darüber schreibe ich

meine kindheit wohnt
in einem dunklen karton
zugeschnürt und in der abstellkammer
meiner erinnerungen

sicher ist nur
ich hatte eine mutter
eine katze
eine puppe und ein paar geschwister

die vergangenheit
lüge ich mir zurecht
wenn mich jemand danach fragt
und mache mir später notizen

heute schreibe ich gedichte
von liebe und solchen sachen
wirklich bescheid darüber
weiß ich nicht

Ankunft

Er besteigt das Flugzeug in Berlin Tegel mit einer Schallplatte. Ravel, Gaspard de la nuit. Er hat die Hülle zukleben müssen, damit die Platte nicht herausfällt. Er klammert sich an die Schallplatte und besteigt das Flugzeug wie zu einer Hinrichtung oder einer öffentlichen Vorführung. Es regnet auf die Rollbahn, als das Flugzeug abhebt. Er spürt den erlösenden Ruck, das Flugzeug steigt, läßt den Flughafen, läßt Berlin zurück. In Hamburg taucht es in einen Wirbel aus Wolken, weißen, dichten Luftmassen, stößt in sie hinein und später wieder aus ihnen hervor. Er hält sich an der Schallplatte fest, macht sie zu seinem Glücksbringer, überzeugt, ihm könne mit der Schallplatte in der Hand nichts geschehen. (Jedenfalls würde er es nicht bemerken.)

Am Abend desselben Tages sitzt er in der Straßenbahn, fährt die verwinkelten Gassen und Schluchten der Alfâma hinab, sieht unter sich, in der Sonne, das magische Blau und ist glücklich, so glücklich, daß er glaubt, wahnsinnig werden zu müssen. Er kauft an einem Kiosk auf der Praça do Comércio eine Telefonkarte, cartão telefónico ist sein erstes neues Wort, er wird es von nun an häufig benutzen, und ruft „zu Hause“, in Berlin an, in der Wohnung Franziskas, die nicht da ist.

Schon der Ausstieg aus dem Flughafen, das Verlassen des Gebäudes benimmt ihm den Atem. Etwas verschwommen, in einem heißen Dunst liegt der Tejo vor ihm, Taxis schieben sich voreinander, in einer Kette, schwarze Frauen in bunten Gewändern wandeln vor ihm, er kommt sich unbeschreiblich bieder und provinziell vor, es scheint Afrika, keine europäische Stadt. Er steht da, mit seinen zwei Koffern, der Schreibmaschine, seiner Schallplatte, preßt sie an sich, sucht nach einem Taxi, nennt dem Fahrer die Adresse. Rua da Penha de França. Der Fahrer scheint sie zu kennen. Er selbst hat keine Ahnung, wo es ist. Er hat keinen Stadtplan. Gluthell und heiß liegt die Stadt vor ihm, hüllt ihn ein, bald auch das Taxi, das seinen Weg vom Flughafen weg in die Stadt nimmt, auf den Straßen dahinschießt. Der Fahrer spricht von Bauarbeiten, weist auf das Wellblech, viele Baustellen, er versteht es nur halb, nickt, gottseidank verlangt der Mann keine Konversation von ihm. Sein Portugiesisch ist schlecht, fast nicht vorhanden. Er spürt, daß es zwischen den Wellblechzäunen entlanggeht, einen Berg hinaufgeht, daß es eine lange Straße ist, in der der Wagen langsamer fährt. Plötzlich stoppt das Taxi, der Fahrer bedeutet ihm mit einem Kopfnicken, daß sie angekommen sind. Er öffnet die Tür, die heiße Luft dringt herein. Rasch ist er verschwitzt, die Koffer stehen schon neben der Straße, halb auf dem Gehweg. Er hat bezahlt, ein gutes Trinkgeld gegeben, das Taxi ist weg. Er hält noch die Schreibmaschine, seine Schallplatte, da kommt schon ein Mann, nimmt die Koffer fürsorglich von der Straße, vom Gehweg weg, stellt sie vor das Haus. Der Mann will ihm helfen, den Weg freihalten, andere daran hindern, die Koffer zu nehmen. Es ist Carlos, der Barbesitzer, sein erster Freund, wenn das Wort nicht zu groß ist. Ein Verbündeter, eine Anlaufstelle in den kommenden Wochen.

Die Häuser in der Straße haben merkwürdige Konturen für ihn. Von einem Blau in der Höhe zusammengehalten, ergeben sie für ihn keine Form, sie bleiben gestaltlos, ein Band, das die Straße begrenzt. Die Fenster sind Schlitze, hinter Rolläden verborgen, die Stockwerke niedrig. Ein Band von Häusern, beidseits der schmalen Straße, die dennoch eine Durchgangsstraße zu sein scheint. Er klingelt, 2º DTO., segundo direito, 2. Stock rechts. Am Klingelschild keine Namen, nur metallene Knöpfe in einer Metalleiste.

Dann steht er mit seinem Koffer, der Schreibmaschine vor der Tür im zweiten Stock und klingelt noch einmal, hinter ihm hat sich die Aufzugstür mit einem lauten Geräusch geschlossen. Er ist über und über verschwitzt, sein Atem geht keuchend. In der Tür erscheinen zwei Frauen, eine größere, dunkelhaarige mit ausdrucksstarken Augen und einem großen, scharfkantigen Gesicht, neben ihr eine schlanke, kleinere, grauhaarig und, wie es scheint, äußerst beweglich. Die beiden reden auf ihn ein, mal auf Portugiesisch, mal in Englisch, stellen ihm Fragen. Ihm tropft der Schweiß von der Stirn, rinnt die Ausdünstung des Körpers über den Rücken. Er will auf alle ihre Fragen antworten und weiß nicht, wo beginnen. Schließlich hört er sich sagen, I am glad to be here. Die größere der beiden, Arlete, öffnet den Mund zu einem großen, breiten Lächeln, ihre Augen blitzen, Mas ele é simpático, hat sie ihr Urteil gefällt und öffnet die Tür ganz, um ihn einzulassen.

