Jede Sprache ein neues Gewächs. Esther hatte schöne Brüste. Nur verfielen sie jetzt allmählich, ihr mittleres Auge dem Boden zugeneigt. Wo, um des golden Gottes Willen, war ihre suprapositive Position hin. Eine Literaturdozentin stand Modell. Ihr Lebenskleid war verschlissen. Gab den Pass ab für seine nekrophile Linienkunst. Die er pflegte, striegelte, indem er das Kaninchenfell, das Fuchsfell Esther um den Hals legte, die spitzen Fellfinger pinselten die Haut und an den Schultern brannte die Luft aus seinem Mund, hingen die Ausdünstungen aus seinen Bronchien. Oh. Oh, Verzeihung. In der Tür steckte, ach, Esther piekte immer Nadeln mit bunten Köpfen in das morsche Holz, in der Tür, da steckte der Zettel. Wahrscheinlich glaubte sie es. Weil, es betraf ja nicht Esther, sondern, sondern – ach, sie hatte Besuch, ja, solch einen Besuch, ein tintenblaues Narkotikum, Sonntagnachmittags, ein Zeitraum wie auf einem Bild von Magritte. Weiße Pforten zu einem blauen Salon. Auf der Treppe war er schon halb eingeschlafen, nicht angekündigt. Wasserglucksen aus den Rohren im Hausflur, dunkles, abgenutztes und bestaubtes Geländer, die Stützpfosten gewundene Schneckenhäuser, aufgeribbelt, nach oben gezogen, dass sie aussahen wie eine Spirale. Kleidete Esther sich Handschuhe auf die Finger, jeden Finger hat sie einzeln bezogen wie ein Kissen. Rücksichtslos. Sie verzichtete heute aufs Geld.
unleserlich
Es gibt welche, die Können richtig schreiben, andere Können es nicht. Die Verlegenheit der Sätze, die Nun mit Ansehen mussten, wie sie da lag in ihrer Scham. Eine Reihe von Krügen zerbrochen, eine Erfahrung voll Leid dreigesprungen, eine geplatzte Trommel. Im Grunde war nichts. Das Moos feucht, die Möse faucht. Er hat sich in den Kopf gesetzt.
Bilden Sie einen Satz! Nun haben Sie einen gebildeten Satz.
Aber gewiss doch, sprachen die Wörter. Er soll alles Enthalten können. Einzelne Sonst, vorgestellte Nun, irgendetwas Wie eine Geträumte substanz etwas Das eine Geträumte identität, eine chiffre Für etwas Das zu dechiffrieren mehr mühe Macht als die geheimsten Oder die Nicht lockerlassen. Aber es gibt ja die Forschen und Dichter, die Nichts hinterlassen und es aufsuchen, und die Es immer wieder um den Verstand bringt. Das helle Ich auf mit meinem helden Mut. Aus Heit und Keit bildete er Heiterkeit. So stand er dazwischen. Das Gehörte zu den Dingen die ein jeder Machen durfte. Er würde ohne Punkt und Komma zu ihr Reden.
Ein welker Ruhm, eine traurige Geschichte, ein halbverhungerter Trompetenton, eine triste Weise, ein Kind, eine Maske, eine Person und eine Träne, ein weißes Gesicht, ein schwarzes Cape und eine Bewegung der Langsamkeit. Ein Aufrichtiger schrei, ein richtiger Aufschrei, trotz seiner Leisheit ein Schrei.
Wie konnte er das Nur aushalten. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er etwas Ereichen könne. Wenn er sich auch der Welt entzogen hat, weil er von ihr Aller inhalte beraubt Würde, so kann er sich nicht sich selbst entziehen.
Wenn ich das Zu einem einzelnen Sage, scheint es doch ziemlich klar zu Sein, welches Ich sich da rührt und was mit dem Satz gemeint ist, in dem Ich sich rührt. Aber wer einer ist, das Weiß kein Mensch. Was lag ihm schon daran. Es tat sich schwer. Es gab nichts Umsonst. Es gibt etwas Das ist etwas das Es gibt. Wie könnte es ihr Besser gehen. Eine Weile hatte es ihn am Kopf getroffen. Am Liebsten würde er sich verschwinden lassen und dem Kampf aus dem Weggehen.
