Das Wesen Mensch
Laudatio zu einer Ausstellung von Jens Ossada, Schloß Rochsburg
Das Wesen Mensch — wer denkt da nicht an die Kreatur, die Schöpfung Gottes. Oder, um ein anderen Glaubenssatz zu benennen, an die „bio-psycho-soziale Einheit Mensch“. Den Maler und Skulpturenbauer Jens Ossada beschäftigt die Frage, worin das Wesen des Menschen besteht, ohne sich davon abschrecken zu lassen, daß es auf diese Frage keine endgültige Antwort geben kann. Ihm kommt es auf die Suche an, nicht auf das Finden.
Ossada fertigt Konzeptkunst. Das ideologische Vakuum, in das der Osten Deutschlands 1989 stürzte, füllt Ossada als Suchender mit Gegen-Sätzen aus: Er ist mutig genug, seine persönlichen Standpunkte an die Stelle realsozialistischer und postmodern-spätkapitalistischer Dogmen zu setzen. Er befindet sich in der gegenwärtigen Zeit, indem er ihre Abfälle als Material verwendet, und er ist gegen sie, indem er sie nicht blind und widerspruchslos anerkennt.
Daß Ossada damit seiner Kunst eine gewisse Plakativität verleiht, stößt zur Auseinandersetzung an: Auch Ossada will mit seinen Werthaltungen wieder überwunden werden. Besonders gelungen sind die Materialarbeiten, bei denen das vordergründig Ideologische hinter den Ready-made-Charakter vorgefundener Alltagsgegenstände wie Handschuh oder Jacke zurücktritt. Hier kann der Betrachter anknüpfen, findet scheinbar Vertrautes und ist überrascht vom ungewohnten Zusammenhang, in den es gestellt ist. So erinnert die Komposition der ausgestopften Kleider in „Nur die anderen“ auf gespenstische Weise an Giftgastote im ersten Weltkrieg oder die Kleiderkammer der getöteten Juden in Auschwitz.
Peter Dombrowski, ein Leipziger Autor, der kürzlich sein Debüt vorlegte, formuliert es so: „Der Mensch ist das Tier, das weiß, das es kein Tier ist.“ Vieles im Menschen erinnert an das Tierreich. Wir entstammen ihm, aber sind wir ihm auch „entsprungen“? „Entsprungen“ im Sinne, daß wir ihm nicht mehr angehören? Es gehört zu den menschlich, allzumenschlichen Illusionen, daß der Mensch alle guten Eigenschaften, die er an sich wahrnimmt und derer er sich rühmt, als menschliche Qualitäten einstuft, alles Böse aber, das sich in ihm äußert, Krieg und Verbrechen, als tierische Relikte betrachtet.
Was also ist der Mensch? Ist er Gottes Schöpfung, ist er Gottes Fleisch? Wir erfahren aus den heiligen Schriften nicht, wie Gott ist, sondern wie der Mensch beschaffen ist, der an Gott glaubt. Theologie läßt sich, um mit Feuerbach zu sprechen, in Anthropologie auflösen. Nicht Gott schuf den Menschen sich zum Bilde, sondern umgekehrt: Der Mensch schuf Gott sich zum Bilde. Der Mensch muß von Gott die Chance erhalten, ihm zu entsagen, damit er ihn freien Herzens lieben kann. Der wahre Gläubige ist ein Mensch, der auf den Glauben verzichten kann. Damit sind wir wieder bei dem, was Ossada als „Suche“ bezeichnet. Für ihn ist der Mensch ein „Suchender“. Wer das Göttliche gefunden hat, ist seiner nicht würdig.
In Rußland gab es eine Periode, in der Zar und Patriarchen der orthodoxen Kirche dem Volk harmlos erscheinende Reformen verordnen wollten: zweimal statt sich dreimal bekreuzigen, gegen den Lauf der Sonne statt mit dem Lauf der Sonne um die Kirche prozessieren etc. Die Abkehr von den alten Ritualen wurde als Häresie empfunden und löste die größe Widerstandsbewegung in der russischen Geschichte aus, die mehr Opfer hatte als die Oktoberrevolution, die sogenannten raskolniki, nach denen Dostojewski seinen berühmten Helden in „Schuld und Sühne“ benannte. Sie wurden von der Armee des Zaren verfolgt, flüchteten in Sumpfwälder, wo sie sich als „Altgläubige“ bis heute niedergelassen haben und in priesterlosen Gemeinden leben: Sie brachten sich – zu einer Zeit, als in ganz Europa noch Analphabetentum herrschte – von Generation zu Generation Lesen und Schreiben bei, um selbst die alten kirchenslawischen Schriften beherzigen zu können. Menschen, die ihr Wesen erkennen und obrigkeitsstaatliche Führung ablehnen, um in einer selbstbestimmten Gemeinschaft zu leben, haben es nicht leicht im Staat – nicht nur im nachaufklärerischen Rußland.