Global – International – Final 2

Die pietistischen Kreise von den westlichen Zipfeln des Abendlandes, die sich ebenfalls auf die Suche nach der Neuen Welt begeben hatten, haderten mit den imperialen Attitüden sowohl des britischen Empire als auch des spanischen, portugiesischen und französischen Kolonialismus. Die Gründerväter der Vereinigten Staaten schrieben im Grunde eine antiglobalistische oder wenn man so will antiimperialistische Zielsetzung in die amerikanische Verfassung: „God save America“ – ein Wahlspruch, der heute als hegemoniales unipolares Großmachtstreben mißverstanden wird –, behauptete  die Unabhängigkeit, sprich Souveränität gegenüber der Krone, sprich dem Empire. Es galt, der Welt ein Beispiel zu geben, daß die Loslösung vom oligarchischen Allmachtsanspruch möglich ist, nicht indem andere Länder und Kontinente unterjocht werden, sondern um ihnen einen Weg in die Unabhängigkeit zu zeigen. Nur haben die imperialen Kolonisatoren Amerika mit dem Unabhängigkeitstag nicht verlassen. Sie sind nur vorübergehend in den Hintergrund getreten, nicht einmal in den Untergrund – sie haben in akademischen Debatierklubs überlebt, sich organisiert, Unmengen Kapital angehäuft und bilden jene scheinbar unsichtbare Kaste der Mächtigen hinter den Kulissen der politischen Bühne, die als Vertreter des deep state die Strippen ziehen. Spätestens mit dem Atombombenabwurf in Japan sind sie wieder ins Rampenlicht getreten und scheuen sich nicht, ihr Streben nach globaler Alleinherrschaft als Verteidigung von Freiheit und Demokratie zu maskieren. Allein die Tatsachen sprechen eine andere Sprache: Korea- und Vietnamkrieg, die Unterstützung Pinochets, die Kubakrise, das Totrüsten der Sowjetunion, die beiden Golfkriege und schließlich die lancierten Farbrevolutionen im ehemaligen Ostblock, in der Ukraine und in Georgien, der weltweite „Krieg gegen den Terror“, die Einsätze in Afghanistan, Syrien und Libyen, Obamas Drohnenkriege – all dies wurde im Namen der Freiheit initiiert und diente allein dem Zweck, die Abhängigkeit von Amerika herzustellen oder zu festigen. Westeuropa segelte im Windschatten der neoimperialen Ambitionen.  Die europäischen Eliten glaubten, sie könnten Amerika ein Schnippchen schlagen, indem sie sich unter seinen (Raketenabwehr-) Schirm stellen, das eigene Militär abrüsten, im Stillen aber weltweite Geschäfte machen (Stichwort: „Export­welt­meister“, aber das ist passé). Amerika hat sich verkalkuliert. Und mit ihm das westliche Europa. Der Kapitalismus hat mit seinem internationalistisch-globalistischem Optimierungswahn, sprich Profitstreben, die Substanz seiner Produktivkräfte nach Asien, vor allem nach China, ausgelagert und nicht mit der dialektischen Weisheit und zugleich stoischen Konsequenz der Chinesen gerechnet. Die Produktion in der Sonderwirtschaftszone Guangdong war um Größenordnungen billiger als im Mittleren Westen, in Chicago oder im Ruhrgebiet. Die Aussicht, asiatische Wander­arbeiter für die Weltproduktion einzuspannen und unter der roten Fahne des Kommunismus auszubeuten, schien verlockend. Nur ist der Westen seit Deng Xiaoping in eine schleichende, im Ergebnis totale Abhängigkeit von China geraten. Wallmart, VW, Apple, BASF – um nur ein paar Sahnehäubchen zu nennen – erwirtschaften ihre Gewinne nicht mehr in ihren Ländern, sondern in China. Die Exportweltmeister von einst sind in Wirklichkeit Auslagerungsweltmeister, Outsourcinghelden, die im Westen Produktionswüsten und deindustralisierte Landschaften hinterlassen.

Das königliche Spiel

Miss Pistole mit Schachbuch in der
__ Hand, Schnitt, Zigarette
Die noch nicht die Zigarette danach
__ ist: ein unnützes Wort,
Nicht fähig zu mehr, als einen
__ Halbvers einzuleiten

Mehr: deine Kinder und meine –
__ die Satzglieder innerhalb
Einer sinnvollen Äußerung, die
__ noch nicht Entäußerung von
Sinn sei;

Sinn: Der Unsinn aller Rede

Gobal – International – Final 1

Den Nationalismus zu überwinden, gehörte schon zu Marx‘ und Engels‘ Zeiten zu den Herausforderungen, vor denen die Arbeiterbewegung stand. Solange die Arbeiter auf ihre Landesgrenzen, Sprachen und heimischen Gewohnheiten begrenzt waren, drohte der internationalen Bourgeoisie keine Gefahr. Denn mit der Entdeckung des Seewegs nach Indien, der „Entdeckung“ Amerikas, Australiens und Neuseelands hatte die Unternehmerklasse schon lange vor der „Internationale“ die supranationale, grenzüberschreitende, globale Ausbeutung der Ressourcen dieses Planeten für sich gebucht. Mag es zu Beginn der Renaissance die Gier umd Suche nach Gold gewesen sein, die Europäer schiffsladungsweise hinaus in die Welt trieb. Spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts war es das Petrolfieber, das die Roggenfelder & Co. aus dem lieblichen Sauerland hinauslockte ins lukrative Abenteuer. Der Kapitalismus hatte sich bereits lange, bevor die Arbeiter Klassenbewußtsein erlangten, internationalisiert und die Globalisierung eingeläutet – wir haben es mit einem Phänomen der Neuzeit zu tun, nicht erst des 20. oder 21. Jahrhunderts, wie uns manche weismachen wollen. Während sich die internationale Arbeiterbewegung schon bei ihrer ersten Feuerprobe – dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 – von ihren biedermeierlichen Monarchen in einen nationalistischen Taumel hineinziehen ließ und sich in Stellungskriegen gegenseitig abschlachtete – erhielten die Produzenten, die Rohstoff-, Energie- und ja sogar die Waffenproduzenten, ihre globale Vernetzung am Laufen und lieferten an jeden, der bestellte, unabhängig von Nationalität oder Religionszugehörigkeit.

Hotel Magonza

Schlaf gut. Träum süß von sauren Gurken! Über mir die Gesichter von Tante Anni, von Mutter und Großmutter. Neben dem Bett die feuchte Schnauze von Snoppy. Noch einmal die Stimme. Von sauren Gurken! Tante Anni. Dann geht das Licht aus, die Tür geht zu. Nun soll das Kind schlafen. Der Vater hat Nachtschicht bei der Feuerwehr.

Hier bin ich. Eingemietet im zweiten Stock eines Hauses, das dem Haus meiner Kindheit so nahe ist wie nur möglich. Ein geräumiges Hotelzimmer mit Balkon, Doppelbett, Kleiderschrank und riesigem Bildschirm. Der Rollkoffer steht noch auf dem Boden, unausgepackt. Das Zimmer blickt auf die Straße, auch der Balkon.

