Kommentare eines Bürgers beim Ausfüllen der Steuererklärung

Potz Blitz! schon wieder zwanzigtausend

O je, wie schön es war

Und auch das Wetter

NT & hinterm Haus, die

Größten Enttäuschungen so weit

So gut: zehntens Kirchensteuer

Entfällt. Kopie der drei

Belege anbei – ich, ich

Find‘ diese Art so unmö-

Glich es nicht, o ja

Dem kleinen Tod aufs Haar?

Im Vektorraum (3)

Sie rappelte sich auf und äugte zu dem runden Gegenstand hinüber. Der Ball holperte über die Erde und kam zwei Meter weiter zum Stillstand. Zwischen den Sträuchern kam ihre Mutter zum Vorschein und begann mit gedämpfter Stimme auf sie einzureden. Sie brachte ihr die blaue Gummikugel, rund wie die geheime Seele des Universums, und sie drückte den Ball an sich, ließ ihre Zunge darübergleiten und federte mit der Stirn ihres Dickschädels gegen die elastische Oberfläche.

– Was machst du denn da, willst du den Ball aufessen?

– Ach, deine geliebte Himmelskugel!

Sie umfaßte den Gummiball mit beiden Armen, drückte ihn bis zur Schmerzgrenze gegen ihren winzigen Brustkorb und schleuderte ihn mit kehligem Geräusch so weit von sich, daß die Welt kurz erzitterte. Der Ball flog hinüber ans andere Ende der Wiese, holperte kurz und kam dann zum Stillstand.

Im Vektorraum (2)

Sie zuckte und zitterte, dann sank der andere Arm in sich zusammen, ihre Brust nahm Fahrt auf, und sie krachte auf den Boden. Zwar das Blau nun aus ihren Augen verschwunden, wie die Sonne hinter einem Wolkenberg verschwindet, doch leuchteten im Zwischenreich ihres Hirns noch deutliche Fetzen zwischen den Bäumen des Waldes, aus dem ihre Vorfahren einmal gekommen waren.

Skandale inflationär

Skandale versucht jeder zu inszenieren, der im Kulturbetrieb tätig ist. Tanz mit einer Klobürste im Haar splitternackt auf der Straße – was früher ein gemeiner Schulwitz war, mit dem man den Nachbarjungen ärgerte (heute heißt es mobbte), gerät zur scheinbar freiwilligen Selbstinszenierung. Das Zauberwort heißt Aufmerksamkeit. Sie verschafft Ruhm & Geld. Indem jeder nach ihr strebt, gibt es nicht mehr von ihr. Ich frage mich, ob es nicht klüger wäre, still zu sein, nur noch zu flüstern statt zu schreien. Schweigen wäre radikal – vielleicht kommt dann wieder jemand, der zuhört.

Außenprüfung

Heute hat mich Franz Kafka besucht : ein Schmalhans
Finanzbeamter : mit wachem Blick inspizierte er
meine Räume : die Küche : zum Schluß
fragte er : wo ich schlafe : es gibt
kein Bett bei mir : nur ein Klappsofa
das schien ihm sympathisch zu sein : ein sparsamer Typ
den er hier überprüfe : sogar mit Raum geize er
keine Chance : daß ich ihn in Gregor Samsa verwandle
im Schlaf : dachte Franz Kafka : als er
den Prüfbericht ausfertigte : er habe einen dubiosen
Dichter durchleuchtet : hoher Weinkonsum
Beruf & Privatleben sind nicht klar zu trennen : wie es
Versicherungsgesetz & Steuerbehörde verlangen : der Proband
arbeitet bis in die Nacht : wann er schläft (& mit wem)
ist nicht zweifelsfrei feststellbar : das Amt sollte
ihn genauer im Blick behalten : natürlich
nicht ihn : nur seinen Geldverkehr : gezeichnet Franz K.

Relativitätstheorie

Wenn man älter wird : verkürzt sich die Zeit
mit der Familie zugebracht : für einen Jungen
erscheint eine Stunde wie ein Tag : eines Tages
erscheint ein Tag mit der Familie wie eine Stunde
die Eltern sind alt geworden : die Geschwister
verstreut : glücklich : wer noch Eltern & Geschwister hat

Die Dichter äußern sich so erhaben : als hätten sie
keine Familie : als hätten sie nie im Garten
ein Zelt aufgebaut & die Bauanleitung verloren
als hätten sie sich nie wegen der Kürze
einer Geburtstagsfeier nachträglich betrunken : reine
Poesie ist wie reiner Alkohol : für den Genuß

Nicht gedacht : du wirst blind : trinkst du sie
wenn du in deinem Vater siehst : was aus dir
mal werden kann : ein seniler alter
Mann mit dröhnendem Lachen : immerhin
wenn du noch was zu lachen hast : bist du
zu jung : um dir zu wünschen : jung zu sein