Wer anders Ließe sich dies Gefallen als er. Der Nicht das Geringste mehr von ihr Wissen wollte. Er sollte vorher darüber nachdenken. Es würde nach zwei Seiten wirken. Nach der Einen schon würde es ihm besser gehen und nach der Anderen wäre er wie der Geheilt. So lange wollte er Ausharren. Es hätte wahrhaft sein Stolz sein Können. Ein Einsamer. Er samt sich ein.
Er wollte nicht von ihr Erzählen, was ginge das Auch irgendjemand anderen etwas An, niemanden außer ihr Und ihm. Er kam einfach nicht daran vorbei, etwas Verändern zu müssen. Alles war mit ihr Verrutscht. Er wies das verrückte Glied zu Recht. Und alle Worte sahen zu. Nichts War einfach und natürlich. Diese haarige suche Danach. Das Vergaß er ihr Nie. Wenn sie völlig daneben lag, gab sie es rasch zu. So ging alles Von selbst. Er trieb es auf die Spitze, nun saß es da oben und hielt sich fest.
Vom Anblick ihrer Hände geschlagen schlüpfte er mit Schwung in eine Andere schrift. Selbstredend verweigerte sich eine Idee jedem Beifall. Doch wenn sie sich Lob reden ließ, stand ein Scheunentor offen. Wie weit stand ein Scheunentor offen. Seinen Weg finden hieß seinen Weg finden. Die Verzweiflung in Worte gefasst ist die Verzweiflung in Worte gefasst. Alles Andere war alles Andere. Ich will dem Ins Auge sehen. Nun hatte er alles Beisammen.
Es hat nichts Geholfen.
Nun fing alles Wieder von vorne an. Nun hatte alles Angefangen. Nun war es wieder da. Alles Vordere wurde nach hinten verschoben. Und alles Spätere stand jetzt vor ihm da. Es bequemte sich kein Satz zu sterben. So machte er sich einen bequemen Satz. Jetzt hatte er einen bequemen Satz gemacht. Nun wollte er ein Datumschreiben. Jetzt würde er sich speichern.
Nun habe ich mich abgesetzt und will ein wenig nachdenken, dachte er. Er gab sich einen Stuhl. Nun saß er und dachte ein wenig nach.
Die Schwierigkeit, dachte er, ist, man sitzt so herum und denkt lange nach. Man ist mitten im schönsten Nachdenken und dann muss man aufschreiben und das Allerschönste nachdenken ist im Eimer.
Nun hatte er gesessen und würde wieder aufstehen. Das Aber tat nichts zur Sache.
Er tat immer so, als stünde ihm und ihr Noch immer eine Unzahl von Tagen bevor. Nun ging alles Wieder von vorne los. Alles Weitere würde vergebens auf die Lange bankgeschoben. In jedem Schlaf entsteht ein Neuer tag. Nun hatte er auch noch den Vor sich. Von nun an setzte er sich über alles Hinweg.
Nichts hat ihm die Sprache verschlagen, nichts das Wort abgeschnitten. Ihr war nur etwas Entfallen. Er hob das Gerne auf. Er würde sehen, was der Tag brachte. Nun hatte er sich ausgesorgt.
Seine Hand legte sich auf ihr Herz. Willst du mich kontrollieren. Wie nur konnte sie ihn an ein Bild verraten. Was konnte es ihr Schon bieten. Diese blinde Furie mit der furchtbaren Schere.
Mit einem Maler war sie weg mit einem Maler mit einem Mal. Es war ihr Vollkommen misslungen. Wie lange sie das Aushalten konnte. Er hat sie in ihrer vollkommenen Schönheit gesehen. Sie ist ihr Entglitten und in tausend Stücke zerschellt. Zerschollen liegen sie nun da. Doch alle Können repariert werden. Und es ist Wohl tuend, dass man wird alles Reparieren können. Da alles Zerschnitten ist.