Niklas Luhmann (1984, S. 346) erklärt den Begriff „Mensch“ für überflüssig. Der Autor fordert, den Menschen nicht mehr – wie es der Bildzeitungsverbildete Laienphilosoph gern praktiziert – als „Element“ sozialer Systeme zu betrachten. Der sogenannte „gesunde Menschenverstand“ sieht sich selbst so gern als Teil eines großen gesellschaftlichen Ganzen, sei es, um sich darin aufgehoben, sei es, um sich von ihm unterdrückt zu fühlen. Das Element sozialer Systeme sind nicht Menschen, sondern Kommunikationsformen, Rollen. Nicht die Nase des Chefs ist entscheidend, sondern wie er mit seinen Mitarbeitern umgeht. Dasselbe läßt sich von Bundeskanzlerinnen oder Künstlern sagen. Wenn die Grundlage sozialer Systeme Kommunikation ist und nicht der Mensch – d.h. nicht der Mensch in seiner Gesamtheit, sondern nur der in einem bestimmten Zusammenhang kommunizierende Teil der Person – welche Rolle spielt der Mensch dann überhaupt? Wie läßt sich sein Verhältnis zur Gesellschaft, zum Staat, zur Natur, zur Industrie- und Maschinenwelt beschreiben? Ist der Mensch Gestalter oder Opfer seiner Umwelt?
Das Unbehagen bei dem Versuch, den Menschen nicht länger als Element sozialer Systeme zu betrachten, wirft ein Licht auf das Unbehagen der modernen Gesellschaft, die den Einzelnen nicht mehr in seiner Ganzheit beansprucht, sondern nur noch in funktionalen Zusammenhängen. Nur noch wo wir als Arbeitskraft nützlich und verwertbar sind, werden wir gezählt. Es handelt sich hier um eine schleichende Faschistoierung des Lebens durch die Ökonomie. Das mag in manchen Fällen als schmerzhaft empfunden werden, mitunter als glücklicher Umstand, der Freiheit und Anonymität in der Rollenbegrenzung bedeutet. Die Inkarnation der Arbeitsteilung, die Fordsche Fabrik, hat die psychologische Fraktionierung des Menschen mit wissenschaftlicher Akribie auf die Spitze getrieben: höchste Effektivität der Produktion zum Preis der krassesten Verarmung der Persönlichkeit der Arbeiter am Fließband. Ganzheitlichkeit ist nur – oder nur noch – in wenigen Momenten des Lebens zu finden, in der Kunst, der Poesie und manchmal in der Liebe. Das läßt ihren Wert, auch subjektiv empfunden, steigen. Mit der künstlerischen Libertinage kommt ein Festklammern am Menschlich-Zwischenmenschlichen ins Spiel.
Nicht das Wesen, sondern die Masse Mensch stehe im Vordergrund, meint Ossada — wer hat Angst vor Elias Canetti? Der promovierte Chemiker erhielt 1981 den Nobelpreis für Literatur. Neben den autobiographischen Romanen ist der soziologisch-anthropologische Essay „Masse und Macht“ von herausragender Bedeutung. Der renommierte Carl Hanser Verlag in München hat im Jahr 2005 anläßlich des 100sten Geburtstages von Canetti eine Sonderausgabe herausgebracht: Sie verkaufte sich im gesamten deutschsprachigen Raum nur etwa 400 Mal. Wer kennt heute noch Elias Canetti? Ossada hat ihm eine Plastik gewidmet. Zahlreiche seiner Arbeiten scheinen von Canetti inspiriert.
Das Wesen Mensch verliert bei Ossada häufig seine Individualität und geht in die Gesichtslosigkeit über: als verwertbare Arbeitskraft, als Herde, als Großstadtbewohner. Dabei sieht Canetti die Masse durchaus nicht negativ. Erst in der Masse kann der Einzelne die Zwänge der gesellschaftlichen Konventionen ablegen, sich „entladen“ und auf gewisse Weise damit zu sich kommen. Geschichte verläuft nicht geradlinig, sondern mäandert. Das liegt an den Paradoxien, die das Wesen Mensch im System seiner gesellschaftlichen Existenz in sich birgt. Erst in der Masse offenbart sich der Einzelne. Während geschlossene Massen – wie zum Beispiel die Besucher einer Kirche oder einer Ausstellungseröffnung – in der Regel geordnet auftreten und sich Ritualen unterwerfen, die das Gefühl von Sicherheit spenden in einer chaotisch erscheinenden Außenwelt, entzündet sich in offenen Massen der Zerstörungswille, die Aggression gegen erlebte Fremdbestimmung und Demütigung. Die Masse in einem Fußballstadion – zum Beispiel von Lok Leipzig – steht genau an der Grenze zwischen kanalisierter, geschlossener Organisation und offener, frei flottierender Menge.
An dieser Stelle möchte ich einen anderen Weisen der Menschheit zitieren, dessen Aussprüche nach der Bibel am häufigsten auf diesem Planeten übersetzt und verbreitet wurden und immer wieder werden:
Wer sie in seiner Person entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend wird aufrichtig.
Wer sie in seiner Familie entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend geht über das Nötige hinaus.
Wer sie in seinem Ort entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend währt lange.
Wer sie in seinem Staat entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend wird gewinnt Ansehen.
Wer sie überall in der Welt entwickelt,
dessen Wirkkraft / Tugend wird Allgemeingut.Daher:
Erkenne die Person anhand der Person,
erkenne die Familie anhand der Familie,
erkenne den Ort anhand des Ortes,
erkenne den Staat anhand des Staates,
erkenne die Welt anhand der Welt,
Woher weiß ich, daß es in der Welt so ist?
Durch dies.Laozi ·Daodejing, Kapitel 54, 3. Jahrhundert v. u. Z.
Laozi – der wahrscheinlich als Autor nie existierte, es handelt sich nur um eine Namenszuschreibung für die Spruchsammlung, weil die Leser eben einen Namen brauchen – spannt einen Bogen vom Einzelnen zur Welt. Genau darin stimmt Ossadas Erkenntnisinteresse mit der Tradition überein. Seitdem Menschen existieren, fragen sie sich nach dem Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Alle Versuche, hier einen deterministischen Zusammenhang zu zementieren, den Einzelnen als versklavt zu sehen von der Gemeinschaft oder umgekehrt, die gesellschaftliche Entwicklung als Ergebnis des Wirkens einzelner großer Führer zu psychologisieren, haben sich als vorübergehend und gescheitert herausgestellt. Keine der sieben Kategorien, die Ossada für das Wesen Mensch proklamiert, kann allein für den Menschen stehen.
Das Bild ist ein Versuch, der äußerlich sichtbaren Welt körperlich habhaft zu werden. Das Bild ist eine Verlängerung des Körpers. Ossadas Materialbilder verkörpern sich selbst und damit die Ansichten ihres Schöpfers. Sie sind kein Spiegel, der mit fotografischer Genauigkeit wiedergibt. Sie fügen der Wahrnehmung Sinnlichkeit, Logik und Phantasie hinzu. Tatsächlich ist Phantasie notwendig, um sich „die Wirklichkeit“ vorstellen zu können. Sein und Bewußt-Sein sind weder identisch noch aufeinander reduzierbar. „Das Sein des Seienden ist je meines“, sagt Heidegger (1927, S. 41).
Ossada hat den Mut, uns seine Konstruktionsidee der Welt zuzumuten. Er tritt als Schöpfer eines Second Life auf eine Bühne, deren Kulissen abstrakt und reduziert erscheinen, auf der das Wesen Mensch in der Masse aufgeht oder seine Individualität einbüßt. Hätte Ossada in sieben Tagen die Welt geschaffen, würden wir uns selbst in ihr nicht wiedererkennen. Als Schöpfer des Zerr- oder Rückspiegels, in dem wir das Wesentliche unserer Existenz sehen, gelingt es dem Künstler, Fragen aufzuwerfen, damit wir nicht wie selbstverständlich unsere Individualität zu Markte tragen und gegen widerstandsloses Funktionieren in der Leistungsgesellschaft eintauschen.
Ossada schafft in seinen Werken eine Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und gedanklicher Reflexion. Weder „die Wirklichkeit“ zweifelt noch der Sinneseindruck. Sie lassen sich akzeptieren oder ablehnen. Erst durch Reflexion entstehen Zweifel. Theoretisch ließe sich dieser Prozeß ins Unendliche fortsetzen: Es könnte wiederum Zweifel geben, die sich auf die vorherigen Zweifel beziehen usw. In der Regel geschieht dies jedoch nicht und wenn es geschieht, wird es rasch gefährlich. Das Bewußt-Sein kann sich im Endlosen verirren. Das Fortschreiten in unendliche Schleifen des Zweifelns führt ins Abgründige, denn es offenbart die Nichtexistenz eines absoluten Sinns. Erst wo Zweifel ist, wächst auch die Verzweiflung.
Doch Ossada bricht den Prozeß des Infragestellens auf der Ebene abstrakter Reflexion ab und setzt Zeichen. Er reduziert die unendliche Komplexität des menschlichen Wesens auf sieben Kategorien. Will er den Betrachter vorm Absturz in den unendlichen Progreß des Zweifelns schützen, ihn vor dem unvermeidlichen Gefühl des Sinnverlustes bewahren?
Je abstrakter Ossada operiert, desto stärker ist sein Werk von anschaulichen Bezügen, Materialien, und bildhaften Vorstellungen abhängig, um den Gegenstand nicht zu verlieren. Abstraktionen sind in der Regel von schwächerer Intensität als unmittelbare sinnliche Reize. Ein Künstler, der – ganz untypisch – auf die Darstellung des nackten menschlichen Körpers verzichtet, um uns das Wesen des Menschen vor Augen zu führen, bricht mit der abendländischen Tradition – und er muß aufpassen, sich nicht in wolkigen Gelehrsamkeiten zu verirren. Gerade der Wechsel zwischen konkreter und abstrakter Erkenntnis, zwischen Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit kennzeichnet die Qualität des künstlerisch Geschaffenen.
Zum Schluß noch eine kritische Frage: Warum etabliert Ossada ausgerechnet sieben Kategorien um das Wesen des Menschen einzufangen? Hätten nicht vier gereicht? Dostojewskijs „Brüder Karamasow“ können in diesem Sinne als Facetten des Menschlichen betrachtet werden.
„Du bist selber ein Karamasow, du bist in allem ein Karamasow… Vom Vater her bist du ein Wollüstling, von der Mutter her ein christlicher Narr… Das ist alles, mein Lieber, eine alte Geschichte. Wenn sogar in dir ein Wollüstling steckt, was ist dann mit Iwan, deinem leiblichen Bruder? Er ist doch auch ein Karamasow. Darin besteht ja eure ganze Karamasow-Frage: ihr seid Wollüstlinge, Habgierige und christliche Narren! Dein Bruder Iwan veröffentlicht vorläufig, aus irgendeiner ganz dummen, unbekannten Berechnung heraus, zum Spaß theologische Artikelchen, obwohl er Atheist ist, und gibt diese Gemeinheit selber zu – dieser dein Bruder Iwan. Außerdem sucht er seinem Bruder Mitja die Braut abspenstig zu machen, na, und dieses Ziel wird er wohl erreichen. Noch dazu mit Zustimmung Mitjenkas selber, denn Mitjenka selber tritt ihm seine Braut ab, nur um sie loszuwerden und möglichst bald zu Gruschenka übergehen zu können. Und das alles bei seiner vornehmen Gesinnung und Uneigennützigkeit, merk dir das! Gerade solche Leute sind die gefährlichsten!“ (Dostojewskij 1879/80, S. 112 f.)
Von den Karamasows wird der Bastard Smerdjakow nach dem Vorbild seiner geistesgestörten Mutter als Koch und Diener nahezu ausschließlich als tierisch-physiologisches Wesen behandelt. (Das hat für ihn den Vorteil, daß ihm niemand die intellektuelle Leistung zutraut, die angeblich für einen Mord erforderlich ist.) Der Haudegen Dmitrji beweist Willen, doch der Mangel an Denkfähigkeit bringt ihn rasch wieder von seinen Vorsätzen ab. Iwan, der Intellektuelle, reflektiert scharfzüngig über äußere Gegebenheiten – echte, verinnerlichte Werte sind ihm fremd. Aljoscha schließlich symbolisiert auf der vierten Ebene den Moralmenschen, dem umfassende Erfahrung noch fehlt. Auf diese Weise repräsentieren die Brüder Karamasow die conditio humana aus einer vertikalen Perspektive. Die Brüder verkörpern als äußerlich selbständige Figuren, was eigentlich innerhalb eines jeden Menschen als Wesenskomplex angesehen werden muß.
Noch ein Wort zum Einbruch der Verkaufszahlen anspruchsvoller Literatur. Auch Jens Ossada sucht den Anschluß an das geschriebene Wort, der Umsatz seiner Kataloge kann mit dem Umsatz der Bücher Canettis bald mithalten. Was fasziniert den Bildmenschen und Künstler an der Sperrigkeit und Widerspenstigkeit des Wortes? Die Mediengesellschaft betäubt sich mit bunten, schnell wechselnden Bildern. Hirnforscher haben herausgefunden, daß Kinder, die länger als zwei Stunden täglich am Computer spielen oder fernsehen, das vormittags Gelernte im Gedächtnis dauerhaft löschen. Nicht nur die Lesefähigkeit leidet darunter, sondern auch die Wahrnehmung und das Denken: Lesen ist Sehen. Dieser Satz zeigt seine Evidenz an den Arbeiten Ossadas. Der Künstler gewinnt seine Impulse aus der Literatur, der belletristischen wie der philosophischen. Die Grenzüberschreitung von einem Genre in das andere zeichnet sein Werk als wesenhaft menschliches aus: Es läßt sich bei bestem Willen nicht in vorgefertigte Schubladen einsperren.
Ossada zeigt, daß es möglich ist, über die vier Seiten des Wesens Mensch, die Dostojewski proklamiert, hinauszugehen. Wahrscheinlich wäre es auch möglich, mit Laozi neun Kategorien zu erfinden oder 81. Darauf kommt es letztlich nicht an. Wichtig ist vielmehr, die konkret-sinnliche Stimmigkeit der Arbeiten. Ihnen nur wegen ihrer moralischen Aussage einen Wert zuzuschreiben, wäre gefährlich. Ossadas Auseinandersetzung mit dem Wesen Mensch ist eine Einladung, sich selbst einen Reim auf die Höhen und Abgründe unseres Daseins zu bilden – und davon möchte ich Sie mit meinem Vortrag nun auch nicht länger abhalten.
Im „Verstanden-werden“ liegt höchstes Glück für mich Künstlerlein. Herzlichst-tiefsten Dank dafür.
Gestaltgewordene Denkmodelle. Zu den Würfelplastiken von Jens Ossada
Jens Ossada formuliert Antworten auf Fragen des Menschwerdens mit plastischen
Mitteln.
Wer wird, muss zunächst auch einmal sein. In etwas sein, um zu etwas
Künftigem zu werden. Mensch wird, um Mensch zu sein und Mensch ist,
um Mensch zu werden.
Ossada baut eine solide gedankliche Basis, auf deren Grundlage ein
Verständnis seiner Arbeiten möglich wird. „Ich bin ein Ordner!“, bekennt er
im Gespräch und entwickelt sein Ordnungssystem, was modellhaft für das
„Wesen Mensch“ steht.
Der Mensch, wie er uns als Gegenüber erscheint, so Ossada, ist Träger von
sieben Wesenszügen, die je nach individueller Ausprägung in
unterschiedlichem Verhältnis zueinander im Individuum vorkommen und
sich wechselseitig bedingen.
So begegnet uns das Wesen Mensch im ossadischen System als Schöpfer,
Phobiker, Suchender, Kategoriker, Egoist, Sozius und Hedonist.
Das System manifestiert Erkenntnis, die sich auf das Allgemeinmenschliche
richtet und vom Blickpunkt des „Allgemeinen Menschen“ als
Selbsterkenntnis auftritt. „Erkenne Dich selbst!“, so eine Säuleninschrift im
Apollontempel des griechischen Heiligtums Delphi. Die Forderung zur
Selbsterkenntnis (und das schließt eine schonungslose Selbstanalyse mit
ein) ist die Grundlage des Philosophierens und Wegbereiter für Wegbereiter
rationalen und reflektierten Denkens.
Wie alle Arbeiten zum Wesen Mensch, so tritt uns auch die erste Arbeit
„Wandel“ in der Würfelform entgegen. Als Schöpfer besitzt jeder Mensch a
priori die Fähigkeit, Dinge zu erschaffen, was meist ein Umwandeln
bedeutet, ein Verändern des Sinns, ein Verschieben der
Betrachtungsposition.
Das Geschaffene wird zu Besitz, die Angst vor dem Verlust des Besessenen
wird eine reale Größe, nicht immer grundlos. Auch die Angst, dass die
Konsequenzen des Geschaffenen sich als zerstörerisch offenbaren könnten.
Der Mensch erlebt sich dann als Phobiker, was die Arbeit „selfmade bomb“
verbildlicht.
Die Suche nach Gründen wird dann existenziell, um das Geschaffene in
einem Sinn sehen zu können. Bei dem Forschen nach dem Sinn wird oft
noch mehr gefunden. Das Werk „Dimensionalität der Wahrheit“ verweist darauf,
wie verwoben die Dinge sind und keins für sich allein betrachtet werden
kann. Als Suchender ist sich der Mensch immer bewusst, dass er nicht am
Ziel ist und sein Werk immer über ihn selbst hinauszielt.
Gut, wenn der forschungsreisende Mensch die entdeckten Länder benennen
kann. Als Kategoriker ordnet er sein Denkuniversum, er wird effizienter,
klarer. Die Ossada-Arbeit „kategorisch“ unterstreicht das.
Gefahr droht auch hier. Verselbstständigt sich ein System, spiegeln seine
Spiegel es nur noch selbst. Werden Kategorien wichtiger als Menschen, so
zeigen sich die Grenzen für den Egoisten. Wie in der griechischen Sage von
„Narzissus“, die Jens Ossada künstlerisch aufnimmt. Dabei ist Egoismus in
seiner positiven Bedeutung der Zusammenhalt des Ichs, die notwendige und
selbstbewusste Bewahrung vor dessen Zerfall.
Dieser Zerfall macht den Mensch zum Teil einer „Masse“. Die
gleichnamige Arbeit assimiliert ehemalige Ich’s zu breiigem Gleichschritt.
Das Konzept der Gruppe hat aber auch ein gesundes Maß und zwar ein sehr
erfolgreiches. Als Sozius, als Mensch mit und für Menschen kann der
Mensch sich überhaupt erst als Mensch erfahren. Gibt es nun ein
gemeinsames Ziel, was über die Einzelinteressen hinausgeht, ist eine große
Kraftquelle entdeckt.
Der letzte der sieben ossadischen Wesenszüge – der hedonistische – ist
zugleich der freudigste. Die Fähigkeit, sich zu freuen, macht dem Menschen
sein Hiersein sinnvoll und erträglich. Natürlich lauern überall
Verführungen, die darauf aus sind, die Fähigkeit zur Freude zu manipulieren
und Gier nach nicht immer nützlichen Dingen zu wecken. Deshalb ist der
letzte Ossada-Würfel als „Konsument“ bezeichnet.
An dieser Stelle würde sich der Kreislauf nun wiederholen, und der Mensch
sich aus dem Konsumrausch durch die Wiederentdeckung seiner
schöpferischen Fähigkeiten erneut dem Schöpfer annähern.
Ossadas Werke begegnen uns in einer oft opulenten und immer gekonnt
ausgeführten Materialität. Der Bildhauer Jens Ossada arbeitet häufig mit
Gips, Beton, Stahl und Holz. Benutzt er sorgfältig ausgewählte Fundstücke,
so werden sie meist abgegossen. Ossada hat von ihnen eine sehr große und
gut sortierte Sammlung.
Am Anfang steht bei ihm immer das Thema. Ziel der Arbeit ist ein
modellhaftes Umsetzen des Themas. Erst wenn die visuelle Idee feststeht,
beginnt ein kalkulierter Prozess, der die Materie der Vorstellung annähert.
Michael Goller / 28.4.2009
can i translate in Russian and post on my blog? )