Tanz’, Brüderchen, aber sieh zu, daß du niemandem auf die Füßchen trittst

WELIMIR CHLEBNIKOW  

Tod der Zukunft

  

I.     Mein Freund, wofür? Verwandter, gewandt! Zurück!

– Den Tempel aus Schüssen in meiner Hand,

Fünf Augen,

Fünf dunkle Flecken.

Ganz in Blut zucken Gimpel röter-röter auf dem Hemd.

Ließen flatternd sich nieder im Gebüsch, meiner Brust.

Ich starb und röchle, wie traurig.

Fünf Löcher in meiner Brust.

  

II.   Stirb nur und röchle.

  

I.     Keine Tat eines Anfängers.

Ich lobe dich, Verbrecher.

Hast mich zum Sieb gemacht.

Und jede Köchin wird dir dafür danken.

Verdammt! so ist es – glücklos.

Dabei wollte ich noch übern Newski schlendern.

Beginnen das Buch der Sonne, ihren Frühling.

Du gestattest die Frage, warum?

Ich werde es gleich erfahren.

Welch großes Buch hier auf dem Tisch.

  

II.   Ich weiß es doch selbst nicht, versteh, o Mensch!

  

I.     Sag, wann wurdest du geboren?

Tag, Jahr, Atemzug, Augenblick?

  

II.   Am sechsten Tag im Spiel der Klüfte,

Ein grüner Stern im Himmel kreuzte

Der Nächte Weg, strahlend wie Gott in der Höhe.

  

I.     Wunderbar, sieh her – Gesetz: jetzt

Öffne ich diese Klammer

Und bringe alles Geteilte nach außen.

Unserer Herkunft

Gemeinsamen Nenner.

  

II.   O nein, nicht so

Hatte der große Alte es verkündet:

Zu kennen Ort und Zeit genügte.

Und auch da müsste es anders sein:

Da stimmen die Potenzen nicht.

Wir vergaßen den Teiler gi-gi.

  

I.     Ha-ha, du kennst die Formel Murmel nicht!

  

II.   Welch schiefer und schwieriger Weg.

Da lob ich mir doch die Methode Wik-Wak-Wok,

Die hilft beim Rechnen.

  

I.     Ha, wundervoller Wahrheit erster Schimmer

Hängt schon überm Feld der Gleichungen.

Ich bin beim Sinn des Ganzen angelangt.

  

II.   Ja-ja, so ist es recht!

Genau das ist der Weg.

Die Klammern müssen verschwinden.

Ganz klar, ich musste töten. Aus diesem Grunde!

Ich danke Euch für die Erleuchtung.

Für des Gedankens präzise Arbeit.

  

I.     Und ich verstehe nicht, von welcher Potenz.

Doch neigen die Ahnen sich mir zu in letzter Wolke.

  

II.   Ich verstehe – und danke dem Getöteten.

  

I.     Ich danke dir, Mörder!

Einen Grund zum Denken gabst du mir.

So drücke ich fest die Hand

Dem grausamen Mörder.

  

(April 1921)  

  

WA SIS TD ASS OZ IALE?

PUNK IM SCHRANK: WIE

EIN GEDANKE DIE WELT

SPALTET IM SICH ANDI R

Chlebnikow

Als Chlebnikow starb, bezeichnete ein überaus vorsichtiger Kritiker sein ganzes Werk als „unsinnige Versuche, die Sprache und den Vers zu erneuern“, und erklärte im Namen „nicht nur der literarischen Konservativen“ sein „unpoetische Poesie“ für nutzlos. Alles hängt natürlich davon ab, was der Kritiker unter dem Wort Literatur verstand. Wenn man unter Literatur die Peripherie der literarischen und journalistischen Produktion, die Oberflächlichkeit vorsichtiger Gedanken versteht, dann hat er recht. Aber es gibt eine Literatur in der Tiefe, die erbitterter Kampf um eine neue Sicht ist, mit fruchtlosen Erfolgen, mit notwendigen bewußten „Fehlern“, mit entschlossenen Aufständen, mit Verhandlungen, Gefechten und Toden. Und die Tode pflegten bei diesem Werk echt, nicht metaphorisch zu sein. Tode von Menschen und von Generationen.

(In: Fritz Mierau (Hrsg.): Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, Leipzig 1987, S. 423)

Im Vektorraum (5)

Dafür tobte in seinem Innern ein Wirbelsturm. Er hätte nicht beschreiben können, an welchem Ort sich die Luftschichten wie wild ineinander schoben, was sie alles mit sich rissen und dem ewigen Kreislauf der Dinge als geschredderte Ursubstanz neu zur Verfügung stellten. Er wußte nicht einmal, ob er es noch war, der dem Toben der Elemente so seelenruhig zusah wie ein Angler den treibenden Blättern im herbstlichen Fluß.

Driftend

Die Schiffe treiben im Nebel. Baumspitzen zwischen Felsen steigen und sinken.

Die Münder verschlossene Flaschen im Keller – die größte der Sorgen, daß der Wein nicht nach Kork schmecken möge.

Die Bacchanten sielen sich in ozeanischer Gesundheit. Der Prophet schluckt herunter, was ihm nicht bekommen kann. Alles fließt, kein Sand weit und breit.

Im Vektorraum (4)

Egal wie es passiert – es passiert immer wieder. Er streckte seine Hand aus nach dem Gegenstand dort vorn, er versuchte den Arm zu bewegen, seine rechte Schulter schob sich um winzige Unendlichkeiten nach vorn, doch die Hand blieb liegen wo sie war. Er ließ sich in seinem Sessel zurückfallen, sein Rücken versank im gepolsterten Hintergrund wie ein kaum zu Ende gedachter Gedanke. Seit er den Arm nicht mehr bewegen konnte, bewegten sich seine Augen um so mehr. Eigentlich waren es gar nicht seine Augen, die sich bewegten. Von Zeit zu Zeit lief ein Zittern durch die Augäpfel, gefolgt von einem Zucken der Wimpern. Die restlichen Teile seines Körpers lagen so still wie die Planken eines Schiffs auf dem Meeresgrund.

Im Krater

Augensternwasser rinnt die Himmelskugel hinab, schlimmer als tausend Sternschnuppen kurz vorm Erkalten. Die Kohle glüht unterm Weltengrill, alle Besen bereit fürs große Fegen. So viel Wolkensalat zwischen Himmel und Erde, immer dunstig. Der Geysir erwartet seine Stunde. Wenn die Raumbezirke aneinander reiben und sich zu durchdringen beginnen, wird die kommende Verdunklung spürbar: eine Nacht, länger als hundert Tage, kriecht aus der Schnecke heraus, die das Raum-Zeitgehäuse der körperlichen Welt bildet. Noch hält ihre Kruste; der Druck aber, drohendes Ungleichgewicht der Kräfte, murmelt ein Gedicht von hier nach dort, dort nach hier.

Rätsel um Pi und Baby

Es traf mich als Blitz aus heiterem Himmel. Mein zwölfjähriger Neffe Alfred stellte mir anläßlich eines Sonntagsausflugs die Frage, ob wirklich alle Zahlen gleich seien oder ob es nicht doch Zahlen gibt, die anders sind als die meisten. Sein Freund Brinki habe ihm nämlich neulich ‚was von einer Zahl Pi erzählt – der Zahl aller Zahlen – und wer diese Zahl kennt, so Brinki laut Alfred, der sei ein glücklicher Mensch, der hätte das Geheimnis des Universums in der Tasche, der hätte Zugang zu den wildesten Welten. Ob ich diese Zahl kennen würde: Aber natürlich, und im Nu war ich mitten im Vortrag über rationale und irrationale Zahlen, Grenzwerte – den ganzen Schmuhs, den ich selbst in der Schule und später auf der Universität gelernt hatte, so wie man lernt, daß gelb auf englisch yellow heißt und blau blues. Irgendwann unterbrach mich Alfred mit entsetztem Blick und meinte, wenn das wilde Welten seien, dann wäre das Murmeltier der Tiger unter den Menschen. Sein Einwand entsetzte mich. Die Klarheit dieser Metaphorik hatte etwas von himmelblauer Eisluft. Von einem Augenblick auf den nächsten spürte ich die Langeweile von Jahrmillionen an mir vorüberziehen.

Zahlen, wer wüßte nicht, was das ist. Haste was, dann kannste auch. Aber diese Zahlen waren doch ziemlich langweilig: Mit der Erkenntnis dessen, was Münzen sind – und dazu genügt es wohl, eine, zwei oder drei zur Verfügung zu haben – läuft alles nur noch darauf hinaus, möglichst viel von dem Zeug anzuhäufen. Das mag ja nun tatsächlich ein praktisches Problem sein – Könige, Kaiser, sogar Päpste sind daran gescheitert – aber für die Freiheit der Phantasie läuft alles das aufs immer Gleiche hinaus: Haste noch nich‘ genug, dann nimm noch ‚was dazu. Das einzige Problem, mit dem sich die Phantasie dabei konfrontiert sieht, ist die Frage, wie ich denn einem mitfühlenden Wesen den Umfang meines Reichtums beschreiben könnte. Dann geht es also darum, Namen für das stets Neue zu erfinden. Aber Namen gibt es für alle Dinge, und die Dinge sind ja nun bei weitem interessantere Wirklichkeiten als diese eine Münze, deren unbeschränkt augestapelte Doppelgängerinnen einen Turm ergeben, der als Turm ganz sicher irgendwann zusammenstürzen muß. Bilde ich mir aber ein, ich könnte immer so weiter hochstapeln, dann ist meine Phantasie in der Tat eine kranke – keine wirkliche Welt wird auch nur in dem Schein bestehen können, mich als Hochstapler dauerhaft zu ertragen: den Münzenmann, der nichts als Stapeln kann. Eine solche Welt wäre in der Tat eine kranke. Grüß Gott, Babylon.

Wo Zweifel ist, wächst auch die Verzweiflung …

Das Wesen Mensch

Laudatio zu einer Ausstellung von Jens Ossada, Schloß Rochsburg

Das Wesen Mensch — wer denkt da nicht an die Kreatur, die Schöpfung Gottes. Oder, um ein anderen Glaubenssatz zu benennen, an die „bio-psycho-soziale Einheit Mensch“. Den Maler und Skulpturenbauer Jens Ossada beschäftigt die Frage, worin das Wesen des Menschen besteht, ohne sich davon abschrecken zu lassen, daß es auf diese Frage keine endgültige Antwort geben kann. Ihm kommt es auf die Suche an, nicht auf das Finden.

Ossada fertigt Konzeptkunst. Das ideologische Vakuum, in das der Osten Deutschlands 1989 stürzte, füllt Ossada als Suchender mit Gegen-Sätzen aus: Er ist mutig genug, seine persönlichen Standpunkte an die Stelle realsozialistischer und postmodern-spätkapitalistischer Dogmen zu setzen. Er befindet sich in der gegenwärtigen Zeit, indem er ihre Abfälle als Material verwendet, und er ist gegen sie, indem er sie nicht blind und widerspruchslos anerkennt.

Daß Ossada damit seiner Kunst eine gewisse Plakativität verleiht, stößt zur Auseinandersetzung an: Auch Ossada will mit seinen Werthaltungen wieder überwunden werden. Besonders gelungen sind die Materialarbeiten, bei denen das vordergründig Ideologische hinter den Ready-made-Charakter vor­gefundener Alltagsgegenstände wie Handschuh oder Jacke zurücktritt. Hier kann der Betrachter anknüpfen, findet scheinbar Vertrautes und ist überrascht vom ungewohnten Zusammenhang, in den es gestellt ist. So erinnert die Komposition der ausgestopften Kleider in „Nur die anderen“ auf gespenstische Weise an Giftgastote im ersten Weltkrieg oder die Kleiderkammer der getöteten Juden in Auschwitz.

Peter Dombrowski, ein Leipziger Autor, der kürzlich sein Debüt vorlegte, formuliert es so: „Der Mensch ist das Tier, das weiß, das es kein Tier ist.“ Vieles im Menschen erinnert an das Tierreich. Wir entstammen ihm, aber sind wir ihm auch „entsprungen“? „Entsprungen“ im Sinne, daß wir ihm nicht mehr angehören? Es gehört zu den menschlich, allzumenschlichen Illusionen, daß der Mensch alle guten Eigenschaften, die er an sich wahrnimmt und derer er sich rühmt, als menschliche Qualitäten einstuft, alles Böse aber, das sich in ihm äußert, Krieg und Verbrechen, als tierische Relikte betrachtet.

Was also ist der Mensch? Ist er Gottes Schöpfung, ist er Gottes Fleisch? Wir erfahren aus den heiligen Schriften nicht, wie Gott ist, sondern wie der Mensch beschaffen ist, der an Gott glaubt. Theologie läßt sich, um mit Feuerbach zu sprechen, in Anthropologie auflösen. Nicht Gott schuf den Menschen sich zum Bilde, sondern umgekehrt: Der Mensch schuf Gott sich zum Bilde. Der Mensch muß von Gott die Chance er­halten, ihm zu entsagen, damit er ihn freien Herzens lieben kann. Der wahre Gläubige ist ein Mensch, der auf den Glauben verzichten kann. Damit sind wir wieder bei dem, was Ossada als „Suche“ bezeichnet. Für ihn ist der Mensch ein „Suchender“. Wer das Göttliche gefunden hat, ist seiner nicht würdig.

In Rußland gab es eine Periode, in der Zar und Patriarchen der orthodoxen Kirche dem Volk harm­los erscheinende Reformen verordnen wollten: zweimal statt sich dreimal bekreuzigen, gegen den Lauf der Sonne statt mit dem Lauf der Sonne um die Kirche prozessieren etc. Die Abkehr von den alten Ritualen wurde als Häresie empfunden und löste die größe Widerstandsbewegung in der rus­sischen Geschichte aus, die mehr Opfer hatte als die Oktoberrevolution, die sogenannten raskolniki, nach denen Dostojewski seinen berühmten Helden in „Schuld und Sühne“ benannte. Sie wurden von der Armee des Zaren verfolgt, flüchteten in Sumpfwälder, wo sie sich als „Altgläubige“ bis heute niedergelassen haben und in priesterlosen Gemeinden leben: Sie brachten sich – zu einer Zeit, als in ganz Europa noch Analphabetentum herrschte – von Generation zu Generation Lesen und Schreiben bei, um selbst die alten kirchenslawischen Schriften beherzigen zu können. Menschen, die ihr Wesen erkennen und obrigkeitsstaatliche Führung ablehnen, um in einer selbstbestimmten Gemeinschaft zu leben, haben es nicht leicht im Staat – nicht nur im nachaufklärerischen Rußland.

Niklas Luhmann (1984, S. 346) erklärt den Begriff „Mensch“ für überflüssig. Der Autor fordert, den Men­schen nicht mehr – wie es der Bildzeitungsverbildete Laienphilosoph gern praktiziert – als „Element“ sozialer Systeme zu betrachten. Der so­genannte „gesunde Menschenverstand“ sieht sich selbst so gern als Teil eines großen gesellschaftlichen Ganzen, sei es, um sich darin auf­ge­ho­ben, sei es, um sich von ihm unterdrückt zu fühlen. Das Element sozialer Systeme sind nicht Menschen, sondern Kom­mu­ni­ka­tions­formen, Rollen. Nicht die Nase des Chefs ist entscheidend, sondern wie er mit seinen Mitarbeitern umgeht. Dasselbe läßt sich von Bundeskanzlerinnen oder Künstlern sagen. Wenn die Grund­lage sozialer Systeme Kommunikation ist und nicht der Mensch – d.h. nicht der Mensch in seiner Gesamtheit, sondern nur der in einem be­stimm­ten Zusammenhang kommuni­zie­rende Teil der Person – welche Rolle spielt der Mensch dann überhaupt? Wie läßt sich sein Ver­hältnis zur Gesellschaft, zum Staat, zur Natur, zur Industrie- und Maschinenwelt beschreiben? Ist der Mensch Gestalter oder Opfer seiner Umwelt?

Das Unbehagen bei dem Versuch, den Menschen nicht länger als Ele­ment sozialer Systeme zu betrachten, wirft ein Licht auf das Un­behagen der modernen Gesellschaft, die den Einzelnen nicht mehr in seiner Ganzheit beansprucht, son­dern nur noch in funktionalen Zu­sammenhängen. Nur noch wo wir als Arbeitskraft nützlich und verwertbar sind, werden wir gezählt. Es handelt sich hier um eine schleichende Faschistoierung des Lebens durch die Ökonomie. Das mag in manchen Fällen als schmerzhaft empfunden werden, mitunter als glücklicher Umstand, der Freiheit und Anonymität in der Rollenbegrenzung bedeutet. Die Inkar­nation der Ar­beits­teilung, die Fordsche Fabrik, hat die psychologische Frak­tio­nie­rung des Menschen mit wissenschaftlicher Akribie auf die Spitze getrieben: höchste Effektivität der Produktion zum Preis der kras­sesten Verarmung der Persönlichkeit der Arbeiter am Fließband. Ganz­heit­lichkeit ist nur – oder nur noch – in wenigen Momenten des Lebens zu finden, in der Kunst, der Poesie und man­chmal in der Liebe. Das läßt ihren Wert, auch subjektiv empfunden, steigen. Mit der künstlerischen Libertinage kommt ein Festklammern am Mensch­­lich-Zwischen­mensch­­li­chen ins Spiel.

Nicht das Wesen, sondern die Masse Mensch stehe im Vordergrund, meint Ossada — wer hat Angst vor Elias Canetti? Der promo­vierte Chemiker erhielt 1981 den Nobelpreis für Literatur. Neben den auto­biographischen Romanen ist der soziologisch-anthropologische Essay „Masse und Macht“ von herausragender Bedeutung. Der renommierte Carl Hanser Verlag in München hat im Jahr 2005 anläßlich des 100sten Geburtstages von Canetti eine Sonderausgabe herausgebracht: Sie verkaufte sich im gesamten deutschsprachigen Raum nur etwa 400 Mal. Wer kennt heute noch Elias Canetti? Ossada hat ihm eine Plastik gewidmet. Zahlreiche seiner Arbeiten scheinen von Canetti inspiriert.

Das Wesen Mensch verliert bei Ossada häufig seine Individualität und geht in die Gesichtslosigkeit über: als verwertbare Arbeitskraft, als Herde, als Großstadtbewohner. Dabei sieht Canetti die Masse durchaus nicht negativ. Erst in der Masse kann der Einzelne die Zwänge der gesellschaftlichen Kon­ventionen ablegen, sich „entladen“ und auf gewisse Weise damit zu sich kommen. Geschichte verläuft nicht geradlinig, sondern mäandert. Das liegt an den Paradoxien, die das Wesen Mensch im System seiner gesellschaftlichen Existenz in sich birgt. Erst in der Masse offenbart sich der Einzelne. Während geschlossene Massen – wie zum Beispiel die Besucher einer Kirche oder einer Aus­stellungseröffnung – in der Regel geordnet auftreten und sich Ritualen unterwerfen, die das Gefühl von Sicherheit spenden in einer chaotisch erscheinenden Außenwelt, entzündet sich in offenen Massen der Zerstörungswille, die Aggression gegen erlebte Fremdbestimmung und Demütigung. Die Masse in einem Fußballstadion – zum Beispiel von Lok Leipzig – steht genau an der Grenze zwischen kanalisierter, geschlossener Organisation und offener, frei flottierender Menge.

An dieser Stelle möchte ich einen anderen Weisen der Menschheit zitieren, dessen Aussprüche nach der Bibel am häufigsten auf diesem Planeten übersetzt und verbreitet wurden und immer wieder wer­den:

Wer sie in seiner Person entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend wird aufrichtig.
Wer sie in seiner Familie entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend geht über das Nötige hinaus.
Wer sie in seinem Ort entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend währt lange.
Wer sie in seinem Staat entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend wird gewinnt Ansehen.
Wer sie überall in der Welt entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend wird Allgemeingut.

Daher:
Erkenne die Person anhand der Person,
erkenne die Familie anhand der Familie,
erkenne den Ort anhand des Ortes,
erkenne den Staat anhand des Staates,
erkenne die Welt anhand der Welt,
Woher weiß ich, daß es in der Welt so ist?
Durch dies.

Laozi ·Daodejing, Kapitel 54, 3. Jahrhundert v. u. Z.

Laozi – der wahrscheinlich als Autor nie existierte, es handelt sich nur um eine Namenszuschreibung für die Spruchsammlung, weil die Leser eben einen Namen brauchen – spannt einen Bogen vom Einzelnen zur Welt. Genau darin stimmt Ossadas Erkenntnisinteresse mit der Tradition überein. Seitdem Menschen existieren, fragen sie sich nach dem Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Alle Versuche, hier einen deterministischen Zusammenhang zu zementieren, den Einzelnen als versklavt zu sehen von der Gemeinschaft oder umgekehrt, die gesellschaftliche Entwicklung als Ergebnis des Wirkens einzelner großer Führer zu psychologisieren, haben sich als vorübergehend und gescheitert herausgestellt. Keine der sieben Kategorien, die Ossada für das Wesen Mensch proklamiert, kann allein für den Menschen stehen.

Das Bild ist ein Versuch, der äußerlich sichtbaren Welt körperlich habhaft zu werden. Das Bild ist eine Verlängerung des Körpers. Ossadas Materialbilder verkörpern sich selbst und damit die An­sichten ihres Schöpfers. Sie sind kein Spiegel, der mit fotografischer Genauigkeit wiedergibt. Sie fügen der Wahrnehmung Sinnlichkeit, Lo­gik und Phantasie hinzu. Tatsächlich ist Phantasie not­wen­dig, um sich „die Wirklichkeit“ vorstellen zu können. Sein und Bewußt-Sein sind weder identisch noch auf­einander reduzierbar. „Das Sein des Seienden ist je meines“, sagt Hei­degger (1927, S. 41).

Ossada hat den Mut, uns seine Konstruktionsidee der Welt zuzumuten. Er tritt als Schöpfer eines Se­cond Life auf eine Bühne, deren Kulissen abstrakt und reduziert erscheinen, auf der das Wesen Mensch in der Masse aufgeht oder seine Individualität einbüßt. Hätte Ossada in sieben Tagen die Welt geschaffen, würden wir uns selbst in ihr nicht wiedererkennen. Als Schöpfer des Zerr- oder Rückspiegels, in dem wir das Wesentliche unserer Existenz sehen, gelingt es dem Künstler, Fragen aufzuwerfen, damit wir nicht wie selbstverständlich unsere Individualität zu Markte tragen und gegen widerstandsloses Funktionieren in der Leistungsgesellschaft eintauschen.

Ossada schafft in seinen Werken eine Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und gedank­licher Reflexion. Weder „die Wirklichkeit“ zweifelt noch der Sinneseindruck. Sie lassen sich akzeptieren oder ablehnen. Erst durch Reflexion entstehen Zweifel. Theoretisch ließe sich dieser Prozeß ins Unendliche fortsetzen: Es könnte wiederum Zweifel geben, die sich auf die vorherigen Zweifel beziehen usw. In der Regel geschieht dies jedoch nicht und wenn es geschieht, wird es rasch ge­fährlich. Das Bewußt-Sein kann sich im Endlosen verirren. Das Fortschreiten in unendliche Schleifen des Zweifelns führt ins Abgründige, denn es offenbart die Nichtexistenz eines absoluten Sinns. Erst wo Zweifel ist, wächst auch die Verzweiflung.