In the Woods
Baron Morast, seine Frau und Pageboy gingen im Wald spazieren. Hinter einer Biegung, direkt neben der hohen Fichte und dem plätschernden Bächlein war gerade der rechte Platz für ein ausgedehntes – wofür? Für ein ausgedehntes… verflixt und zugenäht, schimpfte der Baron, der über eine Wurzel gestolpert war und feuchten Dreck auf seinen Lackschuhen entdeckte. Im Stechschritt waren er, seine Frau und Pageboy den Waldweg entlang marschiert, ausgestattet mit dem Begehren, die schöne Natur, in der es von Bäumen nur so dunkelte, zu genießen. Waren sie überhaupt vorangekommen oder schien es nur so, ratterte da unter ihnen womöglich ein Laufband und der Wald war nur die aufgeklebte Tapete in einem Fitnessstudio? Die Scheinheiligkeit des Realen lähmte ihre vormals so sicheren Schritte. Die Art, wie Frau von Morast marschierte, hatte etwas Puppenhaftes. Heini hatte sie möglicherweise vor fünf Minuten aufgezogen. Und mit Pageboy schien noch Ärgeres vor sich gegangen zu sein. Er vibrierte lediglich, ähnlich der Clownsfigur in Heinis Kinderbuch, wenn man es aufklappte und die Figur zum Vorschein kam.
nichts ist besser
nichts ist besser als alles
ich will nicht alles haben
ich kann nicht alles haben
alles macht mich alle
lieber ein bißchen nichts
als von allem etwas
nietzsches „nichts“ sticht
heideggers „nichtet“
vergewaltigung des nichts
im geiste denn aus nichts
kann alles erwachsen
aber alles kann nur
weniger werden
sagt das dichterschwein
sagt der schweinedichter
Sprachstudien (2)
Die Einheit der Gefühle ist eine.
Heiter durchdringt sie das grammatische Geschlecht.
Durchdringend ihre stumme Gewalt.
Gewaltig ihre Stummheit.
Heiter durchdringt sie ihr Gegenteil:
Teile alles.
Und sie h.
Dann bleibt nichts.
Es entsteht in ihr.
Er will nicht mehr.
Eins sagen, zwei denken, drei
Vielvielleicht oder schw erst es –
Nur kein Fühlfühlen bitte zum F.
duna
Donau : duna : du nah
da bist du mir nah : stilles
Wasser : aufgestaut : für regen
Schiffsverkehr : ich fahre
an dir entlang : du nimmst
mich in die Arme : daher
du nah : duna : Donau
Randnotiz
Randnotiz
Sie haben ihn
aus dem Fluss gezogen
wie einen fetten Fang.
Irgendwo am Delta des Wortes
ist mal wieder ein Dichter ersoffen
im Gefühl von gestern.
Die narbige Brust war geschwollen.
Als sie ihn öffneten,
sprang ihnen das Herz entgegen
wie ein unstillbarer Moloch. //
Sie opferten ihm eine Auflage
und entfernten das Gehirn.
poesie ist keine lebensform
poesie ist keine lebensform
poesie spielt mit wörtern
poesie ist kein glaube
poesie spielt mit wörtern
poesie ist keine ersatzdroge
poesie spielt mit wörtern
poesie ist kein broterwerb
poesie spielt mit wörtern
& ihrer bedeutung & mit poesie
ist politik zu machen
nurio quevadis‘ frau
meine frau ist graphikerin : sie hat käthe
noch kennengelernt : sie liebt
schwarz : die farben
der anden : ich
schreibe : sie liest : ihre ideen
stammen aus texten : die farben
aus dem unausprechlichen : sie greift
nach der kohle : ich ergreife
die feder : wir könnten
nicht gegensätzlicher sein : das
hält uns zusammen
jetzt
birken & schotter + tieffliegende vögel
kuckucksschrei & lebensgefahr + ansteigendes
wasser + birken & ein einsames
schiff voller passagiere & kein haus
zu sehen + nur birken & das blätterrascheln
im wind + schotter & kleine schluchten
wie lippen + wie deine hand greift
das gras aus den steinen & in der ferne
heulen motorräder + stille & birken
zwitschern + dunst & schleier
Mond-Sonett
Vollmondstrophe part eins
erste Nacht
Wolken ziehen über stadtheller Himmelsgracht
nachthell scheints
Vollmondstrophe part zwei
zweite Nacht
am Tresen hällt es wacht
verliert sich vor Vollmondstrophe part drei
Plastikrosen in Champagnerkühler
Schaumwein wird ausgeschenkt
Perlen in Licht eingeweicht
zu lang schon betroffener Schüler
in Rotweinrot versenkt
Neumondstrophe erreicht
Lateinstunde
Ich ängstige mich,
Ineinander.
