Carsten

Wie bin ich nur in dieses Amt geraten? Nach jedem Arbeitstag denke ich, ich muss hinwerfen, ich kann das nicht mehr verantworten. „Wir haben ein Gesetz und danach muss er sterben“, tönt es mir im Ohr, dieser Ruf aus dem Volk, das so gierig darauf ist, zu verur­teilen, solange es selbst nicht vom Urteil getroffen wird. Ich muss nicht aufs Volk hören, wir leben in einem Rechtsstaat, aber ich muss aufs geschriebene Recht hören, und das kommt von einer mehr­heitsfähigen Regierung, das heißt, ich darf nicht aufs Recht hören, denn das ist oft nicht mehr­heitsfähig.

Ich bin, weil ich so häßlich ehrgeizig war, angetrie­ben von mei­nen Eltern, ausgerechnet im Strafrecht gelandet, dort, wo die Rechtsfindung am schwersten und folgenreichsten ist. Mit meinen Kollegen, bis auf wenige Ausnahmen, kann ich über diese Probleme nicht reden, auch nicht mit meiner Familie. Die Kollegen glauben, Gutes zu tun oder mindestens ihre Pflicht, und wollen gleich­zeitig ihre Bezüge sichern. Meine Familie würde, hörte sie von meinen Zweifeln, in Sorge um ihren Wohlstand geraten. Habe ich jemals einen Straftäter, den ich zu Gefängnis verurteilt habe, dort besucht? Habe ich jemals zum Aus­druck gebracht, dass in Wahrheit kein Mensch das Recht hat, einen anderen zu verurteilen? Die einzige Ausnahme ist vielleicht jener Verbre­cher, sei er Arzt oder Politiker, der im Interesse der Herrschaft und des Geldes zum Massenmör­der wird. In allen anderen Fällen befindet sich ein Richter in einer Notlage.

Ich weiß, der arme Tropf da vor mir ist selber Opfer eines Rechtsbruches, der aber ungeahn­det geblie­ben ist. Oder wird jemand freiwil­lig Dieb, Mörder, Kinderschän­der? Wer kann hier vom „frei­en Willen“ sprechen? Ach, es ist eine so tiefe andere Not in uns. Und ich soll dar­über hin­weggehen, um dem Recht genüge zu tun? Das „Recht“, das schützt die Reichen und Gesun­den. Die wollen sich ihren Status erhalten, darum müssen sie eine Handha­be gegen den Ar­men haben. Für das wirkliche Recht können wir nicht tief ge­nug schauen. Vor allem kann es niemanden geben, der es bewacht und durchsetzt. Die­ses Recht braucht nie­manden, oder nur jenen, der nicht aufs Recht pocht, sondern auf Barmherzig­keit.

Wenn ich im Schrank meine schwarze Robe sehe, denke ich stets, ich bin ein Sünder. Das denke ich, ob­wohl ich nicht an Gott glau­be, jedenfalls bin ich kein Christ. Ich müsste in die nächste Verhandlung mit einem Schlachterkittel gehen. Ich würde dem Täter sagen, wir wol­len dich schlachten, und ich soll den ersten Schlag ausführen. Du hast die Dumm­heit began­gen, eines anderen Recht zu verletzen. So bist du in dieses öffentliche, des wirkli­chen Rechts unfähige Feuer ge­raten. Jetzt urteilst nicht mehr du, sondern wir über dich. Das ist dein größ­ter Verlust. Ich will dir diese Gabe, diese Würde zurückgeben. Darum sage selber, wie du des an­dern verletztes Recht zu erstatten gedenkst. Was, glaubst du, wäre ge­recht und was kannst du auf dich neh­men?

Strenggenommen müssten wir das Strafmaß auftei­len auf alle, die an dir Unrecht verübt oder Hilfe unterlassen haben. Dann würde eine zehnjäh­rige Haftstra­fe vielleicht auf eine zweijähri­ge schrumpfen. Die andern erhielten ihre Haftstra­fe symbo­lisch. „Damit wären wir aber bei der Sippenhaftung“, höre ich sie schreien. Nein, nur wer erwischt wird, setzt sich dem Arm menschlicher Gerichtsbarkeit aus. Auch wird nicht dessen Urteil, der erwischt wird und ande­re be­lastet, abgemildert. Das Schlimme: Wir können nicht gerecht sein. Und zie­hen trotzdem stolz die Richterrobe an. Mei­ne Familie prahlt mit mir. Sie hält mich für einen mächtigen Mann. Ja, ich wirke so vernünf­tig, so ruhig, so abgeklärt. Dabei bin ich mir unend­lich lang­weilig, komm mir feige und ver­druxt vor. Für meine Nachbarn bin ich ein kli­nisch-aseptisches Ideal, ohne Fehl und Tadel. Verheira­tet, zwei Kin­der, Haus und Hund. Ich glaube indessen, ich bin schuldiger als die meisten Straftäter, de­ren Leben da vorne auf dem Stahl­rohrstuhl an mich ausgeliefert ist.

Aus „24 Portraits“, erscheint Sommer 2023, Leipziger Literaturverlag

Video der Buchvorstellung Leipziger Buchmesse 2023

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Walter Thümler
schreibt Poesie, Philosophie, Erzählprosa

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