Auf den Balkon bin ich schon einige Male gegangen, doch es ist Sommer und heiß. Jetzt, am Nachmittag, auf einem der beiden Stühle zu sitzen, wäre eine Qual, und so nutze ich den Balkon nur, um ein paar Fotos zu machen. Von der Straße vor dem Hotel, der bescheidenen Schlucht, die sich in beiden Richtungen auftut, von den Häusern, die sich mir eingeprägt haben müssen als Kind und die ich nicht wiedererkenne. Einmal sah eine junge Frau zu mir auf, aus dem ersten Stock gegenüber, als ich eben auf den Auslöser drückte. Offenbar hielt sie mich für einen Voyeur. Empört sah sie von einem großen Schreibtisch am Fenster zu mir herüber, ich hatte sie in dem Augenblick erst bemerkt. Die Kamera war nebenan auf das Eckhaus gerichtet, auf den nicht mehr vorhandenen Laden, in dem ich oft das verbotene Bier für Tante Käthchen geholt habe. Bomben hatten das Haus im Krieg getroffen, nur Parterre und erster Stock waren stehengeblieben. Bis vor wenigen Jahren hatte es von dem Eckhaus nichts als das Parterre und die erste Etage gegeben. Der Eingang zum „Leineweber“ aber war wie der Laden selbst schon lange verschwunden. Nun sah ich eine neue, weiße Fassade über dem Erdgeschoß aufragen, vier Stockwerke hoch, auch das Dach schien ausgebaut. Noch immer schaute die Frau hinter dem Schreibtisch böse zu mir her. Ich tat, als bemerkte ich sie nicht, fotografierte noch einmal in die andere Richtung, die Straße entlang, wie um sie zu beruhigen. Nun aber zog sie den Vorhang zu und verdeckte ein seltsam langes, niedriges Fenster. Ich ging ins Zimmer zurück, es war ohnehin zu heiß.

(Auszug aus einem neuen Roman)

Bruxelles, Musée Fin-de-Siècle.

L‘homme en Rouge war ihr Lieblingsbild. Helles Rot, geparkt auf einem schlanken männlichen Leib, der seine Bewegungen zu koordinieren wusste, den dünnen Schnurrbart zwirbelte. Glitzernde Edelsteine perlten an seinen Fingern, die Stimme hatte den warmen Schokolade-Klang von Cellosaiten. Dass so ein Mann die Frauen liebte, war ein Geschenk, das Esther sich bei der nächsten Gelegenheit abholen wollte. Sagte sie sich. Grüne Salatrüschen wanden sich über ockerfarbenen Käsescheiben und geeister Schaumwein wurde herum gereicht.

Wie im Traum, aus der Zukunft kommend, denkt sie:

Ich will bei ihm bleiben.
Ich bin neugierig.
Das Gefühl ist anziehend.
Nichts stellt sich ihm in den Weg.
Ich lächle das süßeste, kirschrote Lächeln,
stoße mit dem Glas gegen seinen Anzug,
an seine Brust, genau dort,
wo sich das Herz befindet.

„du bist nicht aus dem Barock, du passt nicht zu Rubens, deine Taille ist geschnürt, aber das will ich nicht sehen.“

Ein Bleicher mit grüner Haarsträhne am Hinterkopf gesellt sich zu Esther, und da er merkt, wie sehr sie sich für den Herren im roten Anzug interessiert, spricht er sie ungeniert an. „Die Dame des Salons hat sich mit ihrem Mann gestritten, er redet nicht mit ihr,  und sie isst nun seit drei Tagen nur noch Brot mit dünner Margarine.“

„Eine Verschwendung, bei so einem hübschen Menschen.“

Wo, zum Teufel, blieb in der Gegenwart das Mystische? Es verbarg sich in Spaziergängen, in ihnen lag die Lösung. Wer jedoch in karger Erde grub, würde niemals fündig werden.

„Wissen Sie, wer der Mann dort am Büffet bei den Pralinen ist? Es ist Henry van de Velde. Einer der größten Designer unserer Zeit. Er hat die neue Kunst geprägt.“ „Oh“, macht Esther, senkt die Hand. Blass hält sie den Kelch mit dem kirschroten Bier. „Van de Velde. Mein Gott.“

Erinnerung an Tavira

Nichts gleicht den Stränden im Winter, dem Licht am Wasser, auf hellem Sand. Die kleine Stadt hinter dem Meer, mit ihren weißen Mauern. Dem Platz hinter der Brücke. Cafés und dunkle Arkaden, unter denen das Wort pulsiert. Geschriebenes Wort aus der Zeitung, den Medien, kehlig diskutiert.

In den Menschen ist Zeit, sie hat sich angesammelt in ihnen, wie nutzlos stehen sie herum. Sind einfach da. Geben den Mauern, den Straßen Halt.

Prinzessinnen rennen durch die Straße, Jungen mit Konfetti und knallenden Revolvern, auf der anderen Flußseite. Am Ortsrand. Vom Himmel die Flut aus Licht. S. zeigt mir die weißgekalkten Kirchen, die Ruine eines Kastells. Der Blick über die weiße Stadt, in der Ferne die Linie Meer. Gezogen wie mit dem Lineal. S. ist schon im nächsten Ort, am nächsten Strand. Wir sitzen auf Stühlen vor der Lagune, ein Boot rührt das Wasser auf. Hell leuchtet das Kiosk, wie die Zähne der Frau an der Bar, die den Kaffee bringt.

Es ist möglich, im Auto zu schlafen, hoch über der Stadt. Lila und rote Blüten wachsen über den Duschen, das Wasser läuft kalt.

Der Strand dehnt sich wie Wüste, hell, er scheint endlos. Da ist der Balken aus Wasser, das Blau einer Waage, ins Lot gebracht. Hotelburgen erheben sich fern, am Horizont, weiß auch sie. Abendlich nur das Leuchten.

S. bleibt am Strand, ich fahre zurück in den Ort. Sehe die alten Dächer auf der anderen Flußseite wieder, den Karren, vom Esel gezogen. Die Menschen sind mißtrauisch, die alten Frauen. Die Kinder werden vor mir entfernt, als nähere sich der Leibhaftige. Hinter Greisin und Kind schließt sich die Tür, fällt geräuschvoll ins Schloß.

Der Tag wird aus Licht geboren, aus einem Brunnen aus Zeit. Er steigt herauf, lange, bis die Sonne, unsichtbar, im Zenit steht.

Was ist Poesie

Poesie ist,
wenn ich spüre, was alles durch dich
hindurchschwingt - während du mich
ansiehst und vom Himmel sprichst
und versicherst, hoch hinauf
und tief hinunter bedeute das selbe
und dazwischen
wir stattfinden

Im Netzwerk all dessen was in uns
und hinter uns liegt - verwoben in die
Textur der Zeit, der kommenden und
der vergangenen - und sich bündelt
wenn du sagst - ich sehe dich - 
meine Hand in deiner

Also schreibe ich weiterhin mittelmäßige Gedichte. Ich habe schon nach der fünften Zeile keine Lust mehr. Mir fehlt der Mumm. Die Traute. Der Glaube an den Erfolg. Wie im Ballonflug über der Firma, geht die Lust schon

Was sollte man nur mit diesem Mist anfangen? So eine Scheiße. (Aus: Daniel Kehlmann: Lichtspiel.)

Je. Onegin: Kapitel eins, achte Strophe

Und was Jewgeni sonst noch wusste
Zu sagen, hat gar keinen Sinn;
Was sicherer er als alles Wissen wusste,
Was sein Elyseum war, so wie ich Tabor bin,
Was Mühe, Schweiß und sogar Freude war –
Wie Fetzchen Glück inmitten eines Schwermutsanfalles so klar –
Wenn er im leeren Zimmer saß den ganzen Tag
Und grübelte: Ach pfui! Ob sie mich wirklich mag?
Das war die Wissenschaft der sanften Leidenschaft,
Welche Ovid besungen, die ihn alles kostete,
Was je ein Mensch verschenkt‘, der niemals rostete,
Weil’s Leben ein Martyrium war, das Glück erschafft
Inmitten endlos weiter Steppe – in Moldawien,
Fernab der heißgeliebten Heimat, von Italien.

Reden : immerhin

für M. C. und M. S.

Die Melancholie : nachdem die Gäste

Gegangen sind : die Kinder

Haben sich abgetrocknet

Und harren auf ihren Sitzen

Im Auto der Abfahrt : auf dem Tisch

Die Reste : der Abwasch

Stille

Ich bleibe mit der Katze allein

Im Garten und den ungezählten

Anderen Tierchen : die sich

In den Ritzen angesiedelt haben

Ich bin allein mit meinen alten

Chinesen und genieße

Die Stille

Und weine : Vater und Sohn

Bilden keine Bastion : nur Träume

Wir können reden : immerhin

Von den Vertreibungen

Vom gestundeten Paradies

Von der Hülle : der Fülle

Und von der Stille

Featuring : Heinz-Joachim Heydorn : Gedichtzyklus aus dem Nachlaß

Yang-Kuei-Fei

Flötenspiel
und verhallender
Trommelschlag

Lärmende Feste
ersterben in der Nacht –

Du aber hast sie verlassen –
Tschangans nächtliche Gassen
und der Paläste
lichtüberflutete
Drachensäle

Und die Stille
der Gärten
umfängt Dich

Noch hörst Du die Stimme
das heisere Rufen
des trunkenen Kaisers –
Taumel und Schrei

(Wie ihn Dein lüsterndes
Lächeln verwundet)

Rabenkrächzen
zerreißt
die Nacht

Zu Deinen Füßen
verflammende
Blüten

Bald
wird es
Winter sein –

Hinter träumenden Lidern
siehst Du den Tod –
den Erwartenden

Und Deine schmalen Augenbrauen
zittern

*

Featuring : Poesie oder Prosa

Wenn wir als Vögel in himmlischen Lüften
wiedergeboren, entschweben den Grüften,
entfliehen dem engenden Erdenringe,
soll jedem von uns nur eine Schwinge –
ein Fittich nur beschieden sein,
auf daß wir ewig fliegen zu zwein.

Wenn wir aus dem Grabe zum Lichte steigen
als Pflanzen, so wollen wir mit Ästen und Zweigen
einander umflechten, umarmen, umringen,
untrennbar für immer, für ewig umschlingen.

(„Lied von unsterblicher Liebe und Sehnsucht“, dt. Ernst Schwarz)

*

Weiter ging es auf unserem Wanderweg zum Edelsteinfluß von Noda [FN 168] und zum berühmten „Stein im Meer“ [FN 169]. Auf dem kleinen Berg, der Sue no Matsuyama hieß, hatte man einen Tempel gebaut, der Mashshozan [FN 170] benannt wurde. Ringsum zwischen den Kiefernstämmen sahen wir überall Gräber und es durchfuhr mich unwillkürlich der Gedanke an all die Liebesschwüre und was von ihnen geblieben ist: an den „Doppelvogel mit gemeinsamen Schwingen“ oder an die „Zwei Bäume mit ihrem ineinandergewachsenen Stamm“ [FN 171]. Es nimmt eben alles ein Ende – und ich empfand hierüber Trauer, in die ich mich hineinverlor.

(„Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“, dt. G.S. Dombrady)

Herren mit Niveau

„Sie sind nicht berechenbar, aber immer noch viel zu gut, um gekündigt zu werden. Das wissen Sie, und deshalb starten Sie von vorn und erwarten Sie das nächste freundliche Angebot.“

Eine rhythmisch behaarte Männerhand legte drei Münzen auf das Tablett und jemand ihr gegenüber am Tisch verneigte sich altmodisch. Im Funkeln der Lüster fühlte sie sich genarrt. So ein Taschentrickspieler. Dicke Brillengläser und schwarzer Rollkragenpullover und so ein musternder, versierter Blick. Ein Alter mit einem jungen Gesicht, gegenüber ein Blonder, die beiden sahen aus wie die Schachbrettkekse, die man zur Adventszeit überall kaufen konnte. Herren beim Abendessen, sicher eine Homoannonce, dachte sie bissig. Herren mit Niveau.

Nichts wie Morgen

Starre mich selbst nieder
Während das ewig selbe 
Haus vis-á-vis im
Kaisergelb den Himmel
Ausbeutelt.
Das Vertrauen erschüttert
Im Traum Räume betreten wo
Möbel in zimmermittiger Berghülle wie vorm Ausmalen
Mir Kahlheit und Fragen ins Erwachen legten.
Beim Kaffee dann mit Oma geredet
Bist wieder jung sag ich. Bei allen Lieben
Es gibt keinen Krieg.
Der Radio rauscht
Treibt den Faradayschen Käfig durchs Unwetter
Die Sonne kommt raus. Die Nase läuft
Die Zigarette schmeckt
Das Bahnsignal diffundiert durch
Samstag-Mittag-Sirene.

Samt und Cotton

Sie haben sich den Schal heruntergerissen, dann geraucht. Aber weshalb die Grauen? Wissen Sie denn nicht, dass die voller Teer sind? Gerade die Grauen, und Sie, Sie mit ihren gezierten Worten über gesunde Ernährung und rauchfreie Zonen, greifen zu diesem Ascheton. Die Braunen sind aber noch schwerer und voller Stickoxyde. Da mögen Sie Recht haben. Das sind eben die Braunen. Bei Braun, da denke ich an Kaffee, Kakao, Einspänner, braune Stutzer und braune Schäker, auf jeden Fall: an Zügelloses. Aber die Grauen.