Doch Ossada bricht den Prozeß des Infragestellens auf der Ebene abstrakter Reflexion ab und setzt Zeichen. Er reduziert die unendliche Komplexität des menschlichen Wesens auf sieben Kategorien. Will er den Betrachter vorm Absturz in den unendlichen Progreß des Zweifelns schützen, ihn vor dem unvermeidlichen Gefühl des Sinnverlustes bewahren?

Je abstrakter Ossada operiert, desto stärker ist sein Werk von anschaulichen Bezügen, Materialien, und bildhaften Vorstellungen abhängig, um den Gegenstand nicht zu verlieren. Abstraktionen sind in der Regel von schwächerer Intensität als unmittelbare sinnliche Reiz­e. Ein Künstler, der – ganz untypisch – auf die Darstellung des nackten menschlichen Körpers verzichtet, um uns das Wesen des Menschen vor Augen zu führen, bricht mit der abendländischen Tradition – und er muß aufpassen, sich nicht in wolkigen Gelehrsamkeiten zu verirren. Gerade der Wechsel zwischen konkreter und abstrakter Erkenntnis, zwischen Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit kennzeichnet die Qualität des künst­lerisch Geschaffenen.

Zum Schluß noch eine kritische Frage: Warum etabliert Ossada ausgerechnet sieben Kategorien um das Wesen des Menschen einzufangen? Hätten nicht vier gereicht? Do­stojewskijs „Brüder Kara­ma­sow“ können in diesem Sinne als Facetten des Menschlichen be­trach­tet werden.

„Du bist selber ein Karamasow, du bist in allem ein Karamasow… Vom Vater her bist du ein Wollüstling, von der Mutter her ein christlicher Narr… Das ist alles, mein Lieber, eine alte Geschichte. Wenn sogar in dir ein Wol­lüstling steckt, was ist dann mit Iwan, deinem leiblichen Bruder? Er ist doch auch ein Kara­masow. Darin besteht ja eure ganze Karamasow-Frage: ihr seid Wol­lüstlinge, Habgierige und christliche Narren! Dein Bruder Iwan ver­öffent­licht vor­läufig, aus irgendeiner ganz dummen, unbekannten Be­rech­nung heraus, zum Spaß theologische Artikelchen, obwohl er Atheist ist, und gibt diese Gemeinheit selber zu – dieser dein Bruder Iwan. Außer­dem sucht er seinem Bruder Mitja die Braut abspenstig zu machen, na, und dieses Ziel wird er wohl erreichen. Noch dazu mit Zustimmung Mitjenkas selber, denn Mit­jenka selber tritt ihm seine Braut ab, nur um sie los­zu­werden und mög­lichst bald zu Gruschenka übergehen zu können. Und das alles bei seiner vornehmen Gesinnung und Uneigennützigkeit, merk dir das! Gerade solche Leute sind die gefährlichsten!“ (Dostojewskij 1879/80, S. 112 f.)

Von den Karamasows wird der Bastard Smerdjakow nach dem Vor­bild seiner geistesgestörten Mutter als Koch und Diener nahezu ausschließlich als tierisch-physiologisches Wesen behandelt. (Das hat für ihn den Vorteil, daß ihm niemand die intellektuelle Leistung zutraut, die angeblich für einen Mord erforderlich ist.) Der Haudegen Dmitrji beweist Willen, doch der Mangel an Denkfähigkeit bringt ihn rasch wieder von seinen Vorsätzen ab. Iwan, der Intellektuelle, reflektiert scharfzüngig über äußere Gegebenheiten – echte, verinnerlichte Werte sind ihm fremd. Aljoscha schließ­lich symbolisiert auf der vierten Ebene den Moral­menschen, dem umfassende Erfahrung noch fehlt. Auf diese Weise re­prä­sen­tieren die Brüder Karamasow die conditio humana aus einer ver­ti­ka­len Perspektive. Die Brüder verkörpern als äußerlich selbständige Figuren, was eigentlich innerhalb eines jeden Menschen als Wesenskomplex angesehen werden muß.

Noch ein Wort zum Einbruch der Verkaufszahlen anspruchsvoller Literatur. Auch Jens Ossada sucht den Anschluß an das geschriebene Wort, der Umsatz seiner Kataloge kann mit dem Umsatz der Bücher Canettis bald mithalten. Was fasziniert den Bildmenschen und Künstler an der Sperrigkeit und Widerspenstigkeit des Wortes? Die Mediengesellschaft betäubt sich mit bunten, schnell wechselnden Bildern. Hirnforscher haben herausgefunden, daß Kinder, die länger als zwei Stunden täglich am Computer spielen oder fernsehen, das vormittags Gelernte im Gedächtnis dauerhaft löschen. Nicht nur die Lesefähigkeit leidet darunter, sondern auch die Wahrnehmung und das Denken: Lesen ist Sehen. Dieser Satz zeigt seine Evidenz an den Arbeiten Ossadas. Der Künstler gewinnt seine Impulse aus der Literatur, der belletristischen wie der philosophischen. Die Grenzüberschreitung von einem Genre in das andere zeichnet sein Werk als wesenhaft menschliches aus: Es läßt sich bei bestem Willen nicht in vorgefertigte Schubladen einsperren.

Ossada zeigt, daß es möglich ist, über die vier Seiten des Wesens Mensch, die Dostojewski pro­klamiert, hinaus­zugehen. Wahrscheinlich wäre es auch möglich, mit Laozi neun Kategorien zu erfinden oder 81. Darauf kommt es letztlich nicht an. Wichtig ist vielmehr, die konkret-sinnliche Stimmigkeit der Arbeiten. Ihnen nur wegen ihrer moralischen Aussage einen Wert zuzuschreiben, wäre gefährlich. Ossadas Auseinandersetzung mit dem Wesen Mensch ist eine Einladung, sich selbst einen Reim auf die Höhen und Abgründe unseres Daseins zu bilden – und davon möchte ich Sie mit meinem Vortrag nun auch nicht länger abhalten.