Geknülltes Wattepapier,
Silberfolie um roten Flitter –
la folie.
Was Sie für selig halten:
In Rückblenden das
Höhlen der Bäuche
Nachmittags lügen Sushi
Neun Gedanken
Ladyfitnesses
führen zum ersten zurück.
Sich selbst umlaufend
schreibt
die Tellerwäscherin
bis dass es ans Ende wächst
Kluge unnütze Seiten:
Omne animal triste est.
geliebte : illusion
geliebte illusion : du läßt mich schlaflos
zurück : treibst mich gegen den wind
ans uferlose der kunstseen : führst mich
spazieren wie einen treulosen hund
durch die zwinger : läßt mich
warten mit den gedankenlos satten
am säumigen brunnenmund : es gibt keinen grund
für diese nächtliche bewegungslust : die
an der deutschen jammerlust nagt
wie eine wurzellose pflanze : du gibst
mir das leben zurück : den atem
den verpönten optimistischen schluß : meine
geliebte illusion : ohne dich
wär die tragödie eine tragödie : punkt
den Atem dicht
an einer Tulpe habe ich gelehnt : der Kelch
berührte meinen Glockenbauch : ich
Glockenmann : in dieser Nacht vom Turm
befreit : wir drehen uns : den Atem
dicht am Ohr : das gab es schon
das gabs noch nie : die Knie
versponnen ins Gespräch : du schiebst
du blühst : du Tulpenfrau : in dieser
letzten Nacht des März : ein Scherz
ein kleiner Druck & Gegendruck
sag : das soll Liebe sein : ja ja
nein nein : die Leute tuscheln & wir
lachen uns ins Fäustchen : wir kehrn
zurück : ein jeder in sein Häustchen
Sprachstudien
Heimliches ist zum Heimsen da
Verwicklungen zur Entwicklung
Klick!
(aus: Erbenheim im Land der Erben)
“ * ~ * „
schreite wacker dir selber voran
rege folge den regeln
???????
BEGINN
Es ist kein Traum
wenn wir
am Anfang
eines Weges stehn
Den Blick
schon halb
zurückgewandt
als wären wir
noch nicht geboren
Und könnten uns
noch ungezeugt
auf unser Nichts
in einem
unvorhandnem Raum
berufen
Denn auch bis dahin
sind wir nur
gelangt
mit der Erinnerung
an eine lange Nacht
in der noch
keine Sterne brannten
Und nichts
in diesem Dunkel
sich erkannte
weil es sich nicht
unterschied
Bewegungslos
und doch ein Schein
Unmöglichkeit
wie ein Reflex
des Unvorhandenseins
Der zitternd sich gebiert
zu einem einmal Eins
das niemals aufgeht
wie die Sonne
überm Firmament
Der Stufe
die schon eine Treppe ist
hinauf hinab
man kann es
jetzt schon sehn
Es ist ein Traum
wenn wir
den Anfang
eines Wegs erkennen
Es ist ein Traum
wenn wir beginnen
ihn zu gehn
Stadt mit Herzkammer
Von der Mitte der neuen Brücke hat er die rechte Distanz. Mit einem Blick erfasst er die ganze Stadt. Und was er mit einem Blick erfasst, zeigen schon die alten Stiche: die Altstadt, den Fluss und über ihn gespannt die Alte Brücke. Sie sind, wie sie immer schon waren. Nur das Schloss scheint im Laufe der Jahre etwas tiefer herabgesunken, als wolle es die Stadt in den Fluss schieben. Vielleicht hatte die Stadt früher einmal oben auf dem Berg gelegen. Vielleicht ist sie aber auch aus dem Wasser gekrochen und drängt nun wieder zurück in ihr Element. Anscheinend ist sie sich immer gleichgeblieben. Nur in der Erinnerung ist alles ein wenig höher. Hinter der Alten Brücke hat der Berg seinen Fuß weit vorgesetzt. Natürlich lässt sich der Fluss nicht ungestraft in den Leib treten. Jedes Jahr setzt er die Stadt unter Wasser.
