Wie bin ich nur in dieses Amt geraten? Nach jedem Arbeitstag denke ich, ich muss hinwerfen, ich kann das nicht mehr verantworten. „Wir haben ein Gesetz und danach muss er sterben“, tönt es mir im Ohr, dieser Ruf aus dem Volk, das so gierig darauf ist, zu verurteilen, solange es selbst nicht vom Urteil getroffen wird. Ich muss nicht aufs Volk hören, wir leben in einem Rechtsstaat, aber ich muss aufs geschriebene Recht hören, und das kommt von einer mehrheitsfähigen Regierung, das heißt, ich darf nicht aufs Recht hören, denn das ist oft nicht mehrheitsfähig.
Ich bin, weil ich so häßlich ehrgeizig war, angetrieben von meinen Eltern, ausgerechnet im Strafrecht gelandet, dort, wo die Rechtsfindung am schwersten und folgenreichsten ist. Mit meinen Kollegen, bis auf wenige Ausnahmen, kann ich über diese Probleme nicht reden, auch nicht mit meiner Familie. Die Kollegen glauben, Gutes zu tun oder mindestens ihre Pflicht, und wollen gleichzeitig ihre Bezüge sichern. Meine Familie würde, hörte sie von meinen Zweifeln, in Sorge um ihren Wohlstand geraten. Habe ich jemals einen Straftäter, den ich zu Gefängnis verurteilt habe, dort besucht? Habe ich jemals zum Ausdruck gebracht, dass in Wahrheit kein Mensch das Recht hat, einen anderen zu verurteilen? Die einzige Ausnahme ist vielleicht jener Verbrecher, sei er Arzt oder Politiker, der im Interesse der Herrschaft und des Geldes zum Massenmörder wird. In allen anderen Fällen befindet sich ein Richter in einer Notlage.
Ich weiß, der arme Tropf da vor mir ist selber Opfer eines Rechtsbruches, der aber ungeahndet geblieben ist. Oder wird jemand freiwillig Dieb, Mörder, Kinderschänder? Wer kann hier vom „freien Willen“ sprechen? Ach, es ist eine so tiefe andere Not in uns. Und ich soll darüber hinweggehen, um dem Recht genüge zu tun? Das „Recht“, das schützt die Reichen und Gesunden. Die wollen sich ihren Status erhalten, darum müssen sie eine Handhabe gegen den Armen haben. Für das wirkliche Recht können wir nicht tief genug schauen. Vor allem kann es niemanden geben, der es bewacht und durchsetzt. Dieses Recht braucht niemanden, oder nur jenen, der nicht aufs Recht pocht, sondern auf Barmherzigkeit.
Wenn ich im Schrank meine schwarze Robe sehe, denke ich stets, ich bin ein Sünder. Das denke ich, obwohl ich nicht an Gott glaube, jedenfalls bin ich kein Christ. Ich müsste in die nächste Verhandlung mit einem Schlachterkittel gehen. Ich würde dem Täter sagen, wir wollen dich schlachten, und ich soll den ersten Schlag ausführen. Du hast die Dummheit begangen, eines anderen Recht zu verletzen. So bist du in dieses öffentliche, des wirklichen Rechts unfähige Feuer geraten. Jetzt urteilst nicht mehr du, sondern wir über dich. Das ist dein größter Verlust. Ich will dir diese Gabe, diese Würde zurückgeben. Darum sage selber, wie du des andern verletztes Recht zu erstatten gedenkst. Was, glaubst du, wäre gerecht und was kannst du auf dich nehmen?
Strenggenommen müssten wir das Strafmaß aufteilen auf alle, die an dir Unrecht verübt oder Hilfe unterlassen haben. Dann würde eine zehnjährige Haftstrafe vielleicht auf eine zweijährige schrumpfen. Die andern erhielten ihre Haftstrafe symbolisch. „Damit wären wir aber bei der Sippenhaftung“, höre ich sie schreien. Nein, nur wer erwischt wird, setzt sich dem Arm menschlicher Gerichtsbarkeit aus. Auch wird nicht dessen Urteil, der erwischt wird und andere belastet, abgemildert. Das Schlimme: Wir können nicht gerecht sein. Und ziehen trotzdem stolz die Richterrobe an. Meine Familie prahlt mit mir. Sie hält mich für einen mächtigen Mann. Ja, ich wirke so vernünftig, so ruhig, so abgeklärt. Dabei bin ich mir unendlich langweilig, komm mir feige und verdruxt vor. Für meine Nachbarn bin ich ein klinisch-aseptisches Ideal, ohne Fehl und Tadel. Verheiratet, zwei Kinder, Haus und Hund. Ich glaube indessen, ich bin schuldiger als die meisten Straftäter, deren Leben da vorne auf dem Stahlrohrstuhl an mich ausgeliefert ist.
Aus „24 Portraits“, erscheint Sommer 2023, Leipziger Literaturverlag