Die makabre Figur der Freiheit

Krzysztof Siwczyks Gedichtband „Im Reich der Mitte“ ist in der Edition Erata auf Deutsch erschienen

Wir kombinieren Phrasen, heißt es nüchtern im letzten Satz des Buches. Verwirrt steht der Leser vor dem Berg an Botschaften, den er bei der Lektüre angesammelt hat. Eine so aberwitzige wie konsequente Geste, mit der sich Krzysztof Siwczyk der Autorität des Welterklärenmüssens entzieht und das durchsetzt, was seine Gedichte beschwören: selber denken soll der Mensch, seine Behörden entkräften und in sich schlummernde Tendenzen zur blinden Gefolgschaft überprüfen.

Siwczyk beobachtet, aber er richtet nicht. Seine Menschen arbeiten ausdauernd an ihrer Selbstüberhöhung, um der Bedrohung durch Sturz in die Belanglosigkeit zu entkommen. Trotzdem ziehen sie die Existenz der Seitenbühne vor: Das Leben spielt sich nicht in der Vordergrund.

Siwczyk kennt das Geheimnis der ersten Sätze, die eine Sogwirkung ausüben und sich ohne Anlauf dem Leser aufdrängen: Eine Notiz über Inspiriertheit fand sich nicht.

Obwohl mit einem hohen Grad an Abstraktion ausgestattet, sind seine Texte zugänglich. Denn sie sind nicht nur intellektuelle Gebilde, sondern eine seltsame Körperhaftigkeit ist ihnen eigen. Diese gelingt durch eine eindrucksvolle rhythmische Form, die der Lyriker für die meisten Gedichte gewählt hat. Dabei kehren Wörter und Zeilen der einen Strophe in der nächsten wieder. Es entsteht Lyrik, die laut gelesen werden will, die musikalisch ist. Und die scheinbar strenge äußere Form wird zum Moment der Entfesselung von Sprachenergien. So geschieht im Medium selbst das, wofür Siwczyk auf Ebene des Textes plädiert: ein Ende des Kontrollwahns und der Apathie. Lasst das Fest beginnen, Ihr werdet frei sein in der Energie von Nichtigkeiten.

Siwczyk, Jahrgang 1977, lebt im oberschlesischen Gliwice, studiert Kulturwissenschaften und betreut am „Instytut Mikolowski“ mehrere Editionsprojekte. Für den Band „Dzikie Dzieci / Wilde Kinder“ (1995) wurde er mehrfach ausgezeichnet.

André Rudolph, selbst aufgewachsen zwischen zwei Sprachen, ist eine leichtfüßige Übersetzung der schweren Kost gelungen. Und trotzdem wird spürbar: Übersetzen stellt einen riskanten Akt dar, ist ein Hinüber-Schwimmen, bei dem er gilt, den Kern des Eigentlichen zu bewahren und ihm sorgfältig einen neuen Mantel in der neuen Sprache zu suchen. Wichtig war Rudolph die Lesbarkeit der Gedichte nach dem Prozeß der Übersetzung, die ein permanentes Abwägen zwischen Zugeständnissen an die Eigenwilligkeiten beider Sprachen und dem Wunsch, möglichst nah am Original zu bleiben, notwendig macht.

Sywczyk/Rudolph ist ein beeindruckendes polnisch-deutsches Projekt fern aller Attitüden gelungen. „Im Reich der Mitte“ erscheint bei Edition ERATA in einer deutsch-polnischen Ausgabe.

(Quelle: „Kunststoff“ 2 / 2007)

Noch immer Wut

Die Welt im Ganzen in ständiger Bewegung: Noch hat es der Geist nicht aufgegeben, dem mühsam ergriffenen Chaos die Fesseln seiner Begriffe anzulegen, da hebt sich eine neue Woge substanzlosen Wesens aus dem Kartengesicht seiner Sprachgebilde. Die Grammatik als ewig klappernder Mechanismus einer Suche nach Wohlgeformtheit. Wort in Kombination seiner Laute – Weh-Ort zum Ell-Aut ob Cis-Dur des klingenden Sinns, wieder und wieder gemurmelt. Nur die Zunge hat noch ein Bewußtsein vom Widerstand der Zähne, vom Himmel des Gaumens, so wie er vom Rachen geschluckt wird & die Schönheit der Hohlräume stets neu und anders aus sich herausbringt. Das Gefühl für’s Toben der Eingeweide nimmt allmählich eine Form an, als habe der Wettergott persönlich ums Recht auf AUSDRUCK ersucht – alle Eindrücke zerstörend mit der Wucht seiner WOLKENMASCHINE & keinen Ort, so tief er auch verborgen sein möge im Innern jener Muscheln, die den Geheimnissen der Kindheit als Wohnstatt dienen, auslassend auf seinem weltumspannenden Zug.

Noch hält sich das Eis in den Grabkammern der Kultur, wo das Übliche von Sonnenaufgang bis Sonnenentergang geübt wird bis zum Umfallen – das Übrige aber, vergessene Hitze des verdrängten WasserSSSSSSSSS O-O=O-O-O mmmmmmmmm,mh sammelt sich schwarz hinter der Sonne.

Kommentare eines Bürgers beim Ausfüllen der Steuererklärung

Potz Blitz! schon wieder zwanzigtausend

O je, wie schön es war

Und auch das Wetter

NT & hinterm Haus, die

Größten Enttäuschungen so weit

So gut: zehntens Kirchensteuer

Entfällt. Kopie der drei

Belege anbei – ich, ich

Find‘ diese Art so unmö-

Glich es nicht, o ja

Dem kleinen Tod aufs Haar?

Im Vektorraum (3)

Sie rappelte sich auf und äugte zu dem runden Gegenstand hinüber. Der Ball holperte über die Erde und kam zwei Meter weiter zum Stillstand. Zwischen den Sträuchern kam ihre Mutter zum Vorschein und begann mit gedämpfter Stimme auf sie einzureden. Sie brachte ihr die blaue Gummikugel, rund wie die geheime Seele des Universums, und sie drückte den Ball an sich, ließ ihre Zunge darübergleiten und federte mit der Stirn ihres Dickschädels gegen die elastische Oberfläche.