Die subtile Abschließung der Hermetik

Gegenwartslyrik hat hermetisch zu sein. Man muß nicht Hermine heißen, um als zeitgenössische Lyrikerin zu gelten, aber ein niedlicher Dr. phil. in osteuropäischen Sprachen oder pietistischer Astronomie kann nicht schaden. Hauptsache, unverständlich. Klare Konturen, aber bitte nicht sichtbar. Dabei waren – man erlaube mir den zeitgeschichtlichen Rückblick – hermetische Gedichte stets in Perioden politischer Unterdrückung angesiedelt: Als es galt, den Protest in der Metapher zu verstecken, zwischen den Zeilen den Widerstand anzuheizen. Wer diese Texte las, konnte sie dechiffrieren – und verstand. Die moderne Lyrik überbietet die hermetische Subversion vergangener Diktaturen: Sie läßt sich nicht dechiffrieren, sie will nicht verstanden werden, sie will zeigen, daß der Dichter etwas drauf hat, der sie verfaßt. Und wenn es doch gelingt, sie zu entschlüsseln, so enthüllen sich rein ästhetische Sprachgebilde – welche Desensibilisierung unserer Gegenwartsdichter & -dichterinnen, vor allem der jungen, gegenüber den gegenwärtigen Bestrebungen zur Diktatur. Keine sozialen Avancen, aus Angst vor dem Sozialismus, der ja gescheitert ist (bloß nicht assoziiert werden!). Nicht einmal zwischenmenschliche Töne finden sich in der Gegenwartslyrik, geschweige ein Liebesgedicht.

Hadamar

Geschlafen habe ich : tief & unruhig
in der Dienststube des Feldwebels : beim Empfang
der grauen Busse : im Steinhaus neben dem ehemaligen
Franziskaner-Kloster : dann Landesheilanstalt : für unbotmäßige
Landeskinder zeitweilig Gasmordanstalt : was ist aus unserem
fremden christlichen Glauben geworden : ihr Deutschen
einem mißratenen Kind mit Chaplin-Bart
habt ihr die Rückkehr zum Ursprung blind an-
vertraut : jetzt sind die Ursprünge versperrt & unser
fremder christlicher Glaube ist wieder der einzige
von Zyankali & Zyklon B spricht keiner mehr : nur
die Psychiaterin ohne Kittel : führt mich in den Keller
der Duschraum ist vorbereitet : gepflegte Keramik
schwarz-gelb kariert : kleinkariert : ich lege die Kleidung ab
falte sie sorgfältig zu einem Päckchen (nie falte ich meine Kleidung)
nestle am Schmuck : den Ohrringen (nie habe ich Ohrringe getragen)
nackt trete ich unter die Dusche : das Jahr 39 holt mich ein
langsam strömt das Gas aus der Leitung : ich habe Hunger
denke ich : ich habe Durst : dann höre ich auf zu denken
höre ich auf zu sprechen : ich bin eine saubere Leiche
totgeduscht : liege ich auf dem sauber gekachelten Boden
im Keller der Psychiatrie : bis ins Jahr 42 : jetzt beginnen
in Auschwitz die Duschen : ihr Gas zu verströmen : wer ist
denn verrückt in diesem Land : ich armer Hund
dessen Hirn als schizophren diagnostiziert wird : ohne Befund
auch nach der Sektion findet kein Zeichen der Doktor
in Feldwebel-Uniform koordiniert er die Ankunft der Busse
Organisation ist alles : ihr armen Deutschen
könnt gut schweigen in den Nestern : in die ihr eure Kliniken
verbannt : dort geben die Enkel von Tätern & Opfern einander
das Ja-Wort : ohne zu wissen von ihren Großmüttern (Verwaltungs-
frau) & Großvätern (Fahrer) : das Schweigen trägt
alle Geheimnisse ins Grab : ich fliehe mit einem silbergrauen PKW

Gestorbene Gegenstände

Das Fotografieren ist ein Faible von Thomas Böhme. Immer ein persönliches Faible, das dann doch nicht privat bleibt. Mit der Publikation „Jungen vor Zweitausend“ präsentierte sich der fotografierende Schriftsteller erstmals der Öffentlichkeit. Nun ist der Band „Widerstehendes“ da. Der ist keine beliebige Fortführung. Die Poesie der Farbfotos, die Philosophie der Texte machen den Bild-Wort-Band zu einem Böhme-Buch der unvergleichbaren Art.

