Aus : Die fünf Minuten des Isaak Babel

Jiddisches Erbe kommt herein, der tiefe Witz ostjüdischer Schwänke, die Diesseitigkeit der chassidischen Lehre, die Weisheit der alten hebräischen Bücher. Vom Großvater Levi Jizchok wird in der Novelle gesagt, er schreibe an einem Manuskript – dem „Mann ohne Kopf“. Wie das Buch geschildert ist, erinnert es an die Geschichten der Schalom Asch, Mendele Mojcher Sforim und Jizchok Lejb Perez. Und natürlich an Scholem Alejchem, mit dessen russischer Herausgabe Babel 1925/26 und dann wieder 1936 beauftragt war. Am 2. Dezember 1938 schreibt er anläßlich einer Inszenierung von „Tewje, der Milchhändler“, er verspüre selbst Lust, ein Stück daraus zu übersetzen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß der Erzähler in der „Reiterarmee“, Kirill Ljutow, in der Novelle „Der Rabbi“, befragt, womit der Jude sich beschäftige, antwortet: „Ich setze die Abenteuer des Hersch Ostropoler in Verse.“ Das läßt an Babels geplanten Herschele-Zyklus denken, aus dem 1918 in Petrograd „Schabos-Nahmeh“ erschien. Hersch Ostropoler war so etwas wie ein ostjüdischer Eulenspiegel, der lange Zeit am Hofe des ukrainischen chassidischen Rabbi Baruch aus Tuldzyn lebte und den gemütskranken Zaddik mit witzigen Einfällen erheiterte. Eine berühmte Sammlung der Geschichten vom Hersch stammt von Chajim Bloch.

Sechs Jahre bevor Babel seinen Erzähler von den „Stürmen der Phantasie“ sprechen läßt, klagt er (1918) : „In meinem Charakter liegt ein unerträglicher Zug zur Besessenheit und unrealen Haltung gegenüber der Wirklichkeit.“ Das sei zu überwinden. Die „Stürme der Phantasie“ zu bändigen und doch nicht zu dämpfen, sie zu beherrschen, das verhieß, die Wahrheit schonungslos und schön sagen zu können. „Ein Vergleich muß genau sein wie ein Rechenschieber und natürlich wie der Geruch des Dills“, sagte Babel 1921 zu Paustowski. Die Geschichte seiner Vorbilder ist die Geschichte der Disziplinierung seiner Prosa. Babel liebte Puschkin, Tschechow, Maupassant. Kiplings „eiserne Prosa“. Gorkis Novelle „Nach Hause“ aus dem Zyklus „Wanderungen durch Rußland“. Tolstois „Hadschi Murat“.

„Als ich ‚Hadschi Murat‘ wieder las“, sagte er 1937, „dachte ich, hier mußt du lernen. Hier ging ein Strom aus der Erde direkt in die Hand, direkt auf das Papier, ohne jede Wand, riß mit dem Wissen der Wahrheit alle Hüllen schonungslos herunter, doch diese Wahrheit trug, sobald sie sichtbar wurde, leichte und schöne Kleider.“ So sollten seine Geschichten sein: Voller heidnischer Lust, unmäßig wie das Leben, fabuliert, doch auf den Punkt genau überlegt. „Kein Eisen dringt glühender ins menschliche Herz als ein zur rechten Zeit gesetzter Punkt“, heißt es in „Guy de Maupassant“. Die Novelle war da gerade recht. Babel bezog sich später auf Goethes bekannte Definition. Aber das war eher eine Aushilfe. Babel erneuerte die Novelle in einer Weise wie wenige vor ihm. Boccaccio und Maupassant, Turgenew und Tschechow waren bei ihm aufgehoben – und neu entdeckt. Auch dem Novellenzyklus forderte er Neues ab. Es war, wie Tolstoi fünfzig Jahre zuvor formuliert hatte: „Angefangen bei Gogols ‚Toten Seelen‘ bis hin zu Dostojewskis ‚Totenhaus‘ gibt es in der neuen Periode der russischen Literatur nicht ein einziges Prosawerk, das nicht ein wenig über die Mittelmäßigkeit hinausginge, die in der Form des Romans, des Poems oder der Erzählung völlig Platz gefunden hätte.“

Man hat sich einen Text von der sprachlichen Dichte der Prosa Johannes Bobrowskis vorzustellen. Auch an den Iren Synge ist einmal erinnert worden. Ein englischer Kritiker verglich 1928 die „in natürlichen Rhythmen gebrachte urwüchsige Volkssprache“ der Novellen „Salz“ und „Ein Brief“ mit Synges Sprache im Stück „Ein Held der westlichen Welt“. Was Babel leistete, wird aus einer Gegenüberstellung deutlich. In Larissa Reisners „Front“ heißt es: „Einer hält eine Rede – ach, eine Rede hält er, eine ungestüme, von Fehlern strotzende, grobe Rede, die noch vor einer Woche nur ein schiefes Lächeln geerntet hätte – doch der Kapitän ersten Ranges hört sie mit klopfendem Herzen, mit fliegenden Händen, und fürchtet sich einzugestehen, daß das Rußland dieser Weiber, Deserteure und Grünschnäbel, das Rußland des Agitators Abram, der Mushiks und der Sowjets, daß das sein Rußland ist, für das er gekämpft hat und immer kämpfen wird, ohne Furcht vor Läusen, Hunger und Fehlern; noch weiß er nicht, noch fühlt er es nur, daß hier allein das Recht, das Leben, die Zukunft ist.“

So eine Stelle ist bei Babel undenkbar. Bei Babel stehen diese „Reden“ da, die Larissa Reisner beschreibt: als Brief, als Beschwerde, als Augenzeugenbericht, als Lebensbeschreibung, Ansprache, Dialog. Babel läßt die historischen Subjekte selbst auf ihre Taten sehen. Haltungen werden nicht auktorial erläutert, sondern in ihrer sprachlichen Evidenz festgehalten. Babel arbeitet oft mit dem Denksystem, mit der Sprache seiner Helden, ohne korrigierend einzugreifen, ohne andererseits die Begrenztheit dieses Systems zu überdecken. Im Russischen heißt es „Skas“. Bei uns spricht man von personalem Erzählen. Wichtig ist ihm die Gelegenheit, durch eine Anstrengung des Gewöhnlichen das Außerordentliche zu erforschen.

Der Unterschied zwischen dem zitierten Brief des Kosaken Samuil Fjodorowitsch Schadrin und den Briefen in „Ein Brief“, „Die Sonne Italien“, „Die Geschichte eines Pferdes“, „Salz“, „Fortsetzung der Geschichte eines Pferdes“ oder „Der Verrat“ besteht in der differierenden semantischen Funktion der Texte und ihrer Elemente. In „Der Verrat“ schreibt ein Kavallerist: „… wie Feuer brennt die Seele und sprengt das Gefängnis unseres Körpers.“ Es korrespondiert nicht zufällig mit dem Bekenntnis des Erzählers Ljutow, „dessen uralten Leib die Stürme der Phantasie fast sprengen.“ Die Struktur der „Reiterarmee“ baut mit dieser Energie: mit dem Vorgefühl und der Vorwegnahme einer „vollständigen Emanzipierung aller menschlichen Sinne und Eigenschaften“. Die Glückssuche der „Reiterarmee“ ist nur so zu verstehen. So auch der Ernst, mit dem in „Die Geschichte eines Pferdes“ und „Fortsetzung der Geschichte eines Pferdes“ um ein Pferd gekämpft wird: „Die Kommunistische Partei ist, soviel ich verstehe, zur Freude aller und zur Errichtung einer unbedingten, uneingeschränkten Gerechtigkeit gegründet worden und muß sich auch um die kleinen Leute kümmern. Nun möchte ich den Schimmelhengst erwähnen, welchen ich den unverbesserlichen, konterrevolutionären Bauern abgejagt habe und der dazumal ganz armselig ausgesehen hat; viele Genossen haben ungeniert darüber gelacht. Ich aber hatte die Kraft, ihr boshaftes Gelächter zu ertragen, und habe mit zusammengebissenen Zähnen den Hengst für unsere gemeinsame Sache bis zur gewünschten Veränderung gepflegt, weil ich, Genossen, ein Liebhaber weißer Pferde bin und sie mit den letzten Kräften pflege, die mir nach dem imperialistischen Krieg und dem Bürgerkrieg geblieben sind.“ Und nur so versteht sich jener vielfach mißdeutete Satz Ljutows über seinen Freund Chlebnikow: „… uns beide verzehrten die gleichen Leidenschaften. Wir blickten auf die Welt wie auf eine Wiese im Mai, eine Wiese voller Frauen und Pferde.“ Babel besänftigte nicht das Pathos durch die Ironie des Beobachters, wie gelegentlich behauptet wird, er überwindet die Ironie durch das Pathos der neuen Realität.