– Was machst du denn da, willst du den Ball aufessen?

– Ach, deine geliebte Himmelskugel!

Sie umfaßte den Gummiball mit beiden Armen, drückte ihn bis zur Schmerzgrenze gegen ihren winzigen Brustkorb und schleuderte ihn mit kehligem Geräusch so weit von sich, daß die Welt kurz erzitterte. Der Ball flog hinüber ans andere Ende der Wiese, holperte kurz und kam dann zum Stillstand.

Im Vektorraum (2)

Sie zuckte und zitterte, dann sank der andere Arm in sich zusammen, ihre Brust nahm Fahrt auf, und sie krachte auf den Boden. Zwar das Blau nun aus ihren Augen verschwunden, wie die Sonne hinter einem Wolkenberg verschwindet, doch leuchteten im Zwischenreich ihres Hirns noch deutliche Fetzen zwischen den Bäumen des Waldes, aus dem ihre Vorfahren einmal gekommen waren.

Skandale inflationär

Skandale versucht jeder zu inszenieren, der im Kulturbetrieb tätig ist. Tanz mit einer Klobürste im Haar splitternackt auf der Straße – was früher ein gemeiner Schulwitz war, mit dem man den Nachbarjungen ärgerte (heute heißt es mobbte), gerät zur scheinbar freiwilligen Selbstinszenierung. Das Zauberwort heißt Aufmerksamkeit. Sie verschafft Ruhm & Geld. Indem jeder nach ihr strebt, gibt es nicht mehr von ihr. Ich frage mich, ob es nicht klüger wäre, still zu sein, nur noch zu flüstern statt zu schreien. Schweigen wäre radikal – vielleicht kommt dann wieder jemand, der zuhört.

Außenprüfung

Heute hat mich Franz Kafka besucht : ein Schmalhans
Finanzbeamter : mit wachem Blick inspizierte er
meine Räume : die Küche : zum Schluß
fragte er : wo ich schlafe : es gibt
kein Bett bei mir : nur ein Klappsofa
das schien ihm sympathisch zu sein : ein sparsamer Typ
den er hier überprüfe : sogar mit Raum geize er
keine Chance : daß ich ihn in Gregor Samsa verwandle
im Schlaf : dachte Franz Kafka : als er
den Prüfbericht ausfertigte : er habe einen dubiosen
Dichter durchleuchtet : hoher Weinkonsum
Beruf & Privatleben sind nicht klar zu trennen : wie es
Versicherungsgesetz & Steuerbehörde verlangen : der Proband
arbeitet bis in die Nacht : wann er schläft (& mit wem)
ist nicht zweifelsfrei feststellbar : das Amt sollte
ihn genauer im Blick behalten : natürlich
nicht ihn : nur seinen Geldverkehr : gezeichnet Franz K.

Relativitätstheorie

Wenn man älter wird : verkürzt sich die Zeit
mit der Familie zugebracht : für einen Jungen
erscheint eine Stunde wie ein Tag : eines Tages
erscheint ein Tag mit der Familie wie eine Stunde
die Eltern sind alt geworden : die Geschwister
verstreut : glücklich : wer noch Eltern & Geschwister hat

Die Dichter äußern sich so erhaben : als hätten sie
keine Familie : als hätten sie nie im Garten
ein Zelt aufgebaut & die Bauanleitung verloren
als hätten sie sich nie wegen der Kürze
einer Geburtstagsfeier nachträglich betrunken : reine
Poesie ist wie reiner Alkohol : für den Genuß

Nicht gedacht : du wirst blind : trinkst du sie
wenn du in deinem Vater siehst : was aus dir
mal werden kann : ein seniler alter
Mann mit dröhnendem Lachen : immerhin
wenn du noch was zu lachen hast : bist du
zu jung : um dir zu wünschen : jung zu sein

Die subtile Abschließung der Hermetik

Gegenwartslyrik hat hermetisch zu sein. Man muß nicht Hermine heißen, um als zeitgenössische Lyrikerin zu gelten, aber ein niedlicher Dr. phil. in osteuropäischen Sprachen oder pietistischer Astronomie kann nicht schaden. Hauptsache, unverständlich. Klare Konturen, aber bitte nicht sichtbar. Dabei waren – man erlaube mir den zeitgeschichtlichen Rückblick – hermetische Gedichte stets in Perioden politischer Unterdrückung angesiedelt: Als es galt, den Protest in der Metapher zu verstecken, zwischen den Zeilen den Widerstand anzuheizen. Wer diese Texte las, konnte sie dechiffrieren – und verstand. Die moderne Lyrik überbietet die hermetische Subversion vergangener Diktaturen: Sie läßt sich nicht dechiffrieren, sie will nicht verstanden werden, sie will zeigen, daß der Dichter etwas drauf hat, der sie verfaßt. Und wenn es doch gelingt, sie zu entschlüsseln, so enthüllen sich rein ästhetische Sprachgebilde – welche Desensibilisierung unserer Gegenwartsdichter & -dichterinnen, vor allem der jungen, gegenüber den gegenwärtigen Bestrebungen zur Diktatur. Keine sozialen Avancen, aus Angst vor dem Sozialismus, der ja gescheitert ist (bloß nicht assoziiert werden!). Nicht einmal zwischenmenschliche Töne finden sich in der Gegenwartslyrik, geschweige ein Liebesgedicht.