Flüchtig auf- und durchgeblättert, werden die Unachtsamen den Band sofort wieder aus der Hand legen. Ein Aufmerksamer, nämlich der Autor-Fotograf, verlangt die ungeteilte Aufmerksamkeit von den lesenden Betrachtern. Unaufdringlich-drängend erteilt der ambitionierte Böhme mit jedem Bild, mit jedem Wort Lektionen. Jedes Foto ist das Foto eines Menschen, dessen Augensinn ungetrübt ist. Jedes Wort ist das Wort eines Menschen, der keine Vokabel vergeudet. Jedes Foto, jedes Wort ist für Menschen, die, sehend, nicht übersehen, die, lesend, nicht überlesen. Sehen heißt, zu sehen, daß nichts nichtig ist. Kein zerfallendes Wagenrad, kein bröselnder Balken, keine rostzerstörte Leuchte, keine ausgediente Bahnhofsuhr. Lesen heißt, sich beteiligen zu lassen an den Geschichten der „gestorbenen“ Gegenstände, die ein Nach-Leben haben. Ein Nach-Leben, das nur die Seher wahrnehmen. Ein Nach-Leben, an dem nur die phantasievollen Leser teilnehmen.

Thomas Böhme ist ein phantasievoller Seher. Er verleitet zum Sehen und Zuhören. Eher zum Sehen. Und das mit Bildern, die scheinbar zufällig Aufgefundenes, Aufgenommenes aufbewahren. 24 Bilder, die bei den Aufmerksamen, bei denen, die für die Aufmerksamkeit gewonnen werden, ohne Ausnahme ankommen. Bilder, die in ihrer Sinnlichkeit alles sind, was ein Bild sein kann, das alle Sinne berührt und bewegt. Bilder, die jedem Betrachter erzählen, was er sich beim Betrachten der Bilder zu erzählen vermag. Bilder, die keinen Text brauchen, die Text genug haben – sofern man möchte. Niemand muß die Texte von Thomas Böhme lesen, mit denen er seine Bilder begleitet. Die Bilder, simpel als „Schnappschüsse“ bezeichnet, stecken bei Böhme in festgezimmerten, schwarzlackierten Text-Rahmen. Will sagen, jene Leichtigkeit, die in den Bildern ist, ist nicht selbstverständlich auch in den Texten. Obwohl, dann und wann, ein kurzer frozzelnd-ironischer Ton kurz zum Klingen kommt. Der aufmerksame Autor Thomas Böhme ist ein Ernsthafter. In seinen Sätzen ist die Stimmung der Melancholie stärker als die des Scherzes. Böhme will sich nicht leichtfertig über alles Vergänglich-Schmerzliche in der wirklichen, der wahrgenommenen Welt hinwegsetzen. Das Weggucken, das Weghören ist es, was der Autor mit seinen fotografischen Fund-Stücken, mit seinen Schrift-Sätzen hintertreiben möchte. Und sei´s mit dem ihm eigenen unvermeidbaren pädagogisch-philosophischen Ernst.

Wer nicht anders kann sieht nur, was an Lehrhaftem, Melancholischem, Absterbendem in den Bildern ist. Wer anders kann sieht das Lebhafte, Frohsinnige, Aufwachende, das in den Bildern ist. In jedem Foto ist auch ein anderes Foto. In jedem Text ist auch ein anderer Text. Der Autor und Fotograf macht das Angebot, alles Gesehene noch einmal anders zu sehen, alles Gesagte noch einmal anders zu sagen. So sieht man „Mit Blicken durch morsches Gitterwerk und Sehnsucht nach dem Unbekannten…“, schreibt Thomas Böhme.

Thomas Böhme: Widerstehendes. Fotografien und Texte. Edition ERATA: Leipzig 2007, Broschur, 17,95 Euro

Neue Literatur abseits vom Mainstream

Neue Literatur, zu entdecken was sich außerhalb der ausgetretenen Wege tummelt, wo eine innere Bewegung im Text sichtbar wird, der Widerstand gegen äußeren Zwang und die Ökonomisierung des Alltags aufflackert – dies ist das Thema dieses Blogs. Nichts trefferendes als in diesem Zusammenhang den Roman „Rafael“ von Manuel Alegre zu erwähnen, der vor ein paar Tagen in Frankfurt und Leipzig vorgestellt wurde. „Raphael“ ist der unbekannte Matrose, der Thomas Moore von jener sagenumwobenen, gerechten Insel erzählt hat, die später den Namen „Utopia“ erhielt. In gleicher Weise sieht sich Alegre als ein Rafael der Gegenwart: er statt wahlkämpferischer Parolen bestreitet er Politik mit Gedichtrezitationen – es mag unglaublich klingen, aber es hat sich zugetragen in einem europäischen Land, im Jahr 2006, in Portugal. Dieses Buch kann ich nur jedem ans Herz legen, für den Poesie und Politik keinen Gegensatz bilden.