme, die sie mir dort bereitete: Obwohl ihr Leben auf wenig mehr als auf ein Bett reduziert war, das in dem Mehrbettzimmer nahe an einem Fenster stand, und ihren Blick nur mehr auf den Himmel über der belebten Piazza Goldoni frei gab, hatte sie sich auf dieser Insel ein letztes poetisches Reich eingerichtet, in dem sie, einer alterslosen Fee gleich, noch immer Gedichte schrieb. Aus diesem Reich schickte sie mir danach noch drei Gedichte über jene Orte, die ihre Schicksalsstädte waren: „Parenzo“, „Trieste“, „Venezia“; letzteres sei noch unveröffentlicht, hatte sie dazu notiert; die erste Zeile lautet(e): „Nella tua bellezza la morte.“ „In Deiner Schönheit der Tod.“ Als hätte sie vorausgesehen, dass ein außer Rand und Band geratener Tourismus eines Tages im Begriff sein würde, ‚ihr‘ Venedig zu zerstören, „sommergersi“, untergehen zu lassen.

Es wäre hoch an der Zeit, aus dem umfangreichen Nachlass von Lina Galli auch ihren Briefwechsel mit den (nicht nur inzwischen berühmten) Mitgliedern (und nicht nur) des „Archipels Triest“ herauszugeben; ihre, in so vielen Zeitungen und Zeitschriften verstreute Prosa über Persönlichkeiten und Orte in ganz Italien; und, endlich, auch einen Band mit einer Auswahl ihrer Gedichte in deutscher Sprache.

Lina Galli

Gedichte ausgewählt und übersetzt von Ilse Pollack [6]

10. Februar 1947

Finsterer Februar

gepeitscht vom Wind.

Zu jener Stunde

hörte man Schreie.

Aus den Schlünden

erhoben sich fleischlose Arme

taumelten fluchend

fluchend.

Ähnlich wie die Ermordeten

schwanken stumm die Lebenden:

zu Stein geworden jedes Gesicht.

Die Häuser atmen nicht mehr,

der Himmel ist begraben im tiefen Meer.

Erschöpft biegt ums Eck ein vorsichtiger Mensch.

Es ist ein Überlebender, und er zittert.

Esuli – Die Geflüchteten

An Bord des Schiffes, von Pola getrennt

dachten sie angstvoll an die Städte

die sie erwarteten.

Aus ihrer Heimat gerissen

die an bildschönen Küsten vorüberglitt

auf ein unbekanntes Morgen zu.

In Venedig empfängt sie ein Schwarm von Leuten

mit abweisenden Schreien, verweigert ihnen Nahrung

und in Bologna kann der Zug nicht halten

wegen der feindseligen Menge.

Die Kinder schauen verwirrt um sich.

Die Eltern können ihnen nichts mehr geben.

Das Morgen – ein Albtraum.

Die Italiener empfinden sie nicht als Brüder

sie sind Leute, die es abzuweisen gilt, Geflüchtete.

Diese betrachten alles stumm

mit weit aufgerissenen Augen

in denen die Tränen stocken.

Zum Schmerz, alles verloren zu haben

kommt dieser neue Schmerz hinzu.

Ganz leise sprichst du mit den Toten

Jetzt wehen von den Bergen

die grausamen Winde, es stöhnen die Pinien

gekrümmt über dem Meer

unter dem Dach der grauen Wolken.

Vater, weit weg, lebender und verlorener Vater,

so alt sehe ich dich und kenne nicht

dein letztes Gesicht.

Zusammengekauert in der stillen Küche

neben dem Feuer,

gegenüber dem Feuer, das dir den Frost nicht vertreibt.

Die Kälte schneidet in die gipsernen Knochen

und du wartest und wartest, und schaust doch nicht hin zur Schwelle

denn niemand wird kommen.

Dein Blick folgt dem Licht, das sich von den Dächern zurückzieht

wie in dir selbst.

