Echo auf: Ilse Aichinger, Eine Zigarre mit Churchill

Die Germersheimer Schreibübung mit Studierenden, die in der Mehrheit keine deutschen Muttersprachlerinnen sind, geht ins dritte Semester. Eine vage Klammer ist durch den Titel „In der Welt sein: Begegnungen“ vorgegeben. Die ersten beiden Texte reagieren auf einen ehemaligen Zeitungsartikel von Ilse Aichinger im Wiener „Standard“.

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender: Sie reicht nicht zur Stille, um so mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge: »Hier siehst du mich« – aber wen sieht man, zwischen Eisbergen oder an Dattelpalmen gelehnt? Wieder nur sich selbst. Deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren. Die Qualität der Entdeckungen wächst, bringt Ruhe und neue Aufbruchsmöglichkeiten. So war ich vor kurzem einmal nicht in Wien, sondern in einem echten Wachsfigurenkabinett, bei Madame Tussaud’s.

   Es gibt Reisen, die in die Ferne, und solche, die in die Geschichte führen – zum Beispiel zu Madame Tussaud, einst wohnhaft nahe der Baker Street, wo Sherlock Holmes ein Museum für seine Nichtexistenz bekam. Bevor sie, weil das Geschäft ihres ersten Wachsfigurenunternehmens in Paris nachgelassen hatte, 1802 nach London kam, hatte die 1761 in Straßburg getaufte Marie Grossholtz (die spätere Madame Tussaud) schon eine Ausbildung in Anatomie genossen: Ihre Mutter nahm eine Stellung im Haus des Arztes Philipp Curtius an, der anatomische Figuren in Wachs nachbildete und mit deren Ausstellung reich wurde. Marie bildete früh Benjamin Franklin nach, Dr. Curtius zwang sie aber auch, während der Französischen Revolution Leichenhaufen nach gut modellierbaren oder prominenten Köpfen zu durchsuchen.

   So blieb sie immerhin in einer Gesellschaft, die besser war als die hohe, und geschickt nahm sie auch Robespierre die Totenmaske ab. Gegen Ende der Revolution starb Dr. Curtius, Marie erbte die Ausstellung. Es war, wenn man sich die Eintrittskarte leisten konnte, eine Vorform des Kinos, noch vor den Panoramen, aber die Pariser hatten schon zu oft denselben Wachs-Film gesehen, so daß Madame Tussaud, wie sie sich nannte, nach England aufbrach und 33 Jahre durch England tourte, Hauptattraktion: die Totenmaske Napoleon Bonapartes. Als bei einer Überfahrt nach Irland die stürmische irische See einmal das Schiff zum Kentern brachte, überlebten wenige, aber Madame Tussaud und einige ihrer Figuren stiegen, nicht ganz trocken zwar, aber doch, an Land. Mit 74 beschloß sie, sich in London niederzulassen, nicht weit von der heutigen Filiale. 1850 starb sie mit 89 Jahren, ihre Söhne und Enkelsöhne führten die Ausstellung weiter und verlegten sie 1884 an den jetzigen Ort.

   Die »Chamber of Horrors« hieß noch nicht so, aber der Scharfrichter Marwood kam oft hierher, um Figuren zu besuchen, die er hingerichtet hatte. Jetzt steht, seit dem Zweiten Weltkrieg, am Eingang der »Chamber of Horrors« die Figur Adolf Hitlers. Ihn zu besuchen lohnt sich: Er sieht in Wachs genauso unbedeutend aus wie in Wirklichkeit, ein Nobody, bei dem ich schon 1938 nicht verstand, warum ihm so viele nachliefen. Er ist ein Grund, bei jeder Englandreise dem Kabinett einen Besuch abzustatten. Ein anderer Grund ist der sehr gut modellierte Winston Churchill. Gerne würde man ihn auf eine Zigarre einladen, an Hitler vorbeispazieren und Zigarrenasche fallen lassen.“

(In: Ilse Aichinger, „Unglaubwürdige Reisen“. Fischer Verlag. 2005)

Orange-rot


Wenn ich meine Augen schließe,
tragen mich meine Gedanken
stets zurück zu jenem Augustabend
im Parque de Bonaval.

Die heiße Luft des Sommertages
war unter den grünen Bäumen
besser zu ertragen
als in den steinernen Gassen,
die die Hitze zurückwarfen.

So war die Luft
zwischen den engstehenden Häusern
so heiß und schwer wie der Caldo,
den Mama in den Wintermonaten am liebsten hatte.

Doch über den Dächern von Santiago
wehte eine laue Brise und
rückblickend scheint es,
als habe der Wind geahnt,
was wir noch nicht wussten
und sich dazu entschieden,
uns tröstend durchs Haar zu streicheln.

Die Sonne ging ein letztes Mal
unter und tauchte die Türme der Kathedrale
in das orange-rote Licht,
für immer
die Farbe meines persönlichen Friedens.

Ich öffne die Augen
und mein Kopf reist zurück in die Gegenwart.
Ich sehe, wie die Sonne
über den Bäumen am Rhein aufgeht
und sich der Himmel
orange-rot verfärbt.
Die Blätter der Bäume rauschen im Wind,
und für einen Moment ist es friedlich auf der Welt

Anne-Sophie Preuß

Eine Reise in die Vergangenheit

Ich gehe ins Bett. Ich bin so müde, dass ich in den ersten fünf Minuten einschlafen müsste. Aber ich kann nicht. Mein Kopf will nicht. Und er fängt an, bewegende Erfahrungen zur Erinnerung zu bringen. In den meisten war ich ein Kind, ohne Sorgen, ohne Probleme, die der heutige Alltag uns verursacht. Aber mein Gedächtnis konzentriert sich vielmals intensiv auf unangenehme Erfahrungen, die ich auf einigen Reisen gemacht habe. Erfahrungen mit großer Macht. Erfahrungen, die die Persönlichkeit eines Menschen verändern können. Und ich werde dieses Gefühl nie vergessen. Ich werde meinen Besuch in Dachau nie vergessen. Tod, Folter, Sklaverei sind nur einige der Begriffe, die ich so intensiv fühlte, als ich zum ersten Mal in das Zimmer mit der so zynischen Inschrift „Brausebad” trat. In diesem Moment wurde die Geschichte, die ich nur in Büchern gelesen habe, in meinem Kopf reproduziert. Ich konnte nicht fassen, dass ein Mensch zu solchen Taten fähig sein könnte. Ich schloss meine Augen und versuchte mir vorzustellen, wie sich ein Kommunist, ein Jude oder im Allgemeinen ein Feind des Nationalsozialismus in einer solchen Lage fühlte. Angst vor dem Tod, Verzweiflung und Schmerz. Die wichtigen Probleme des Alltags sahen nunmehr unwichtig aus. Mein Gedächtnis speicherte dieses Gefühl. Diese Reise war nicht nur ein Erlebnis. Es war nicht nur ein Museumsbesuch. Es war eine Erinnerung an das, was menschlicher Hass bewirken kann. Gefühle wie Mitleid und Empathie haben sich in mein Herz eingraviert. Es war eine Reise voller Emotionen. Es war eine Reise in die Vergangenheit.

Petros Dramitinos

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert