Er besteigt das Flugzeug in Berlin Tegel mit einer Schallplatte. Ravel, Gaspard de la nuit. Er hat die Hülle zukleben müssen, damit die Platte nicht herausfällt. Er klammert sich an die Schallplatte und besteigt das Flugzeug wie zu einer Hinrichtung oder einer öffentlichen Vorführung. Es regnet auf die Rollbahn, als das Flugzeug abhebt. Er spürt den erlösenden Ruck, das Flugzeug steigt, läßt den Flughafen, läßt Berlin zurück. In Hamburg taucht es in einen Wirbel aus Wolken, weißen, dichten Luftmassen, stößt in sie hinein und später wieder aus ihnen hervor. Er hält sich an der Schallplatte fest, macht sie zu seinem Glücksbringer, überzeugt, ihm könne mit der Schallplatte in der Hand nichts geschehen. (Jedenfalls würde er es nicht bemerken.)
Am Abend desselben Tages sitzt er in der Straßenbahn, fährt die verwinkelten Gassen und Schluchten der Alfâma hinab, sieht unter sich, in der Sonne, das magische Blau und ist glücklich, so glücklich, daß er glaubt, wahnsinnig werden zu müssen. Er kauft an einem Kiosk auf der Praça do Comércio eine Telefonkarte, cartão telefónico ist sein erstes neues Wort, er wird es von nun an häufig benutzen, und ruft „zu Hause“, in Berlin an, in der Wohnung Franziskas, die nicht da ist.
Schon der Ausstieg aus dem Flughafen, das Verlassen des Gebäudes benimmt ihm den Atem. Etwas verschwommen, in einem heißen Dunst liegt der Tejo vor ihm, Taxis schieben sich voreinander, in einer Kette, schwarze Frauen in bunten Gewändern wandeln vor ihm, er kommt sich unbeschreiblich bieder und provinziell vor, es scheint Afrika, keine europäische Stadt. Er steht da, mit seinen zwei Koffern, der Schreibmaschine, seiner Schallplatte, preßt sie an sich, sucht nach einem Taxi, nennt dem Fahrer die Adresse. Rua da Penha de França. Der Fahrer scheint sie zu kennen. Er selbst hat keine Ahnung, wo es ist. Er hat keinen Stadtplan. Gluthell und heiß liegt die Stadt vor ihm, hüllt ihn ein, bald auch das Taxi, das seinen Weg vom Flughafen weg in die Stadt nimmt, auf den Straßen dahinschießt. Der Fahrer spricht von Bauarbeiten, weist auf das Wellblech, viele Baustellen, er versteht es nur halb, nickt, gottseidank verlangt der Mann keine Konversation von ihm. Sein Portugiesisch ist schlecht, fast nicht vorhanden. Er spürt, daß es zwischen den Wellblechzäunen entlanggeht, einen Berg hinaufgeht, daß es eine lange Straße ist, in der der Wagen langsamer fährt. Plötzlich stoppt das Taxi, der Fahrer bedeutet ihm mit einem Kopfnicken, daß sie angekommen sind. Er öffnet die Tür, die heiße Luft dringt herein. Rasch ist er verschwitzt, die Koffer stehen schon neben der Straße, halb auf dem Gehweg. Er hat bezahlt, ein gutes Trinkgeld gegeben, das Taxi ist weg. Er hält noch die Schreibmaschine, seine Schallplatte, da kommt schon ein Mann, nimmt die Koffer fürsorglich von der Straße, vom Gehweg weg, stellt sie vor das Haus. Der Mann will ihm helfen, den Weg freihalten, andere daran hindern, die Koffer zu nehmen. Es ist Carlos, der Barbesitzer, sein erster Freund, wenn das Wort nicht zu groß ist. Ein Verbündeter, eine Anlaufstelle in den kommenden Wochen.
Die Häuser in der Straße haben merkwürdige Konturen für ihn. Von einem Blau in der Höhe zusammengehalten, ergeben sie für ihn keine Form, sie bleiben gestaltlos, ein Band, das die Straße begrenzt. Die Fenster sind Schlitze, hinter Rolläden verborgen, die Stockwerke niedrig. Ein Band von Häusern, beidseits der schmalen Straße, die dennoch eine Durchgangsstraße zu sein scheint. Er klingelt, 2º DTO., segundo direito, 2. Stock rechts. Am Klingelschild keine Namen, nur metallene Knöpfe in einer Metalleiste.
Dann steht er mit seinem Koffer, der Schreibmaschine vor der Tür im zweiten Stock und klingelt noch einmal, hinter ihm hat sich die Aufzugstür mit einem lauten Geräusch geschlossen. Er ist über und über verschwitzt, sein Atem geht keuchend. In der Tür erscheinen zwei Frauen, eine größere, dunkelhaarige mit ausdrucksstarken Augen und einem großen, scharfkantigen Gesicht, neben ihr eine schlanke, kleinere, grauhaarig und, wie es scheint, äußerst beweglich. Die beiden reden auf ihn ein, mal auf Portugiesisch, mal in Englisch, stellen ihm Fragen. Ihm tropft der Schweiß von der Stirn, rinnt die Ausdünstung des Körpers über den Rücken. Er will auf alle ihre Fragen antworten und weiß nicht, wo beginnen. Schließlich hört er sich sagen, I am glad to be here. Die größere der beiden, Arlete, öffnet den Mund zu einem großen, breiten Lächeln, ihre Augen blitzen, Mas ele é simpático, hat sie ihr Urteil gefällt und öffnet die Tür ganz, um ihn einzulassen.