Ein rötlicher Fleck auf den Hügeln

zwischen den segelnden Nebeln, und die Krähe fliegt auf.

Das ist die Saison! Erinnerst du dich wie du

die roten Bracken herbeigepfiffen hast?

Unter deinen Stiefeln knirschte fröhlich der Frost.

So stumm sehe ich dich und kenne nicht

deine letzte Stimme.

fange ein fernes Echo nur auf.

Ganz leise sprichst du mit den Toten

und zählst die Zeit:

von Weihnachten bis Ostern.

Hinter deinem weißen Nacken

schlägt die alte Pendeluhr die Stunden

eurer entwurzelten Existenzen

und immer schwerer wird das Herz

im bleiernen Strudel der Tage.                 

Anders ist jenes Meer

Unruhig wittert der Verbannte die Luft

und sucht nach einem verlorenen Geruch.

Wer vergisst die heiteren Segel

in der leichten Brise des Südwinds,

und das Rollen der Karren

wegelang um den Weinberg?

Wer vergisst die engen Gassen vertieft

in das Summen des Nachmittags

und auf den Schwellen das Geflüster der Alten

im violetten Feuer des Abends?

Jedes Land, jede Stadt ist fremd –

anders ist jenes Meer, anders ist jener Wind.

Wo ist mein Laut? Wo ist mein Hügel?

In Parenzo

Ich bin gekommen um zu suchen

was ich verloren habe.

In meiner Erinnerung stand es fest.

Unter unwissenden Leuten

finde ich eine Menge Schatten

und die Leere, das Meer, den Wind.

Svevo

Du kehrst zurück mit den runden, freundlichen Augen

den schwarzen, im gelblichen Gesicht.

Du trägst „Melone“ und gehst wie ein Kaufmann

durch die Straßen von Triest wo die Kutschen widerhallen.

Niemand weiß von deinem „stillen Leiden“.

In Gedanken versunken, hält dich ein verborgener Fluss

ab von den kleinen Dingen des Zufalls.

Du denkst nicht an deine Erscheinung

an dein vagabundierendes Gehen.

Bei der prächtigen Villa, dem bequemen Gefängnis

nimmst du die übliche Haltung an.

Hier ist es wichtig zu lachen, zu lachen wie Chaplin:

die Frauen erwarten dich, neugierig,

lachen vor den zerstreuten Enkeln.

Nicht einmal du weißt in deiner Doppelbödigkeit

was die Wahrheit ist.

Gierig umklammerst du die Zigarette

gestattest dir ein Nickerchen.

Du rauchst, rauchst und verbrennst dich innerlich.

„Die letzte“ bettelst du, bevor du stirbst.

So sehr hast du den Tod gefürchtet, und dann kam er still und sanft.

„Weine nicht, Letizia, sterben ist gar nichts.“

Noch immer schmerzten die langen Jahre des Schweigens.

Die Geige, ach, ein Komplize!

Ein grausames Schweigen hattest du dir auferlegt

und dich verletzt.

Straßen bei Nacht

Auf Bürgersteigen gehe ich

über die müden Abfälle des Tages.

Der Nacht fehlt der Atem des Geheimnisses

das mich mit dem verlassenen Meer verband.

Ich suche es an den Ufern wo traurig sind

die Augen der Kinder gerichtet auf ein Meer

das dicht wie Pech nicht zu atmen scheint.

Ach, könnte ich die Traurigkeit ändern

den Himmel des Exils in schwarzer Nacht.

Tagsüber täusche ich mir einen Bodensatz an Beschäftigungen vor

während meine Träume ins Schleudern geraten.

                            *

Immer neu bist du mit deinem Wind

und den weißen Felsen mit einem Fuß im Blau.

Freudenspenderin scheinst du zu sein jedoch

wirbelst du ständig aufrührerische Seelen durcheinander.

Der Winter des Lebens

Die tiefsten Gedanken

nehmen mich nicht an der Hand.

