Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!

Die bürgerliche Gesellschaft kann sich nicht ausruhen auf einst errungenen Siegen oder Zugeständnissen der herrschenden Kaste. Sie wird von Partikularkräften auseinandergerissen. Demokratie muß heute nicht erkämpft werden, sie muß überzeugen. Verliert eine einst demokratisch legitimierte Funktionärsschicht die Bürgernähe, selbst wenn sie nur eine vermeintliche Minderheit ausgrenzt, diskriminiert, verfemt und verfolgt, pflanzt sie damit den Spaltpilz.

Mit dem Advent 2021 beginnt zum zweiten Mal ein Winter, in dem die Menschen in die Vereinzelung geschickt und die Kultur stillgelegt wird. Sozialismus oder Barbarei – so  beschrieb Rosa Luxemburg im Ersten Weltkrieg den Scheideweg, an dem die Gesellschaft ihrer Meinung nach stand. Wir Nachgeborenen wissen, daß sich die Gesellschaft damals für die Barbarei entschied. Im April letzten Jahres formulierte Slavoj Žižek das Schlagwort angesichts der Herausforderungen und Zumutungen durch Corona um in Katastrophenkommunismus oder Barbarei. Heute stellen wir fest: Es macht keinen Unterschied.

Welche Perspektive bietet die aktuelle Politik? Gegenwärtig dreht sie das Rad von der vierten Welle / dritten Impfung weiter zur fünften Welle / vierten Impfung und so fort ad infinitum. Die aktuellen Meldeformulare des RKI für die Krankenhäuser reichen gerade bis zur 6. Impfung 2023. Die Phantasie- und Perspektivlosigkeit der politischen Entscheider ist es, die sie auf den vermeintlich bequemen Weg der Verbote, Einschränkungen und Zwangs­maßnahmen, bis hin zur (teilweisen) Impfpflicht verführt. Die von den Funktionären verbreitete Perspektivlosigkeit und die Behauptung, sie sei alternativlos, zieht die Zuspitzung der Lage nach sich: Wenn kein echter Kurswechsel vollzogen wird, werden die  Entscheider an den Punkt kommen, wo sie  nicht mehr können, und die Menschen, über deren Köpfe hinweg entschieden wird, werden nicht mehr wollen. Wie sprach Laozi, der große Weisheitslehrer der Menschheit, in Kapitel 72 seines Buches Vom Weg und der Wirkkraft?

Fürchtet das Volk Abschreckung nicht,
folgt der große Schrecken.

Ohne Enge sei Platz zum Wohnen,
ohne Überdruß der Lebensalltag.

Nur wer es nicht zum Überdruß reizt,
dessen wird es nicht überdrüssig …

Manche mögen sich an Lenin erinnert fühlen: „Erst dann, wenn die Unterschichten das Alte nicht mehr wollen und die Oberschichten in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen.“ (W. I. Lenin, Der ‘linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kom­mu­nismus, Berlin: Dietz 1959, S. 738)

Der Überdruß wächst. Solange Ausgrenzung, Diskriminierung und Diffamierung von staatlicher Seite betrieben werden, weitet sich der Kulturbarbarismus aus und es entwickelt sich eine revolutionäre Stimmung, erst in den Niederlanden und Belgien, dann in Österreich, jetzt in auch Deutschland. Die Ostdeutschen haben Erfahrung mit friedlichem Widerstand. Der System­zusam­menbruch von 1989 ist noch in frischer Erinnerung. Auch damals ahnten viele zunächst nichts davon und verharrten in ihrer Kleingartensparte (Osten) oder Wellnessoase (Westen), lenkten sich ab und betäubten sich mit Selbstbeschäftigung. Manch ein heutiger Ministerpräsident besuchte 1989 noch die Grundschule oder Polytechnische Oberschule – kein Wunder, daß sie kein Gespür für den autoritären Gestus haben, auf den lebenserfahrene Menschen allergisch reagieren, Gesundheit hin oder her.