Der Fluss beherrscht die Szene, mehr noch als das tief hängende Schloss. Ein großes Staubecken scheint der Fluss. Lange Platanen- und Kastanienreihen säumen die Ufer. Die beiden Uferstraßen teilen sich die Hausnummern. Diesseits die geraden, jenseits die ungeraden Zahlen. Der Fluss dazwischen, als Wasserstraße ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln.
Die wenig dramatischen Berge beeindrucken keine starke Menschenseele. Die Natur ist hier weder erhebend noch beängstigend. Nicht zu viel Natur, nicht zu viel Stadt, von beidem gerade genug. An diesem Morgen hat sich, von der Morgensonne magisch beleuchtet, zwischen den Bergen eine Nebelwand aufgetürmt.
Links ist ein schmaler Streifen Uferwiese. Hunde werden ausgeführt. Ein paar toben herum, beschnuppern und bespringen einander. Dann laufen sie zu Herrchen und Frauchen zurück. Die werfen etwas und die Hunde scheinen sich zu freuen, dass sie beschäftigt sind. Einer jagt die verschlafenen Schwäne und Enten, die ins Wasser flüchten. Eigentlich müsste ihr Bellen zu hören sein. Doch kein Tierlaut dringt zu ihm herauf auf die Brücke. Ein lebhaftes, aber völlig stummes Schauspiel. Als wäre er taub und würde ein Konzert aufgrund der Mimik und der Gestik der Sänger und Musiker genießen. Eine Kehrmaschine fährt Zickzack über das Gras und fegt die Reste einer lauen Sommernacht zusammen.
Der lange Wiesenstreifen den Fluss entlang ist nach den heißen Sommertagen vergilbt. Es hat lange nicht geregnet. Bis auf den warmen Niederschlag vor wenigen Tagen. Es war ein so wunderbarer Regen, dass selbst die Würmer neugierig wurden und aus dem Boden krochen, wie sonst nur die Touristen zum Feuerwerk kommen an warmen Sommerabenden.
Im Herbst laufen hier die Kinder und lassen ihre Drachen steigen. Unter Jungen artet das wie jedes Spiel zu einem Wettstreit aus. Welcher steigt am höchsten? Vom Wickelholz läuft die Schnur Meter für Meter aus der Hand in die Höhe. Kaum mehr ist der bunte Papiervogel im blauen Himmel zu erkennen. Noch immer rollt die Schnur, hält den steigenden Drachen. Der stolze Junge muss befürchten, dass die Schnur nicht reicht. Da zieht mit einem Mal der Drachen nicht mehr. Er steht am Himmel und schaukelt gemütlich hin und her. Das leichte Gewicht des dünnen Fadens, mit dem der Junge seinen Flieger führt, ist zu schwer geworden.
Aus der Nebelwand lösen sich einzelne Schwaden und schweben über dem Fluss. Sie folgen zögerlich dem Lufthauch, den die Strömung des Wassers auslöst. Sie dekorieren Berg und Gebäude. Indem sie sie verbergen, werden sie erst interessant im magischen Licht der aufgehenden Sonne, das den von Osten kommenden, dampfenden Fluss von innen heraus beleuchtet.
Zwischen den beiden Brücken, zur neuen Brücke hin, weitet sich das enge Tal ein wenig. Die Stadt quillt zwischen den beiden Bergen heraus. Auf diese, sich nach hinten verjüngende Fläche passt nicht allzu viel. Grund und Boden sind kostbar. Die Berge ein klein wenig auseinander geschoben, würde vielleicht helfen. Alles, was zu Füßen der Berge keinen Platz mehr gefunden hat, kann sich nur vor der Stadt in der Ebene breit machen. Alle überschüssige Kraft, alles, was sie nicht in sich behalten kann, schüttet sie aus übers flache Land. Als wolle sie sich, wie ein Fluss ins Meer, in die Welt ergießen. Eine Mauer würde helfen. Dass sie alles in sich behielte und ihre Kräfte staute. Sie würde in sich selbst ertrinken.