Schläfrig hänge ich

ein müdes Blatt am Zweig.

Ein Rest in der irdischen Zeit.

Ein Schritt, der sich entfernt.

Nichts reißt mich aus dem Fluss der Dinge

keine Erinnerung an mein heimliches Brodeln.

Nur im Traum gehe ich ständig

steige Stufen, steile Pfade

wohin weiß ich nicht.

Ist das der Winter des Lebens?

Und doch gibt es immer noch  

das endlose Lauschen.  

Im Traum

Sie kommen im Traum

die vergessenen Tage.

Aus dem Unbewussten blühen sie wieder auf

die verlorenen Geschöpfe,

die verletzten Augenblicke, die unmöglichen Erwartungen,

die verbotenen Vereinigungen.

Aus einem Durchgang schießen Forderungen,

Blicke von Verdammnis, von enttäuschter Liebe.

Die Verschwundenen tauchen auf

in verwandelten Häusern, in unbekannten Landschaften

auf steilen Stufen, wir suchen sie

auf einstürzenden Korridoren.

Im Traum erfüllt sich

was uns nicht gewährt worden ist.

Unaufhörlich sickern sie durch

diese Erinnerungen, verborgen

im vermeintlichen Leben.

Zwei sind wir in einem.

Verlangen

Diese herabstürzende Lawine

ach, sie aufhalten können!

Wie ein Geizhals die Münzen zählt

festhalten können die verbleibenden Tage.

Ein Wort

Ein Wort:

„Tod“

und ich werde nichts als geträumt haben.

Ilse Pollack


 

Anmerkungen

[1] Mit dem italienischen Wort Foibe, abgel. von lat. Fovea, fossa, werden unzugängliche Höhlen im Karst bezeichnet. Der Begriff Foibe-Massaker bezeichnet brutale Kriegsverbrechen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg von jugoslawischen Partisanen an Italienern aus Rache verübt wurden, v.a. in den istrischen und dalmatinischen Küstengebieten. Vgl. dazu z.B. Cristin, Renato Hg. 2007, Die Foibe. Vom politischen Schweigen zur historischen Wahrheit/Foibe. Dal silenzio politico alla verità storica. Berlin u.a.: LIT.

[2] Nur wenige Orte wie das istrische Aurania/Vranja haben durch die Operationen der Partisanen Gewalt und Hinrichtungen erlitten, so betont Dario Alberti 1997 in seiner Monographie Istria. Storia, arte, cultura. Trieste: Lint.

[3] Daniela Picamus, bei der ich mich für die elektronische Übermittlung ihres 2014 publizierten Textes bedanke: La stesura di Lina Galli di ‚Vita di mio marito‘ di Livia Veneziani Svevo. In: Giorgio Baroni/Cristina Benussi Hg., L’esodo giuliano-dalmata nella letteratura. Atti del Convegno internazionale. Trieste, 28 febbraio-1 marzo 2013. Pisa/Roma: Fabrizio Serra Editore, 103-109.

[4] Der in Triest geborene und in Klagenfurt gestorbene Schriftsteller Piero Rismondo (1905-89) hatte bereits 1929 seine Übersetzung von Zeno Cosini publiziert; Senilità wurde in seiner Übersetzung unter dem Titel Ein Mann wird älter im Jahr 2000 im Wagenbach Verlag veröffentlicht.

[5] Galli, Lina 1989, I Sogni. Trieste: Edizioni Triestepress (mit einem Porträt der Dichterin von Marcello Mascherini und einem Vorwort von Licio Damiani).