Eine Bevormundung wie in der DDR will sich keiner mehr bieten lassen, schon gar keinen vormundschaftlichen Staat – das ist die Karte, die jetzt gespielt wird. Beide Seiten haben technisch aufgerüstet, das Internet ermöglicht schnelle Kommunikation und Netzwerkbildung. Was in Tunesien, Algerien, Georgien, der Ukraine, Weißrussland aus der Ferne nur demokratie­theoretisch ge­priesen wird, will man demokratiepraktisch hierzulande nicht eingestehen: eine orangene Revo­lution. Tatsächlich sind es die Eliten der repräsentativen Parteiendemokratie, die sich eigendynamisch, oder sagen wir eigenmächtig von der Bevölkerung abgekoppelt haben. 20 Monate Regieren auf dem Verordnungsweg hat autoritäres Durchgreifen salonfähig gemacht. Daß es um Gesundheit geht, nimmt der Regierung kaum noch jemand ab – dazu haben sich die öffentlichen Medien in zu viele, für jedermann und jedefrau offenkundige Widersprüche verstrickt, Stichwort „Vollaufen der Intensivbetten“ als scheinheilige „Begründung“ für sämtliche Freiheitsbeschränkungen, während im Hintergrund die vorhandene Bettenkapazität als Folge eines bis in die Wurzeln mit monetären Fehlanreizen aufgestellten, profitorientierten „Gesundheitssystems“ still und heimlich abgebaut wird. Wer es nicht glauben mag, blicke ins Ärzteblatt vom 10.12.2021: aktuell wurden 34 Kran­ken­häuser mit Mitteln aus dem staatlichen Strukturfonds geschlossen …

Wenn die Politik nicht in der Lage ist, das Gesundheitssystem so zu steuern, daß es für die Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung da ist statt für diverse Profitinteressen, wenn sie nicht in der Lage ist, in den letzten Jahren – bereits lange vor Corona – politisch gesetzte finanzielle Fehlanreize im System rückabzuwickeln, d.h. das Fallpauschalensystem postwendend abzuschaffen, wenn sie sich stattdessen von den Interessenvertretern, die am (vermeintlichen) Kranksein der Menschen verdienen, vor sich hertreiben läßt, dann ist der Punkt erreicht, an dem sie der Bevölkerung die Schuld dafür nicht in die Schuhe schieben kann.

Ist das nun nur eine revolutionäre Stimmung, befeuert im Stundentakt von ein paar sozialen Medien, oder ist das schon eine revolutionäre Situation? Will die Bevölkerung nicht mehr – Stichwort: Es reicht! – wie es auf den Demonstrationen immer wieder zu hören ist, und die Re­gie­rungen können nicht mehr, was sich in immer hilfloser erscheinenden Polizeieinsätzen, mittler­weile bereits gegen Alte und Kinder zeigt?

In der „östlichen“, d.h. griechisch-römischen, „autoritären Demokratie“, die uns Europäern in die kulturelle Wiege gelegt wird, ist es Usus, daß die Mehrheit über die Minderheit hinweg entscheidet und sich im Recht fühlt. Im Unterschied dazu beruht die „westliche“, d.h. indigen-amerikanische Demokratie auf dem Grundsatz, die Minderheit nach ihrer Façon leben zu lassen. Denn unzufriedene Minderheiten bedeuten Explosivstoff für die gesamte Gesellschaft. Reife Gesellschaften schützen ihre Minderheiten gegen die überbordende Macht der Mehrheit. Die europäische Demokratie hat daraus 1789 ihren bis heute uneingelösten Wahlspruch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit abgeleitet. Diese indianische Weisheit scheint den europäischen Regie­rungen während der Pan­demie abhanden gekommen zu sein. Stattdessen glauben die Funktionäre, sie könnten den (vermeintlichen) Mehrheits­willen mit Zwang und Gewalt durchsetzen. Damit heizen sie die Spannung an und steuern geraden­wegs auf jenen Kippunkt zu, den sie eigentlich umschiffen wollen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit werden der Bevölkerung nicht geschenkt, sondern müssen in jeder Zeit auf’s Neue eingefordert werden. Heute bedeuten sie das sofortige Ende jeglicher faktischen Ausgrenzung und Diskriminie­rung in Form von „1G“, „2G“ oder „3G“. Daran zeigt sich, ob die Demokratie lernfähig ist.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

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