Die Sprache modelliert, noch bevor sie zum Baustoff der Literatur wird, in komplizierter Form die Vorstellungen von den Beziehungen der Phänomene im Leben. Sie enthält, was die Arbeit des menschlichen Bewußtseins eintrug, darunter auch, was aus früheren literarischen Strukturen in sie einging. Der Dichter arbeitet also gegen den Widerstand seines Materials. Der künstlerische Effekt seiner Arbeit ist immer ein Bündel von Verhältnissen, das etwa umfaßt: das Verhältnis des neuen Texts zu den ästhetischen Normen seiner Zeit, zu den gängigen Gattungsvorstellungen, zum Sujetbegriff, zur Erwartung des Lesers, die Verhältnisse innerhalb des Texts, also das Verhältnis des Erzählers mit fiktivem Persönlichkeitswert zur realen Persönlichkeit des Autors, das Verhältnis der verschiedenen Stilebenen zueinander usw. Johannes Bobrowski formulierte das einmal sehr deutlich in einem Interview von 1965 : „Ich fürchte eine gewisse Stagnation in der Entwicklung, wenn wir in dem bisherigen Literaturdeutsch bleiben. Und ich habe mich bemüht, volkstümliche Redewendungen, sehr handliche Redewendungen, eben volkstümliches Sprechen bis zum Jargon, mit einzubeziehen, um die Sprache ein bißchen lockerer, ein bißchen farbiger und lebendiger zu halten. Außerdem geht das auch auf die Syntax. Ich bemühe mich um verkürzte Satzformen, um im Deutschen nicht sehr gebräuchliche Konstruktionen, die alle etwas Handliches haben.“ Bobrowski hat vom personalen Erzählen viel gehalten, und nicht zufällig imponierte ihm eine von Babels Tagebuchnotizen so, daß er sie als vorletzten Absatz in „Ich will fortgehn“ hereinnahm. Es ist: „Djakow kommt. Das Gespräch ist kurz: Für dieses Pferd kannst du fünfzehntausend bekommen, für jenes zwanzig. Wenn es aufsteht, dann ist es ein Pferd.“ Babel verwandte die gleiche Notiz in der Novelle „Der Chef der Kavalleriereserve“.

Die Sprachmischungen der „Reiterarmee“ sind so kompliziert wie in Bloks „Zwölf“ oder Majakowskis „Gut und schön“. Es ist keineswegs damit getan, die Herkunft der einzelnen Elemente zu benennen: Bauernrussisch, Militärjargon, Revolutionsvokabular, chassidische Beredsamkeit. Stilbildend ist das Nebeneinander und Gegeneinander der Polaritäten, die wechselnde Vereinigung des vorher Unvereinbaren. Und die polemische Korrespondenz dieses Verfahrens zur vorliegenden Literatursprache. Die Übersetzung muß vieles unterschlagen. Der stilistischen Funktion regelwidriger Grammatik in den „Briefen“, der Volksetymologien, des Nebeneinanders von Amtssprache, revolutionärer Losung und Dialekt, der Ukrainismen und Hebraismen kann die andere Sprache nur selten gerecht werden. Aber das sind die üblichen Verluste. Die Spannungen, die die Worte, Sätze, Absätze und Novellen zusammenhalten, sind durchaus zu reproduzieren. Freilich bleibt das schwer. Denn: „Ein Satz wird geboren – schön und häßlich zugleich. Das Geheimnis besteht in der kaum spürbaren Umstellung. Der Hebel muß gut in der Hand liegen und warm werden. Umstellen muß man in einem Zug, nicht in mehreren.“ „Berestetschko“ bietet sich als Beispiel an.