[6] Die Gedichte stammen aus folgenden Lyrikbänden von Lina Galli: „10. Februar 1947“, „Esuli“, „Ganz leise sprichst du mit den Toten“, „Anders ist jenes Meer“. Aus: Notte sull’Istria. Poesie. Pola: L’Arena di Pola, 1958. „In Parenzo“. Aus: Eppure ancora un mattino. Padova: Rebellato Editore, 1973. „Svevo“, „Straßen bei Nacht“. Aus: Mia città di dolore. Poesie. Trieste: Società artistico letteraria, 1968. „Der Winter des Lebens“, „Im Traum“, „Verlangen“, „Ein Wort“. Aus: Il tempo perduto. Milano: Istituto propaganda libraria, 1986.

Carsten

Wie bin ich nur in dieses Amt geraten? Nach jedem Arbeitstag denke ich, ich muss hinwerfen, ich kann das nicht mehr verantworten. „Wir haben ein Gesetz und danach muss er sterben“, tönt es mir im Ohr, dieser Ruf aus dem Volk, das so gierig darauf ist, zu verur­teilen, solange es selbst nicht vom Urteil getroffen wird. Ich muss nicht aufs Volk hören, wir leben in einem Rechtsstaat, aber ich muss aufs geschriebene Recht hören, und das kommt von einer mehr­heitsfähigen Regierung, das heißt, ich darf nicht aufs Recht hören, denn das ist oft nicht mehr­heitsfähig.

Ich bin, weil ich so häßlich ehrgeizig war, angetrie­ben von mei­nen Eltern, ausgerechnet im Strafrecht gelandet, dort, wo die Rechtsfindung am schwersten und folgenreichsten ist. Mit meinen Kollegen, bis auf wenige Ausnahmen, kann ich über diese Probleme nicht reden, auch nicht mit meiner Familie. Die Kollegen glauben, Gutes zu tun oder mindestens ihre Pflicht, und wollen gleich­zeitig ihre Bezüge sichern. Meine Familie würde, hörte sie von meinen Zweifeln, in Sorge um ihren Wohlstand geraten. Habe ich jemals einen Straftäter, den ich zu Gefängnis verurteilt habe, dort besucht? Habe ich jemals zum Aus­druck gebracht, dass in Wahrheit kein Mensch das Recht hat, einen anderen zu verurteilen? Die einzige Ausnahme ist vielleicht jener Verbre­cher, sei er Arzt oder Politiker, der im Interesse der Herrschaft und des Geldes zum Massenmör­der wird. In allen anderen Fällen befindet sich ein Richter in einer Notlage.

Ich weiß, der arme Tropf da vor mir ist selber Opfer eines Rechtsbruches, der aber ungeahn­det geblie­ben ist. Oder wird jemand freiwil­lig Dieb, Mörder, Kinderschän­der? Wer kann hier vom „frei­en Willen“ sprechen? Ach, es ist eine so tiefe andere Not in uns. Und ich soll dar­über hin­weggehen, um dem Recht genüge zu tun? Das „Recht“, das schützt die Reichen und Gesun­den. Die wollen sich ihren Status erhalten, darum müssen sie eine Handha­be gegen den Ar­men haben. Für das wirkliche Recht können wir nicht tief ge­nug schauen. Vor allem kann es niemanden geben, der es bewacht und durchsetzt. Die­ses Recht braucht nie­manden, oder nur jenen, der nicht aufs Recht pocht, sondern auf Barmherzig­keit.

Wenn ich im Schrank meine schwarze Robe sehe, denke ich stets, ich bin ein Sünder. Das denke ich, ob­wohl ich nicht an Gott glau­be, jedenfalls bin ich kein Christ. Ich müsste in die nächste Verhandlung mit einem Schlachterkittel gehen. Ich würde dem Täter sagen, wir wol­len dich schlachten, und ich soll den ersten Schlag ausführen. Du hast die Dumm­heit began­gen, eines anderen Recht zu verletzen. So bist du in dieses öffentliche, des wirkli­chen Rechts unfähige Feuer ge­raten. Jetzt urteilst nicht mehr du, sondern wir über dich. Das ist dein größ­ter Verlust. Ich will dir diese Gabe, diese Würde zurückgeben. Darum sage selber, wie du des an­dern verletztes Recht zu erstatten gedenkst. Was, glaubst du, wäre ge­recht und was kannst du auf dich neh­men?