Dieser Trichter einer Mündung ist genau der rechte Ort für diese alte, merkwürdige Stadt. Man nennt ihren Namen und meint doch nur diesen Teil. Das widerfährt selbst ihrer großen Schwester. Man sagt New York und meint Manhattan. Gleichbleibend jung ist sie in die Jahre gekommen. Man weiß nicht so recht, wie. Ist sie nun jung oder alt? Die Zeit kann ihr nichts anhaben. Sie durchläuft immer wieder aufs Neue die Phase der jungen Menschen, die sie herlockt, Jahr für Jahr, Jahrhunderte lang. Dass sie von ihr lernen. In Wahrheit taugt diese Stadt am Fluss überhaupt nicht zum Lernen. Still sitzen, während draußen das Wasser in einem fort weiter strömt! Den Jungen raubt sie die Jugend, während sie bei ihr lernen und altern. So hält es sich jung. Das alte Mädchen.
Durch den leichten Nebel kommt ein frühes Schiff. Als es aus seinem Blickfeld verschwindet und unter seinen Füßen in die Brücke einfährt, erwartet er unwillkürlich einen heftigen Stoß.
Überall in der Welt hat dieses romantische Städtchen ihre Vertreter. Es sind die Menschen ohne Herz. Auch wenn es unglaublich erscheint. Geht doch alle Welt davon aus, dass den Besuchern dieses idyllischen Ortes eher noch ein zweites, drittes, viertes und mehr Herzen geschenkt würden. Zumindest, dass ihre Brust schwillt, und sie sich auf tut, und die großen Empfindungen der Liebe einziehen können in ein erweitertes Herz.
Dem ist nicht so! Es ist nicht wie bei Liebenden und Verliebten, die zueinander sprechen: ich schenke dir mein Herz, oder: dein ist mein ganzes Herz.
Nein, es findet kein partnerschaftlicher Austausch der Organe statt. Dass nachher jeder wieder ein Herz besäße. Sonst wäre dieser Ort nur die Krankenstation ungezählter Transplantationen. Es gibt aber keine Revanche Auge um Auge, Herz gegen Herz. Nein, sie geben ihr eigenes ganz und gar selbstlos aus der Brust. Und erhalten keinen Ersatz dafür. Der Gipfel aber ist, dass diese Herzlosen sich für die eigentlich Herzlichen und wahren Herzbegabten halten.
Es existiert ein alter Text, der die Geschichte dieser leidigen Herzverliererei erzählt. Es fängt ganz harmlos an. An einem Sommerabend küsst ein Achtzehnjähriger rote Lippen und goldenes Haar. Nach diesen doppelten Orts- und Zeitangaben werden das Geschehen und der Ort des Geschehens in einem Atemzug genannt: ich hab mein Herz in … verloren. Was weiter noch geschieht mit dem verlorenen Herz, darüber wird nichts gesagt als: mein Herz das liegt am … Strand. Doch dieser Strand ist reine Übertreibung. Er ist nichts weiter als dieser schmale Wiesenstreifen am Flussufer. Das ist das ganze Geschehen. Während lauer Sommernächte geht ab und zu ein Herz verloren. Unbemerkt, wie eine Sternschnuppe leise am Nachthimmel fällt. Die Herzen liegen dann wohl einfach so herum und werden keiner weiteren Verwendung zugeführt.
Dieser Tort, den die Stadt den Herzlosen, oder diese sich selbst antun, treibt die Entherzten nicht zur Verzweiflung, vielmehr bedeutet ihnen die Hergabe ihrer Herzen ein großes und höchstes Glück. Schon allein die Möglichkeit, hier sein Herz verlieren zu können, lässt dasselbe höher schlagen. Dabei nehmen sie sich einiges heraus und schrauben Gedenk-, Dank- und Votiv-Tafeln an die Mauern, sie ritzen Zeichen in Bänke und Bäume, um ihre Herzensangelegenheit öffentlich und dauerhaft zu machen. Sie wollen es jedem singen: „Ich hab mein Herz verloren!“, ob er es hören will oder nicht. Ein wenig lästig können sie damit werden, doch wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über. Obwohl sie im Grunde harmlos sind, fragt sich der gesunde Menschenverstand, ob sie noch ganz bei Trost sind.