Die Novelle heißt so nach dem polnisch-russischen Grenzstädtchen und beginnt, wie fast alle Novellen, mit der Information über einen Ortswechsel: „Wir zogen von Chotin nach Berestetschko.“ Das schafft, wie die zusätzliche Datierung und geographische Festlegung von zwölf Novellen am Schluß des Texts (zum Beispiel „Bei Sankt Valentin“ mit „Berestetschko, August 1920“) jene „Authentizität“, die Babel für den Aufbau seiner Struktur brauchte: Sie gehört zum System der semantischen Steigerung der Autentica wie „Brief“, „Beschwerde“, „Ansprache“ und „Lebensbeschreibung“, in denen Fiktion das Dokument „dokumentarischer“ macht. In diesem Sinn ist Gorki zu verstehen, wenn er schreibt: „Wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie, hoffe ich, Babel zustimmen, weil die Soldaten seiner ‚Reiterarmee‘ mehr Menschen sind als die Soldaten Budjonnys.“

„Wir zogen von Chotin nach Berestetschko.“ Das ständige Unterwegssein der 1. Reiterarmee kann gefaßt werden: „Nowograd-Wolynsk, Juli 1920“, „Belew, Juli 1920“, „Brody, August 1920“ usw. (wobei zu bemerken ist, daß Babel diese „Chronologie“ nicht wahrt.) Und: „Ich schlage mich nach Leszniów durch…“, „Gestern abend nahm unsere Division Berestetschko“, „Die 6. Division hatte sich im Wald beim Dorf Tschesniki gesammelt…“ usw. Der große Bilderbogen, die sinnliche Gleichzeitigkeit, an den Bauernbreughel erinnernd, Babels Struktur ohne Mitte, nach allen Seiten offen – gibt eine Entsprechung für diesen technisch wie sozial und historisch dynamischen Teil der jungen Roten Armee.

„Berestetschko“ rückt die Zeiten zusammen: Auf den tausendjährigen Grabhügeln verstümmelte Leichen. Am Grabe Bogdan Chmelnizkis das Lied der Bauern von vergangenem Kosakenruhm. Die jahrhundertealte Tradition einer dürftigen Architektur. „Der Ort stank in Erwartung einer neuen Ära…“ Das verlassene Schloß des einstigen Herrschers über Berestetschko und die Rede Winogradows über den Zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale und der französische Brief von 1820: „Berestetschko, 1820. Paul, mein Geliebter, man sagt, Kaiser Napoleon sei tot, ist das wahr? Ich fühle mich wohl, die Niederkunft ist leicht gewesen, unser kleiner Held wird schon bald sieben Wochen alt.“ „Berestetschko“ schließt: „Und unten ertönt noch immer die Stimme des Kriegskommissars. Voll Leidenschaft überzeugt er die staunenden Kleinbürger und die ausgeplünderten Juden: ‚Ihr seid die Macht. Alles, was hier ist, gehört euch. Es gibt keine Pans mehr. Ich schreite zur Wahl des Revolutionskomitees…'“

Neue Räume tun sich auf. Es ist eine Prosa der weiten Perspektive. Babels fünf Minuten beherbergen die Welt. Der Banduraspieler, der von vergangenem Ruhm singt, der Kosak, der tötet, Winogradow, der die Zukunft für angebrochen erklärt, der Kleinbürger, der staunt, Ljutow, der einen Brief von 1820 findet – sie stehen in der Geschichte. Das ist freilich keine Geschichtlichkeit quantitativer Art. Es gibt bei Babel keine Schlacht von Waterloo oder Borodino. Das ist ihm seinerzeit vorgeworfen worden. Schlachten sind bei Babel entweder vorbei („Gestern abend nahm unsere Division Berestetschko“, beginnt „Bei Sankt Valentin“) oder noch voraus („Und auf das Zeichen des Divisionschefs begannen wir die Attacke, die unvergeßliche Attacke auf Tschesniki“, schließt Tschesniki). In „Afonka Bida“ gibt es diesen Absatz:

„Am nächsten Morgen war Afonka verschwunden. Bei Brody begannen Kämpfe und hörten wieder auf. Niederlage wechselte mit vorübergehendem Sieg; wir bekamen einen neuen Divisionskommandeur. Afonka aber war noch immer nicht da. Nur das drohende Gemurr in den Dörfern bezeichnete die böse Raubtierspur seines Leidensweges.“ Er besorgte sich ein Pferd.