Strenggenommen müssten wir das Strafmaß auftei­len auf alle, die an dir Unrecht verübt oder Hilfe unterlassen haben. Dann würde eine zehnjäh­rige Haftstra­fe vielleicht auf eine zweijähri­ge schrumpfen. Die andern erhielten ihre Haftstra­fe symbo­lisch. „Damit wären wir aber bei der Sippenhaftung“, höre ich sie schreien. Nein, nur wer erwischt wird, setzt sich dem Arm menschlicher Gerichtsbarkeit aus. Auch wird nicht dessen Urteil, der erwischt wird und ande­re be­lastet, abgemildert. Das Schlimme: Wir können nicht gerecht sein. Und zie­hen trotzdem stolz die Richterrobe an. Mei­ne Familie prahlt mit mir. Sie hält mich für einen mächtigen Mann. Ja, ich wirke so vernünf­tig, so ruhig, so abgeklärt. Dabei bin ich mir unend­lich lang­weilig, komm mir feige und ver­druxt vor. Für meine Nachbarn bin ich ein kli­nisch-aseptisches Ideal, ohne Fehl und Tadel. Verheira­tet, zwei Kin­der, Haus und Hund. Ich glaube indessen, ich bin schuldiger als die meisten Straftäter, de­ren Leben da vorne auf dem Stahl­rohrstuhl an mich ausgeliefert ist.

Aus „24 Portraits“, erscheint Sommer 2023, Leipziger Literaturverlag

Video der Buchvorstellung Leipziger Buchmesse 2023

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Saxon Road

Viele Jahre ist es her, einige Umzüge liegen hinter mir, da lebte in der Saxon Road in Saint Werburghs in England ein Mann namens Hardy. Seinen wirklichen Namen werdet ihr nicht erfahren, es genügt, daß ihr wißt, daß er sich selbst Hardy nannte, nachdem die Eltern ihn auf den Namen Adolf hatten taufen lassen, kurz vor Ende des Kriegs.

Hardy lebte in England so selbstverständlich wie nur irgendeiner. Er war verheiratet mit einer Engländerin, hatte eine Tochter mit ihr, die in Afrika jobbte, lebte geschieden in einem kleinen Haus am Stadtrand, das ihm nicht gehörte, inmitten einer Siedlung ähnlicher kleiner Häuser mit einem hohen Anteil Farbiger in der Nachbarschaft. Hardy grüßte jeden. Sobald die Tür sich zur Straße hin öffnete, Good morning! Hello! How are you?!, zu jedem, der eben vorüberging oder zufällig in Rufweite des Vorgartens oder auf der Straße stand. Kam der Gruß nicht zurück, wurde Hardy laut, Good mornig!! Hello!! How are you?!… Bloody bugger!

Auch ich war einer derer, die seinen Gruß zunächst nicht mit derselben Freizügigkeit hatten erwidern wollen, doch wir lernten uns kennen, und zu meinen angenehmsten Stunden in der Saxon Road gehörte die Muße in Hardys Wohnzimmer, hinter dem bay window, auf einer alten, mit einer etwas filzigen Decke überzogenen Couch, die Bücher durchblätternd, die dort im Regal standen. Tolstoi, Krieg und Frieden, auf Englisch, Bildbände zu England, ein Exemplar von Bruce Chatwin, What am I doing here? Die Frage stellte ich mir selbst, doch ich beantwortete sie mit Fantasieritten zu Ilfracombe, im Norden Devons, wo das Meer so schön schien wie in Portugal, und nie werde ich vergessen, wie die polnische Kavallerie, auf Seiten Russlands kämpfend, gegen Napoleons Truppen anritt und heroisch in der Strömung eines tiefen, breiten Flusses unterging.