Doch was sollten diese Unverständigen gescholten und dazu angehalten werden, wieder zur Vernunft zu kommen, ausgerechnet von denen, die noch im Vollbesitz ihrer Herzen sind. Denn die Herzhaften sind die wahrhaft Unglücklichen, weil sie noch ihr Herz und noch nicht geliebt haben.
Wie auch immer! Mit Herz oder ohne. Grundsätzlich kann ja nichts wirklich verloren gehen. So sagt es der Satz von der Erhaltung der Energie. Und diese Herzlosen jammern ja nicht nur nicht, sie jubilieren sogar.
So bliebe zuletzt noch zu fragen, ob sie, die Jubilierer, ihre Herzen nur in der oder gar an die Stadt selbst verloren haben. Vielleicht wird dies alles seitens der Stadt sogar plan- und generalstabsmäßig, gewissermaßen attentatsmäßig und in großem Stil geplant und durchgeführt. In diesem Falle wäre zu fragen, ob die Stadt außer dem Ort der Handlung, sogar selbsttätige Ursache, nicht nur der Grund und Boden, sondern darüber hinaus die Bedingung der Möglichkeit eines solchen organraubenden Vorgangs überhaupt sei?
Ägypten hat seine Pyramiden, Dresden sein Grünes Gewölbe. Diese Stadt muss eine Herzkammer haben, einen tesoro cordiale. Sie liest alle in einer milden Sommernacht verloren gegangenen Herzen auf und trägt sie in ihre Herzenkammer.
Zu guter Letzt sind die Herzlosen in alle Welt verstreut. Man findet die spietati in Nord und Süd, Ost wie West, nah und fern. Andern Orts, wo sie ihr wirkliches Leben leben, führen sie sich dann seltsam normal auf. Denn es ist anstrengend und lästig, jeden Tag verliebt zu sein. Von dieser Last befreit sie dieses Städtchen, indem sie sich ihrer Herzen annimmt. Sie lässt die Jungen die Liebe lernen. Und wenn sie aus geliebt, schickt sie sie weiter auf ihrem Lebensweg. Denn das Stadt-Städtchen will keinen für immer bei sich haben. Aber es verlangt seinen Blutzoll. So schlägt ihr Puls seit Jahrhunderten. Die Stadt ist ein wahres Ungeheuer. Das gehört ersäuft, bevor die jungen Menschen in ihrem Jubel ertrinken, wie junge Frösche ersaufen, wenn sie nicht wissen, dass sie keine Kaulquappen mehr sind.
Einsicht, kurz
Tür auf
Vom eignen Horizont die Tür auftreten – und sehn : es war ein Irrtum anzunehmen die Tabus würden rar. Die äußeren vielleicht, das wohl. Doch da sind innere, die wachsen wie Lianen und schnüren die Gedanken zu spindeldürren Würsten, die sittsam aufgereiht im Schaufenster der Krämer liegen.
Tür zu
MELANCHOLIE
Das Geheimnis
so sagt das Wort
ist erfüllte
eingetroffene Wahrheit
auf dem Heimweg
Das Geheimnis
bezeichnet den Ort
aus der Ferne
das Ziel
die Antwort
Kehrt sie zurück
mit Lichtgeschwindigkeit
durch gewölbte
schillernde Linsen
in das Okular
Durch das endlos
gekrümmte Rohr
in das Gehör
der in die Stille
starrenden Sehnsucht
Das Geheimnis
sagt man doch
muss auf diesem Wege
entrissen werden
der Dunkelheit
Das Geheimnis
so scheint es
in der Frage
zu liegen
kommt nicht ans Licht
Es lodert fern
in angstvollen
gierigen
und tödlichen
Augen
Staub : neu
Draht : Eisen : Motorengeräusch
hier bin ich & bleibe
ein Steinchen : das gemahlen wird
zu Staub : neu zusammengemischt
aus Erde & Wasser : ich sehe
den Himmel wie einen Fetzen Stoff
der im Wind flattert : am Morgen
gibt es kein Heute : die Zeit
verdichtet sich zu einem Zwerg
der ums Feuer tanzt & schreit : ach wie
gut : daß niemand scheißt : ich
hole dich : ich hole dich : du
abgezehrter Königssohn
abgöttisch
Ab-&-Göttisch
Wenn es Dich nicht gäbe,
müßte ich Gott bestrafen
wegen Unterlassung,
wenn es ihn gäbe.