Alles gritzegrau im Leben, meinen Sie wohl, warum sollte es im Rauchen anders sein? Und nun schlucken Sie schön einen Löffel braunen, cremigen Hustensaft. Den mit dem Opium. Der macht Sie entspannt. Entspannt sind Sie? Wie Sie so daliegen, glaube ich Ihnen das fast. Heißt Ihre Zigarette etwa nach der Freundin, die Ihnen den Mantel, den Sie da tragen und der Sie nicht wärmt – den Schal haben Sie sich heruntergerissen. Und Sie ziehen sich Sachen an, in Samt und Cotton, Stiefel, die Ihnen nicht gehören, nur um ein anderes Lebensgefühl zu kosten? Geben Sie mir Ihre Hand, Madame. Immer das Rauchen. Ich rate Ihnen zu den Zigaretten, die Ihre Freundin raucht, die Freundin, in deren Mantel Sie sich räkeln, die Ihnen die Sachen geliehen hat, die Sie da anhaben. Sie raucht Chateau. Die mit dem Himmelsschlösschen. Mit denen sie Figürlein pusten kann. Die Blauen. Chateau raucht man gern mal gegen zwei Uhr nachts, die sind so leicht, dass Ihre Lunge aufatmet.

Glitter oder sempre en vogue

Du erfuhrst es Tausendschönchen

Hände über letternbeschriebenem

Blatt in deinem ockern anthrazitfarbenen

Antlitz spiegelt sich die Welt der Seidenen

samtene Tellerchen spielst du, hölzern

auf Decke aus Lein aus Gesticktem

auf dem Staubweg der gesäumten Geraden

pulsierend sempre en vogue

Liefst du dann auf Bogenhaaren

auf Saiten. Barfuß die Rillen

unter den Fingerkuppen

auf dem auseinandergezogenen

Fächer der abblätternde Lack.

Abschied

Als du fortgegangen warst,

stürzten die Meere in die Tiefe.

Ich fühlte die Leere, die

auch Briefe nicht schreiben.

Ich liebte dich wie die

Musik, als du mich umgabst.

Ich lieb dich wie gestern,

als du neben mir lagst,

als du zu mir kamst,

deine Hände mich umgaben,

mich ohnmächtig an dich

schmiegten, benommen

von soviel Glück, soviel

Nähe, dass ich wie eine

Krähe, meinen rauen Schrei

ausstieß, um dich zu halten.

Daher : eine Katze

Poesie ist keine Lebensform

Poesie ist Rückzug vom Leben

Selbstgespräch mit Gott

Sprachspiel gegen sich selbst

Poesie ist eine Illusion

Poesie ist eine Illustration

Draußen zerkratzen die Häuser

Wolken : lautstark

Wie leise kommt die Poesie

Daher : eine Katze

Die sich allein nicht ernähren kann

Irgendjemand gibt ihr Futter

Noch rankt sich kein Wein

An den entvölkerten Türmen

Empor : noch stürzen

Die Flugzeuge ab : wer

Spendet Trost : die Priester

Bedienen sich der Poesie

Um den Kult zu erneuern

Und selig zu sterben

Im Menschenkloster

Das sie gründen

Für Abtrünnige 

Gefallen aus der Kirche

Poesie führt sie im Garten

Zusammen : Poesie

Trennt und vereint

Sie des Nachts

Featuring : Puschkin : Onegin LX (1)

gunteru ennovicu

Noch dachte ich übers Konzept nach und wie den Helden nennen; schon hatte ich meines Romans ersten Teil beendet; las streng Korrektur: der Widersprüche sehr viele, möchte sie aber nicht ausmerzen.

Werde der Zensur mein Pflichtteil entrichten und den Journalisten zur Beurteilung die Früchte meiner Arbeit übergeben: so geh‘ denn hin gen Ufer der Newá, mein neugebor’nes Werk,

Und hole heim des Ruhms Geschenk:

Expertenmeinung, Krach, Gezänk!

27.07.2023

Mondlicht, Echsenhaut schuppig

Mit feingliedriger Hand malst du Rosen

an eine Wand, die sich winden, berührst

die weichen Rinden, die Lorbeerblätter,

die Stängel aus grünem Samt, tanzt du

tanzt mit Frauen, die süß dich umgarnen.

Irrlicht auf fremden Wegen, läufst du,

Engelsgesicht, durch Gefilde,

Regen fällt lau auf dein Haar, benetzt es

mit glänzendem Perlentau.

Ersteigst Stufen du, die im flimmernden

Sonnenglanz, vorbeiziehende Figuren,

auf Stein, auf Fels auf teergebranntem

Asphalt erschien plötzlich das smaragdfarbene

Bein einer Echse, deren Schuppenhaut

schon Mond ist. Puppe geh vorbei,

oder bleib noch und schreib die Worte

auf, die ich sage …

Auf allen Pfaden

lass uns uns verirren
in den wirren der irren
irre sind wir nacheinander
durcheinander auch
lege dir den gurt gut an
schnüre dir den faden um
bevor wir losgehen
in die irre
in der irre wird es bunt
und laut
kostbarkeiten tauchen auf
am wegesrand
hoffentlich auch ein papierkorb
dahinein alle verzettelungen
die um uns herumfliegen
und uns von der irre ablenken
oder hineinführen
halte mich an dir
an deiner hand
an deiner brust
an der ich dich kraule
mir den mut ins herz
für die irrungen und wirrungen

der offenen himmel lacht über uns
als er uns so stolpern sieht
übereinander über deine, über meine füße

sie tragen uns mit voller wucht
die lampen fallen uns aus der hand
doch im dunkeln wartet die geborgenheit auf uns
da sind wir einzig und in aller klarheit
zusammen ganz.

Die Welt / ein Märchen ?

in jeder Geschichte
muss jeder
seinen Weg finden & gehen
selbst wenn er nur für sich selbst
die Hauptrolle einnimmt
und nicht in einem Baumzweig
ein Zauberstab schlummert
oder einen jedes Schwein
auf den Rücken nimmt
um über einen Fluss zu bringen.

oder war das ein Fuchs?
oder gar ein Pfannenkuchen?
ich weiß es nicht
ich hab damals abgelehnt –
auf meiner Seite des Flusses.