Hardys kleines Wohnzimmer war cosy und meist leer. Das machte es mir noch lieber. Ich habe es rot in Erinnerung, vielleicht durch einen Teppich, wahrscheinlicher aber durch die Wände, die dunkelrot gestrichen gewesen sein dürften, eine Farbe, die ich in englischen Wohnzimmern nicht allzu oft gesehen hatte.

Hardy nannte mich Marcuse, wenn er nach Hause kam, die Tür ins Schloß werfend, auf dem Weg in die Küche, nach hinten, oder nach oben, die Treppe im Flur hinauf. Hello, Marcuse! Er hatte mich durch das seitliche Fenster aus dem Vorgarten gesehen und erwartete einen ähnlich saftigen Gruß, den ich ihm jedoch verweigerte, so lange, bis er auf dem Absatz umkehrte und sich über mein Schweigen beschwerte. Danach war es, Hello Marcuse! Nabend, Hardy!

Das ging so etwa ein Jahr lang oder etwas länger, bis Franziska bei ihm auszog, da Hardy das Land verließ und nach Deutschland zurückkehrte, um sich zur Ruhe zu setzen. Wir überlegten, das Haus zu kaufen, das sicher billiger war als irgendein anderes in derselben Stadt, unser Geld aber reichte auch dazu nicht.

Ich verdanke Hardy eine Reihe kleiner Geschichten, einen Tisch und die Hilfe bei einem Umzug. Er war, wie er sich selbst sah, easy going, wurde von seinen Freunden hinter seinem Rücken the professor of bad ideas genannt, was ich erst später erfuhr. Verglichen mit Hardy komme ich mir noch immer spießig vor. Er unterrichtete als assistant teacher an einer Schule, hatte tausend Nebenjobs, betreute junge Mitarbeiter eines Friedensdienstes in Coventry und war deshalb oft unterwegs. Das Wohnzimmer war dann leer, Franziska und ich allein im Haus oder in dem kleinen Garten, in dem Franziska Schneckenrennen veranstaltete, die sie fotografierte.

Doch zurück zu Hardys Geschichten. Eine davon zeigt ihn selbst in der Hauptrolle, wenn auch in einer unvorteilhaften, doch das macht sein Geständnis nur größer. Es ist der junge Hardy, in Deutschland noch, der erfolgreich einen neuen Namen erstritten hatte, ein junger Wilder auf dem Motorrad, der mit waghalsigen Manövern den Mädchen imponieren will und dabei rücklings vom Motorrad fliegt, sich den Kopf verletzt und lange im Krankenhaus liegt. Ich höre Hardys weiche, fast hauchende Stimme, wie er von dem Unfall erzählt, der ihn das Gedächtnis verlieren ließ, ein Grund, weshalb er von der Schule abging und später auf der Abendschule sein Abitur nachmachte. In seiner Stimme klang das Eingeständnis von Schuld mit, eine Art Selbstvorwurf nach so vielen Jahren. Seine Vitalität aber war ungebrochen.

Bärtig, grau, mit immer schütterer werdendem Haar, liebte er die Verkleidung, schlüpfte am Abend in verschiedene Rollen, ein hellblaues gestricktes, wollenes Käppi, in die Stirn gezogen, ein charmantes, verführerisches Lächeln, outete er sich beim Essen als queer, genoß den Eindruck, den es machte, und verwandelte sich vom Piraten in einen alternden Lustknaben, vom herumalbernden landlord in einen ernst dreinblickenden Politphilosophen. A character. Ich mochte ihn, brachte ihm aber nicht genügend Respekt entgegen, mißtraute ihm zudem, sah in ihm kurzzeitig den Verführer junger Knaben, was aber wohl ein völlig grundloser Verdacht war.

Kam er nach Hause, bat er Franziska um eine lange Massage, schwärmte von einer Vormieterin, die in Sachen Massage eine wahre Künstlerin gewesen sei, und schwärmte umso mehr, als Franziska ihm die Massage nicht zukommen ließ.