Hadamar

Geschlafen habe ich : tief & unruhig
in der Dienststube des Feldwebels : beim Empfang
der grauen Busse : im Steinhaus neben dem ehemaligen
Franziskaner-Kloster : dann Landesheilanstalt : für unbotmäßige
Landeskinder zeitweilig Gasmordanstalt : was ist aus unserem
fremden christlichen Glauben geworden : ihr Deutschen
einem mißratenen Kind mit Chaplin-Bart
habt ihr die Rückkehr zum Ursprung blind an-
vertraut : jetzt sind die Ursprünge versperrt & unser
fremder christlicher Glaube ist wieder der einzige
von Zyankali & Zyklon B spricht keiner mehr : nur
die Psychiaterin ohne Kittel : führt mich in den Keller
der Duschraum ist vorbereitet : gepflegte Keramik
schwarz-gelb kariert : kleinkariert : ich lege die Kleidung ab
falte sie sorgfältig zu einem Päckchen (nie falte ich meine Kleidung)
nestle am Schmuck : den Ohrringen (nie habe ich Ohrringe getragen)
nackt trete ich unter die Dusche : das Jahr 39 holt mich ein
langsam strömt das Gas aus der Leitung : ich habe Hunger
denke ich : ich habe Durst : dann höre ich auf zu denken
höre ich auf zu sprechen : ich bin eine saubere Leiche
totgeduscht : liege ich auf dem sauber gekachelten Boden
im Keller der Psychiatrie : bis ins Jahr 42 : jetzt beginnen
in Auschwitz die Duschen : ihr Gas zu verströmen : wer ist
denn verrückt in diesem Land : ich armer Hund
dessen Hirn als schizophren diagnostiziert wird : ohne Befund
auch nach der Sektion findet kein Zeichen der Doktor
in Feldwebel-Uniform koordiniert er die Ankunft der Busse
Organisation ist alles : ihr armen Deutschen
könnt gut schweigen in den Nestern : in die ihr eure Kliniken
verbannt : dort geben die Enkel von Tätern & Opfern einander
das Ja-Wort : ohne zu wissen von ihren Großmüttern (Verwaltungs-
frau) & Großvätern (Fahrer) : das Schweigen trägt
alle Geheimnisse ins Grab : ich fliehe mit einem silbergrauen PKW

Gestorbene Gegenstände

Das Fotografieren ist ein Faible von Thomas Böhme. Immer ein persönliches Faible, das dann doch nicht privat bleibt. Mit der Publikation „Jungen vor Zweitausend“ präsentierte sich der fotografierende Schriftsteller erstmals der Öffentlichkeit. Nun ist der Band „Widerstehendes“ da. Der ist keine beliebige Fortführung. Die Poesie der Farbfotos, die Philosophie der Texte machen den Bild-Wort-Band zu einem Böhme-Buch der unvergleichbaren Art.

Flüchtig auf- und durchgeblättert, werden die Unachtsamen den Band sofort wieder aus der Hand legen. Ein Aufmerksamer, nämlich der Autor-Fotograf, verlangt die ungeteilte Aufmerksamkeit von den lesenden Betrachtern. Unaufdringlich-drängend erteilt der ambitionierte Böhme mit jedem Bild, mit jedem Wort Lektionen. Jedes Foto ist das Foto eines Menschen, dessen Augensinn ungetrübt ist. Jedes Wort ist das Wort eines Menschen, der keine Vokabel vergeudet. Jedes Foto, jedes Wort ist für Menschen, die, sehend, nicht übersehen, die, lesend, nicht überlesen. Sehen heißt, zu sehen, daß nichts nichtig ist. Kein zerfallendes Wagenrad, kein bröselnder Balken, keine rostzerstörte Leuchte, keine ausgediente Bahnhofsuhr. Lesen heißt, sich beteiligen zu lassen an den Geschichten der „gestorbenen“ Gegenstände, die ein Nach-Leben haben. Ein Nach-Leben, das nur die Seher wahrnehmen. Ein Nach-Leben, an dem nur die phantasievollen Leser teilnehmen.

Thomas Böhme ist ein phantasievoller Seher. Er verleitet zum Sehen und Zuhören. Eher zum Sehen. Und das mit Bildern, die scheinbar zufällig Aufgefundenes, Aufgenommenes aufbewahren. 24 Bilder, die bei den Aufmerksamen, bei denen, die für die Aufmerksamkeit gewonnen werden, ohne Ausnahme ankommen. Bilder, die in ihrer Sinnlichkeit alles sind, was ein Bild sein kann, das alle Sinne berührt und bewegt. Bilder, die jedem Betrachter erzählen, was er sich beim Betrachten der Bilder zu erzählen vermag. Bilder, die keinen Text brauchen, die Text genug haben – sofern man möchte. Niemand muß die Texte von Thomas Böhme lesen, mit denen er seine Bilder begleitet. Die Bilder, simpel als „Schnappschüsse“ bezeichnet, stecken bei Böhme in festgezimmerten, schwarzlackierten Text-Rahmen. Will sagen, jene Leichtigkeit, die in den Bildern ist, ist nicht selbstverständlich auch in den Texten. Obwohl, dann und wann, ein kurzer frozzelnd-ironischer Ton kurz zum Klingen kommt. Der aufmerksame Autor Thomas Böhme ist ein Ernsthafter. In seinen Sätzen ist die Stimmung der Melancholie stärker als die des Scherzes. Böhme will sich nicht leichtfertig über alles Vergänglich-Schmerzliche in der wirklichen, der wahrgenommenen Welt hinwegsetzen. Das Weggucken, das Weghören ist es, was der Autor mit seinen fotografischen Fund-Stücken, mit seinen Schrift-Sätzen hintertreiben möchte. Und sei´s mit dem ihm eigenen unvermeidbaren pädagogisch-philosophischen Ernst.

Wer nicht anders kann sieht nur, was an Lehrhaftem, Melancholischem, Absterbendem in den Bildern ist. Wer anders kann sieht das Lebhafte, Frohsinnige, Aufwachende, das in den Bildern ist. In jedem Foto ist auch ein anderes Foto. In jedem Text ist auch ein anderer Text. Der Autor und Fotograf macht das Angebot, alles Gesehene noch einmal anders zu sehen, alles Gesagte noch einmal anders zu sagen. So sieht man „Mit Blicken durch morsches Gitterwerk und Sehnsucht nach dem Unbekannten…“, schreibt Thomas Böhme.

Thomas Böhme: Widerstehendes. Fotografien und Texte. Edition ERATA: Leipzig 2007, Broschur, 17,95 Euro