Aus : Die fünf Minuten des Isaak Babel

Jiddisches Erbe kommt herein, der tiefe Witz ostjüdischer Schwänke, die Diesseitigkeit der chassidischen Lehre, die Weisheit der alten hebräischen Bücher. Vom Großvater Levi Jizchok wird in der Novelle gesagt, er schreibe an einem Manuskript – dem „Mann ohne Kopf“. Wie das Buch geschildert ist, erinnert es an die Geschichten der Schalom Asch, Mendele Mojcher Sforim und Jizchok Lejb Perez. Und natürlich an Scholem Alejchem, mit dessen russischer Herausgabe Babel 1925/26 und dann wieder 1936 beauftragt war. Am 2. Dezember 1938 schreibt er anläßlich einer Inszenierung von „Tewje, der Milchhändler“, er verspüre selbst Lust, ein Stück daraus zu übersetzen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß der Erzähler in der „Reiterarmee“, Kirill Ljutow, in der Novelle „Der Rabbi“, befragt, womit der Jude sich beschäftige, antwortet: „Ich setze die Abenteuer des Hersch Ostropoler in Verse.“ Das läßt an Babels geplanten Herschele-Zyklus denken, aus dem 1918 in Petrograd „Schabos-Nahmeh“ erschien. Hersch Ostropoler war so etwas wie ein ostjüdischer Eulenspiegel, der lange Zeit am Hofe des ukrainischen chassidischen Rabbi Baruch aus Tuldzyn lebte und den gemütskranken Zaddik mit witzigen Einfällen erheiterte. Eine berühmte Sammlung der Geschichten vom Hersch stammt von Chajim Bloch.

Sechs Jahre bevor Babel seinen Erzähler von den „Stürmen der Phantasie“ sprechen läßt, klagt er (1918) : „In meinem Charakter liegt ein unerträglicher Zug zur Besessenheit und unrealen Haltung gegenüber der Wirklichkeit.“ Das sei zu überwinden. Die „Stürme der Phantasie“ zu bändigen und doch nicht zu dämpfen, sie zu beherrschen, das verhieß, die Wahrheit schonungslos und schön sagen zu können. „Ein Vergleich muß genau sein wie ein Rechenschieber und natürlich wie der Geruch des Dills“, sagte Babel 1921 zu Paustowski. Die Geschichte seiner Vorbilder ist die Geschichte der Disziplinierung seiner Prosa. Babel liebte Puschkin, Tschechow, Maupassant. Kiplings „eiserne Prosa“. Gorkis Novelle „Nach Hause“ aus dem Zyklus „Wanderungen durch Rußland“. Tolstois „Hadschi Murat“.

„Als ich ‚Hadschi Murat‘ wieder las“, sagte er 1937, „dachte ich, hier mußt du lernen. Hier ging ein Strom aus der Erde direkt in die Hand, direkt auf das Papier, ohne jede Wand, riß mit dem Wissen der Wahrheit alle Hüllen schonungslos herunter, doch diese Wahrheit trug, sobald sie sichtbar wurde, leichte und schöne Kleider.“ So sollten seine Geschichten sein: Voller heidnischer Lust, unmäßig wie das Leben, fabuliert, doch auf den Punkt genau überlegt. „Kein Eisen dringt glühender ins menschliche Herz als ein zur rechten Zeit gesetzter Punkt“, heißt es in „Guy de Maupassant“. Die Novelle war da gerade recht. Babel bezog sich später auf Goethes bekannte Definition. Aber das war eher eine Aushilfe. Babel erneuerte die Novelle in einer Weise wie wenige vor ihm. Boccaccio und Maupassant, Turgenew und Tschechow waren bei ihm aufgehoben – und neu entdeckt. Auch dem Novellenzyklus forderte er Neues ab. Es war, wie Tolstoi fünfzig Jahre zuvor formuliert hatte: „Angefangen bei Gogols ‚Toten Seelen‘ bis hin zu Dostojewskis ‚Totenhaus‘ gibt es in der neuen Periode der russischen Literatur nicht ein einziges Prosawerk, das nicht ein wenig über die Mittelmäßigkeit hinausginge, die in der Form des Romans, des Poems oder der Erzählung völlig Platz gefunden hätte.“

Man hat sich einen Text von der sprachlichen Dichte der Prosa Johannes Bobrowskis vorzustellen. Auch an den Iren Synge ist einmal erinnert worden. Ein englischer Kritiker verglich 1928 die „in natürlichen Rhythmen gebrachte urwüchsige Volkssprache“ der Novellen „Salz“ und „Ein Brief“ mit Synges Sprache im Stück „Ein Held der westlichen Welt“. Was Babel leistete, wird aus einer Gegenüberstellung deutlich. In Larissa Reisners „Front“ heißt es: „Einer hält eine Rede – ach, eine Rede hält er, eine ungestüme, von Fehlern strotzende, grobe Rede, die noch vor einer Woche nur ein schiefes Lächeln geerntet hätte – doch der Kapitän ersten Ranges hört sie mit klopfendem Herzen, mit fliegenden Händen, und fürchtet sich einzugestehen, daß das Rußland dieser Weiber, Deserteure und Grünschnäbel, das Rußland des Agitators Abram, der Mushiks und der Sowjets, daß das sein Rußland ist, für das er gekämpft hat und immer kämpfen wird, ohne Furcht vor Läusen, Hunger und Fehlern; noch weiß er nicht, noch fühlt er es nur, daß hier allein das Recht, das Leben, die Zukunft ist.“

So eine Stelle ist bei Babel undenkbar. Bei Babel stehen diese „Reden“ da, die Larissa Reisner beschreibt: als Brief, als Beschwerde, als Augenzeugenbericht, als Lebensbeschreibung, Ansprache, Dialog. Babel läßt die historischen Subjekte selbst auf ihre Taten sehen. Haltungen werden nicht auktorial erläutert, sondern in ihrer sprachlichen Evidenz festgehalten. Babel arbeitet oft mit dem Denksystem, mit der Sprache seiner Helden, ohne korrigierend einzugreifen, ohne andererseits die Begrenztheit dieses Systems zu überdecken. Im Russischen heißt es „Skas“. Bei uns spricht man von personalem Erzählen. Wichtig ist ihm die Gelegenheit, durch eine Anstrengung des Gewöhnlichen das Außerordentliche zu erforschen.