Ich sehe Hardy mit einer angebrochenen Weinflasche, in dem der Korken schwimmt, bei einer gemeinsamen deutschen Freundin, Renée, ankommen, eingeladen zu einem Essen. Da wir doch nun einander schon kannten, könnten wir es uns doch leisten, aus Förmlichkeit zu verzichten, der Wein sei gut und erst seit kurzem geöffnet, Prost! Ich höre ihn Renée, Na, Alte! nennen und sehe Renées leicht süßsaures Lächeln. Ich höre ihn lachen, etwas kurzatmig, immer um eine Geschichte bemüht, durchdringende blaue Augen, wie die Hardy Krügers, nach dem er sich nannte, das Lachen konnte glucksend werden, wie bei einem Jungen, feixend, schadenfroh, doch nie böse. Ich sehe ihn, am Steuer seines kleinen weißen Vehikels, schnittig die Kurven nehmend, den Arm zum Gruß herausgestreckt, lässig, ein Gesicht, das den anderen zum Lachen, zum Lässigsein aufforderte, immer in Bewegung, sehe ihn das Haus verlassen, um in einem Pub gemeinschaftlich Fußball zu schauen, eine ganz bestimmte Kneipe in Gloucester- oder Cheltenham Road, die ich nicht kannte. Und ich verdanke ihm eine weitere Geschichte, die Geschichte von Scouser, dem er zugeneigt war und von dem ein Foto in seiner Küche hing.

Dies ist die Geschichte von Scouser, wie ich sie gehört habe. Die Geschichte eines alten und wahrscheinlich einsamen Mannes aus Liverpool, der jahrelang in Bristol gelebt hatte, vermeintlich arm und ohne Freunde, ein Außenseiter wohl auch durch seine Homosexualität und Physiognomie. Klein und gedrungen, bärtig, das Gesicht von einem grauen Vollbart bedeckt, sommers wie winters mit einem Strohhut unterwegs, Captain Birds Eye, ein ewiger Wanderer. So erscheint er noch immer in meiner Vorstellung. Gesehen habe ich ihn nie. Außer auf einem Foto in Hardys Wohnzimmer.

Scouser, so die Geschichte, hatte viele Jahre inkognito Lotto gespielt und eines Tages offenbar einen größeren Betrag gewonnen. Niemand wußte es. Scouser lebte am Stadtrand in einer Bude, ich stelle sie mir vor wie die Hütte in einer Kleingartenanlage, und hatte kaum Nachbarn, keine Verwandte. Er verkaufte Eis und lebte zurückgezogen. Er brüstete sich mit dem Geld nicht, verpraßte es nicht und sagte anscheinend niemandem etwas. Und doch kaufte er offenbar groß ein, gab alles Geld dafür aus. Erst nach seinem Tod wurde es entdeckt.

Als man die Tür zum angrenzenden Schuppen aufbrach, flatterten hunderte bunter Kanarienvögel in einer riesigen Voliere, bis dahin unentdeckt, niemand wußte, daß es sie gab, kreischten und wirbelten Staub auf. Seltene, wertvolle Exemplare, in einer Wolke aus Federn und Flügeln, Singstimmen wie in einer Oper, eine höher als die andere. Ohrenbetäubend und so überraschend, als würde Scouser selbst vom Tod auferstehen.

Hardy starb in Deutschland, im Krankenhaus, an Apparate angeschlossen. Lange, nachdem auch ich aus England weggegangen war. Vor seinem Tod versammelte er die Freunde um sich, bat, die Apparate auszuschalten, und starb in ihrem Beisein, friedlich. Seine Leiche wurde verbrannt. Die Freunde nahmen die Asche mit sich oder einen Teil davon, fuhren nach Wales, auf den Gower, leerten die Asche ins Meer und schwammen durch sie.