Solopartie
Dunkles Glas.
Türklinken, des Lichts…,
die Mauer.
Café, Schnee…
Doch das andere
überwiegt.
Todesangst und Langeweile,
eine Kur wird
exerziert.
Rede ist Lebensform,
saeculum obscurum. Im
Schnarchen, Papierrascheln,
Spucken. Im
Trigeminus,
Medusenscheuer
Gänsekiel.
inskriptionen. die zweite
die zweite runde nähert sich der runde – noch 15 tage, bis sie sich schließt … und im april schütteln wir das sieb für die gedruckte ausgabe.
bis später
im sommer
hat mir die sonne
die haut getönt, die hat
meine seele gewärmt
im sommer
hat mir die sonne
die haut getönt, die hat
mir die haut
im sommer
verbrannt, die augen
verblitzt, ich glaub
es wird jetzt zeit
im sommer schon
mach ich mich
auf den weg, bevor
ich blind werde
such ich mir
andre freunde
lass den herbst
durch alle zeiten
fallen und im winter
nicht an den frühling
denken und im frühling
auf den sommer warten
denn im sommer
treff ich sie wieder
die alte haut, eine
neue freundschaft ?
Gras [2, 12]
Das Zimmer liegt nun ganz im Gras. Darinnen ein Brief; am Abhang hinterm Stadion nicht weit entfernt davon versammeln sich noch immer jugendliche Musiker. Die Kachelöfen der Stadt sind fast alle wieder in ihre Kacheln zerlegt, aber die Materie besteht nach wie vor aus Atomen. Von Zeit zu Zeit steigt Rauch auf.
Die Tage entfalten sich wie Halme, die zum Himmel streben. Von Zeit zu Zeit wird einer hinzugefügt. Müssen welche ausfallen, dann sieht sich der Mond genötigt, sein Auge zuzudrücken. Unter der Stadt fließt es und strömt. Das alltägliche Leben entwickelt sich und sucht immer neu nach wilder Wärme für sein Glück. Brownsche Bewegung; manchmal wird ein Gedanke sichtbar.
Dann knistert es leise in diesem Zimmer. Dann beginnen einige der benachbarten Schließzylinder unmerklich zu vibrieren, in anderen erwacht die unerklärliche Sehnsucht, einmal zu Kegeln zu werden. Das Zimmer liegt natürlich noch im gleichen Haus, aber das Haus ist ein anderes geworden. Einige der Bewohner sind weggezogen und haben ihren Platz für Neuankömmlinge frei gemacht, andere wohnen noch immer darin. Sogar Kinder. Nur das Zimmer mit dem Brief…
Liebe ist
wie ein Ritterschlag; empfängst
du ihn zweimal, dann
gehörst du zwei Reichen an.
Aus dem Nachlass: Situationen
Mittwoch, 12.06.91
1. Ein Mann und eine Frau versuchen, zusammen zu leben.
2. Ein Student läßt von seinem Studium und wendet sich der Familie zu.
3. Ein exakter Wissenschaftler löst sich von seinem Fach und wendet sich dem Gegenstand der menschlichen Seele zu.
4. Ein glücklich aufgewachsener Sohn befreit sich aus den Armen seiner liebenden Mutter, um sich der Welt zu öffnen.
5. Ein den Extremen verhafteter Junge wird in seinem Kampf mit der Sexualität von der Liebe überfallen, ausgeraubt und beginnt allmählich, erwachsen zu werden.
6. Ein sich der Macht seiner Subjektivität bewußt werdender Mann erkennt den Zerstörungsdrang seines Ego und kämpft um Weichheit.
7. Eine Frau schaut die Natur *** und realisiert Macht ohne Herrschaft.
8. Ein der Kunst verpflichteter Mensch sucht nach Menschlichkeit und kommt nicht umhin, sich von den Fesseln falscher Form zu lösen.
*** x O y – es
(hrsg. v. K.v.Jop)