Der Unterschied zwischen dem zitierten Brief des Kosaken Samuil Fjodorowitsch Schadrin und den Briefen in „Ein Brief“, „Die Sonne Italien“, „Die Geschichte eines Pferdes“, „Salz“, „Fortsetzung der Geschichte eines Pferdes“ oder „Der Verrat“ besteht in der differierenden semantischen Funktion der Texte und ihrer Elemente. In „Der Verrat“ schreibt ein Kavallerist: „… wie Feuer brennt die Seele und sprengt das Gefängnis unseres Körpers.“ Es korrespondiert nicht zufällig mit dem Bekenntnis des Erzählers Ljutow, „dessen uralten Leib die Stürme der Phantasie fast sprengen.“ Die Struktur der „Reiterarmee“ baut mit dieser Energie: mit dem Vorgefühl und der Vorwegnahme einer „vollständigen Emanzipierung aller menschlichen Sinne und Eigenschaften“. Die Glückssuche der „Reiterarmee“ ist nur so zu verstehen. So auch der Ernst, mit dem in „Die Geschichte eines Pferdes“ und „Fortsetzung der Geschichte eines Pferdes“ um ein Pferd gekämpft wird: „Die Kommunistische Partei ist, soviel ich verstehe, zur Freude aller und zur Errichtung einer unbedingten, uneingeschränkten Gerechtigkeit gegründet worden und muß sich auch um die kleinen Leute kümmern. Nun möchte ich den Schimmelhengst erwähnen, welchen ich den unverbesserlichen, konterrevolutionären Bauern abgejagt habe und der dazumal ganz armselig ausgesehen hat; viele Genossen haben ungeniert darüber gelacht. Ich aber hatte die Kraft, ihr boshaftes Gelächter zu ertragen, und habe mit zusammengebissenen Zähnen den Hengst für unsere gemeinsame Sache bis zur gewünschten Veränderung gepflegt, weil ich, Genossen, ein Liebhaber weißer Pferde bin und sie mit den letzten Kräften pflege, die mir nach dem imperialistischen Krieg und dem Bürgerkrieg geblieben sind.“ Und nur so versteht sich jener vielfach mißdeutete Satz Ljutows über seinen Freund Chlebnikow: „… uns beide verzehrten die gleichen Leidenschaften. Wir blickten auf die Welt wie auf eine Wiese im Mai, eine Wiese voller Frauen und Pferde.“ Babel besänftigte nicht das Pathos durch die Ironie des Beobachters, wie gelegentlich behauptet wird, er überwindet die Ironie durch das Pathos der neuen Realität.

Die Sprache modelliert, noch bevor sie zum Baustoff der Literatur wird, in komplizierter Form die Vorstellungen von den Beziehungen der Phänomene im Leben. Sie enthält, was die Arbeit des menschlichen Bewußtseins eintrug, darunter auch, was aus früheren literarischen Strukturen in sie einging. Der Dichter arbeitet also gegen den Widerstand seines Materials. Der künstlerische Effekt seiner Arbeit ist immer ein Bündel von Verhältnissen, das etwa umfaßt: das Verhältnis des neuen Texts zu den ästhetischen Normen seiner Zeit, zu den gängigen Gattungsvorstellungen, zum Sujetbegriff, zur Erwartung des Lesers, die Verhältnisse innerhalb des Texts, also das Verhältnis des Erzählers mit fiktivem Persönlichkeitswert zur realen Persönlichkeit des Autors, das Verhältnis der verschiedenen Stilebenen zueinander usw. Johannes Bobrowski formulierte das einmal sehr deutlich in einem Interview von 1965 : „Ich fürchte eine gewisse Stagnation in der Entwicklung, wenn wir in dem bisherigen Literaturdeutsch bleiben. Und ich habe mich bemüht, volkstümliche Redewendungen, sehr handliche Redewendungen, eben volkstümliches Sprechen bis zum Jargon, mit einzubeziehen, um die Sprache ein bißchen lockerer, ein bißchen farbiger und lebendiger zu halten. Außerdem geht das auch auf die Syntax. Ich bemühe mich um verkürzte Satzformen, um im Deutschen nicht sehr gebräuchliche Konstruktionen, die alle etwas Handliches haben.“ Bobrowski hat vom personalen Erzählen viel gehalten, und nicht zufällig imponierte ihm eine von Babels Tagebuchnotizen so, daß er sie als vorletzten Absatz in „Ich will fortgehn“ hereinnahm. Es ist: „Djakow kommt. Das Gespräch ist kurz: Für dieses Pferd kannst du fünfzehntausend bekommen, für jenes zwanzig. Wenn es aufsteht, dann ist es ein Pferd.“ Babel verwandte die gleiche Notiz in der Novelle „Der Chef der Kavalleriereserve“.

Die Sprachmischungen der „Reiterarmee“ sind so kompliziert wie in Bloks „Zwölf“ oder Majakowskis „Gut und schön“. Es ist keineswegs damit getan, die Herkunft der einzelnen Elemente zu benennen: Bauernrussisch, Militärjargon, Revolutionsvokabular, chassidische Beredsamkeit. Stilbildend ist das Nebeneinander und Gegeneinander der Polaritäten, die wechselnde Vereinigung des vorher Unvereinbaren. Und die polemische Korrespondenz dieses Verfahrens zur vorliegenden Literatursprache. Die Übersetzung muß vieles unterschlagen. Der stilistischen Funktion regelwidriger Grammatik in den „Briefen“, der Volksetymologien, des Nebeneinanders von Amtssprache, revolutionärer Losung und Dialekt, der Ukrainismen und Hebraismen kann die andere Sprache nur selten gerecht werden. Aber das sind die üblichen Verluste. Die Spannungen, die die Worte, Sätze, Absätze und Novellen zusammenhalten, sind durchaus zu reproduzieren. Freilich bleibt das schwer. Denn: „Ein Satz wird geboren – schön und häßlich zugleich. Das Geheimnis besteht in der kaum spürbaren Umstellung. Der Hebel muß gut in der Hand liegen und warm werden. Umstellen muß man in einem Zug, nicht in mehreren.“ „Berestetschko“ bietet sich als Beispiel an.

Die Novelle heißt so nach dem polnisch-russischen Grenzstädtchen und beginnt, wie fast alle Novellen, mit der Information über einen Ortswechsel: „Wir zogen von Chotin nach Berestetschko.“ Das schafft, wie die zusätzliche Datierung und geographische Festlegung von zwölf Novellen am Schluß des Texts (zum Beispiel „Bei Sankt Valentin“ mit „Berestetschko, August 1920“) jene „Authentizität“, die Babel für den Aufbau seiner Struktur brauchte: Sie gehört zum System der semantischen Steigerung der Autentica wie „Brief“, „Beschwerde“, „Ansprache“ und „Lebensbeschreibung“, in denen Fiktion das Dokument „dokumentarischer“ macht. In diesem Sinn ist Gorki zu verstehen, wenn er schreibt: „Wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie, hoffe ich, Babel zustimmen, weil die Soldaten seiner ‚Reiterarmee‘ mehr Menschen sind als die Soldaten Budjonnys.“

„Wir zogen von Chotin nach Berestetschko.“ Das ständige Unterwegssein der 1. Reiterarmee kann gefaßt werden: „Nowograd-Wolynsk, Juli 1920“, „Belew, Juli 1920“, „Brody, August 1920“ usw. (wobei zu bemerken ist, daß Babel diese „Chronologie“ nicht wahrt.) Und: „Ich schlage mich nach Leszniów durch…“, „Gestern abend nahm unsere Division Berestetschko“, „Die 6. Division hatte sich im Wald beim Dorf Tschesniki gesammelt…“ usw. Der große Bilderbogen, die sinnliche Gleichzeitigkeit, an den Bauernbreughel erinnernd, Babels Struktur ohne Mitte, nach allen Seiten offen – gibt eine Entsprechung für diesen technisch wie sozial und historisch dynamischen Teil der jungen Roten Armee.