Diese Verschiebung der Proportionen führt zu der verblüffenden historischen Sättigung der „fünf Minuten“, also zur besonderen Art der epischen Dimension der „Reiterarmee“. Bis zum äußersten erkundet, wird die Realität phantastisch. Nicht nur Babels Gestalten, auch seine Landschaften sind von dieser Phantastik. Man verglich sie mit Kulissen. Das hat etwas für sich, denn es betont ihre relative Selbständigkeit. Da es bei Babel keine „Seelenlandschaften“ gibt, bleibt die geographische Szenerie seiner Novellen frei von expliziter Psychologie. In „Berestetschko“ gibt Babel der Landschaft drei Funktionen: die Geschichtlichkeit der Gegend aufzurufen; die sozialphysiologische Skizze des Grenzorts zu zeichnen, die ein Drittel der knapp drei Seiten einnimmt, und natürlich ihre Aufgabe nicht nur für „Berestetschko“, sondern für den ganzen Zyklus hat; und die aktuelle Atmosphäre der „fünf Minuten“ zu fixieren („Die Stille des Sonnenuntergangs färbte die Gräser vor dem Schloß blau…“ – „… sah über Wiesen hin, wo Nymphen mit ausgestochenen Augen alte Reigen tanzten“). Der Wechsel der Einstellungen erfolgt übergangslos. Auch die Landschaftsschilderung dient Babel dazu, die Assoziationsarbeit des Lesers durch genau berechneten Schnitt der Erkenntnis nutzbar zu machen. Wieviel Mühe Babel auf die richtige Anordnung der Elemente verwandte, ist gut zu verfolgen an Hand der Entwürfe für „Kampf um Brody“.

Im Tagebuch steht eine lange Eintragung vom 7. August 1920, beginnend mit: „Denkwürdiger Tag. Morgens von Chotin nach Berestetschko.“ Vergleicht man die Notiz mit der Novelle, so stellt man als Wichtigstes fest: Jeder Affekt, jedes Staunen, diese äußere Überraschung des Moments ist fort. Aufgesucht ist der historische Angelpunkt des Staunenerregenden, Überraschenden. Und: der historische Angelpunkt für den Affekt des Tagebuchs. Denn die „Reiterarmee“ erzählt zugleich, wie das Tagebuch aufgehoben wurde – bewahrt, potenziert und überwunden. Im Brief vom 13. August 1920 hieß es: „Ich habe hier zwei Wochen völliger Verzweiflung hinter mir, das kam von der rasenden Grausamkeit, die hier nicht eine Minute innehält, und davon, daß ich deutlich begriffen habe, wie ungeeignet ich für das Werk der Zerstörung bin, wie schwer es mir wird, mich vom alten zu lösen, von … dem, was vielleicht schlecht ist, für mich aber Poesie atmete wie der Bienenstock Honig; jetzt komme ich wieder zu mir, was soll da weiter sein – die einen werden die Revolution machen, und ich werde das singen, was sich abseits findet, was tiefer liegt, ich habe das Gefühl, daß ich das kann und daß dafür Platz und Zeit sein wird.“ Keine Drückebergerei. Es war die früheste Formulierung der Erzählperspektive der kommenden „Reiterarmee“. Noch undeutlich wie das ganze Werk im Jahre 1920. Ungefüge, kein Vergleich mit der exakten Tolstoi-Gegenüberstellung von 1937. „Abseits“ bezog sich nicht auf einen Platz außerhalb der Revolution, und „tiefer“ meinte die Tiefe der Revolution. Babel hat tatsächlich noch am Entferntesten, Ungeeignetsten das Außerordentliche des Neuen demonstriert und dieser neuen Außerordentlichkeit damit von vornherein die falsche Glorie versagt.

Weder im Tagebuch noch in den Entwürfen und Notizen gibt es einen Hinweis auf den Erzähler.

(Konzepte Leipzig : S. 79-87)

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