„Berestetschko“ rückt die Zeiten zusammen: Auf den tausendjährigen Grabhügeln verstümmelte Leichen. Am Grabe Bogdan Chmelnizkis das Lied der Bauern von vergangenem Kosakenruhm. Die jahrhundertealte Tradition einer dürftigen Architektur. „Der Ort stank in Erwartung einer neuen Ära…“ Das verlassene Schloß des einstigen Herrschers über Berestetschko und die Rede Winogradows über den Zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale und der französische Brief von 1820: „Berestetschko, 1820. Paul, mein Geliebter, man sagt, Kaiser Napoleon sei tot, ist das wahr? Ich fühle mich wohl, die Niederkunft ist leicht gewesen, unser kleiner Held wird schon bald sieben Wochen alt.“ „Berestetschko“ schließt: „Und unten ertönt noch immer die Stimme des Kriegskommissars. Voll Leidenschaft überzeugt er die staunenden Kleinbürger und die ausgeplünderten Juden: ‚Ihr seid die Macht. Alles, was hier ist, gehört euch. Es gibt keine Pans mehr. Ich schreite zur Wahl des Revolutionskomitees…'“

Neue Räume tun sich auf. Es ist eine Prosa der weiten Perspektive. Babels fünf Minuten beherbergen die Welt. Der Banduraspieler, der von vergangenem Ruhm singt, der Kosak, der tötet, Winogradow, der die Zukunft für angebrochen erklärt, der Kleinbürger, der staunt, Ljutow, der einen Brief von 1820 findet – sie stehen in der Geschichte. Das ist freilich keine Geschichtlichkeit quantitativer Art. Es gibt bei Babel keine Schlacht von Waterloo oder Borodino. Das ist ihm seinerzeit vorgeworfen worden. Schlachten sind bei Babel entweder vorbei („Gestern abend nahm unsere Division Berestetschko“, beginnt „Bei Sankt Valentin“) oder noch voraus („Und auf das Zeichen des Divisionschefs begannen wir die Attacke, die unvergeßliche Attacke auf Tschesniki“, schließt Tschesniki). In „Afonka Bida“ gibt es diesen Absatz:

„Am nächsten Morgen war Afonka verschwunden. Bei Brody begannen Kämpfe und hörten wieder auf. Niederlage wechselte mit vorübergehendem Sieg; wir bekamen einen neuen Divisionskommandeur. Afonka aber war noch immer nicht da. Nur das drohende Gemurr in den Dörfern bezeichnete die böse Raubtierspur seines Leidensweges.“ Er besorgte sich ein Pferd.

Diese Verschiebung der Proportionen führt zu der verblüffenden historischen Sättigung der „fünf Minuten“, also zur besonderen Art der epischen Dimension der „Reiterarmee“. Bis zum äußersten erkundet, wird die Realität phantastisch. Nicht nur Babels Gestalten, auch seine Landschaften sind von dieser Phantastik. Man verglich sie mit Kulissen. Das hat etwas für sich, denn es betont ihre relative Selbständigkeit. Da es bei Babel keine „Seelenlandschaften“ gibt, bleibt die geographische Szenerie seiner Novellen frei von expliziter Psychologie. In „Berestetschko“ gibt Babel der Landschaft drei Funktionen: die Geschichtlichkeit der Gegend aufzurufen; die sozialphysiologische Skizze des Grenzorts zu zeichnen, die ein Drittel der knapp drei Seiten einnimmt, und natürlich ihre Aufgabe nicht nur für „Berestetschko“, sondern für den ganzen Zyklus hat; und die aktuelle Atmosphäre der „fünf Minuten“ zu fixieren („Die Stille des Sonnenuntergangs färbte die Gräser vor dem Schloß blau…“ – „… sah über Wiesen hin, wo Nymphen mit ausgestochenen Augen alte Reigen tanzten“). Der Wechsel der Einstellungen erfolgt übergangslos. Auch die Landschaftsschilderung dient Babel dazu, die Assoziationsarbeit des Lesers durch genau berechneten Schnitt der Erkenntnis nutzbar zu machen. Wieviel Mühe Babel auf die richtige Anordnung der Elemente verwandte, ist gut zu verfolgen an Hand der Entwürfe für „Kampf um Brody“.

Im Tagebuch steht eine lange Eintragung vom 7. August 1920, beginnend mit: „Denkwürdiger Tag. Morgens von Chotin nach Berestetschko.“ Vergleicht man die Notiz mit der Novelle, so stellt man als Wichtigstes fest: Jeder Affekt, jedes Staunen, diese äußere Überraschung des Moments ist fort. Aufgesucht ist der historische Angelpunkt des Staunenerregenden, Überraschenden. Und: der historische Angelpunkt für den Affekt des Tagebuchs. Denn die „Reiterarmee“ erzählt zugleich, wie das Tagebuch aufgehoben wurde – bewahrt, potenziert und überwunden. Im Brief vom 13. August 1920 hieß es: „Ich habe hier zwei Wochen völliger Verzweiflung hinter mir, das kam von der rasenden Grausamkeit, die hier nicht eine Minute innehält, und davon, daß ich deutlich begriffen habe, wie ungeeignet ich für das Werk der Zerstörung bin, wie schwer es mir wird, mich vom alten zu lösen, von … dem, was vielleicht schlecht ist, für mich aber Poesie atmete wie der Bienenstock Honig; jetzt komme ich wieder zu mir, was soll da weiter sein – die einen werden die Revolution machen, und ich werde das singen, was sich abseits findet, was tiefer liegt, ich habe das Gefühl, daß ich das kann und daß dafür Platz und Zeit sein wird.“ Keine Drückebergerei. Es war die früheste Formulierung der Erzählperspektive der kommenden „Reiterarmee“. Noch undeutlich wie das ganze Werk im Jahre 1920. Ungefüge, kein Vergleich mit der exakten Tolstoi-Gegenüberstellung von 1937. „Abseits“ bezog sich nicht auf einen Platz außerhalb der Revolution, und „tiefer“ meinte die Tiefe der Revolution. Babel hat tatsächlich noch am Entferntesten, Ungeeignetsten das Außerordentliche des Neuen demonstriert und dieser neuen Außerordentlichkeit damit von vornherein die falsche Glorie versagt.

Weder im Tagebuch noch in den Entwürfen und Notizen gibt es einen Hinweis auf den Erzähler.

(Konzepte Leipzig : S. 79-87)