Demokratie

Seit meiner Jugend habe ich mich an Älteren orientiert, ich meine nicht oder nur selten an Lehrern, sondern an Philosophen, Künstlern, Handlungsreisenden, Lektoren, Schriftstellern und Übersetzern. Warum eigentlich? Weil ich selbst älter werde mit jedem Tag, wie jeder und jede um mich herum. Wir sammeln Er­fahrungen und Erkenntnisse, die geachtet werden wollen.

Demokratie ist die Volksherrschaft. Im Unterschied zur Autokratie, der Herrschaft des Einzelnen, gesteigert in der Despotie, der Gewaltherrschaft Einzelner. Im Unterschied zur Oligarchie, der Herrschaft der Mächtigen. Im Unterschied zur Meritokratie, der Herrschaft der Fähigen und Ehrwürdigen.

Demokratie ist die beste aller Gesellschaftsformen. Das heißt nicht, daß sie gut ist. Nur sind die anderen Verfassungen noch schlimmer. Um die Demokratie zu erhalten, muß man ihre Schwächen kennen und die Gefahren, die von ihr ausgehen.

Die Demokratie ist die am meisten idealisierte Herrschaftsform, sie wirkt am menschlichsten, gerechtesten und friedlichsten. „Alles für das Wohl des Volkes.“ Damit ist die Spitze der hohlen Phrasen erreicht.

Die Demokratie ist zugleich eine schwierig umsetzbare und instabile Herrschaftsform. Sie kennt Regeln und Spielregeln und damit den Verrat, die Korruption und Bestechlichkeit.

Eine Herrschaft des Volkes, wenn es sie gäbe, wäre eine Herrschaft der Massen, nicht nur der Mehrheit (die Minderheiten unterdrückt), sondern des Pöbels, des Gemeinsinns im Sinne des Gemeinseins gegenüber Anderen, Andersdenkenden, der Ausgrenzung – während sich die Demokratie Integration und Inklusion auf die Fahne schreibt.

Herrschaft wird praktischerweise immer von einer Minderheit ausgeübt. Die Demokratie ist daher eine Gesellschaft der Gremien, des beschränkten Zugangs, der Nadelöhre und Filter. Wer bestimmt, wer oben ist? Sind es die „freien Wahlen“ oder ist es das freie Spiel der Kräfte, der ökonomisch und politisch Mächtigen, die den Zugang zur Macht in Demokratien beherrschen?

In Athen waren es die Bürger, die beim Scherbengericht durch Akklamation die Entscheidungen für die Polis trafen. Doch es waren nicht alle Bürger. Sklaven, d.h. in der Regel Kriegsgefangene, und Frauen waren ausgeschlossen. Die griechische Demokratie, die uns als leuchtendes Beispiel vor Augen steht, war die diskriminierende Herrschaft der Männer, die Sklaven besitzen durften, eine Kungelrunde der Schönen, Überheblichen, Glücklichen und Neider. Sokrates fiel ihr zum Opfer, indem er es ablehnte zu fliehen, bevor ihm der Schierlingsbecher gereicht wurde. Die griechische „Demokratie“ war auf Vorteil und Intrige gebaut, sie unterstützte das Mittelmaß, verachtete Geist und Widerspruch. Heißt es, wenn Streit der Vater aller Dinge sei (Heraklit), er also auch das Kern­stück der Demokratie ist?

Demokratie bedeutet fortwährendes Buhlen um die Macht. In einer freien Wahl haben zwar alle Wahlberechtigten formal den gleichen Stimmumfang, d.h. sie können auf dem Wahlzettel die gleiche Anzahl Kreuzchen setzen. Doch entscheidend ist, wessen Name auf dem Wahlzettel steht und wer hinter diesen Namen steht. Hier hören Freiheit und Gleichheit auf.

Wirklich fair wäre eine Wahl, wenn sie einen Mechanismus enthielte, der ökonomisch und politisch Mächtigen umgekehrt proportional zum Ausmaß ihrer Macht Stimmengewicht wegnimmt.

Demokratie, wie wir sie kennen, verleiht den Mächtigen am Ende noch mehr Macht und stärkt die Akkumulation der Macht. Demokratie, wie wir sie kennen, verwandelt sich stillschweigend, schleichend, schlafwandlerisch, in eine Oligarchie, die sich in demokratische Spielregeln hüllt, als wären sie bunte Kleider und Mäntelchen, Kostüme auf der politischen Bühne. Auf der Bühne werden Scheinkämpfe ausgetragen, es fließt Theaterblut, es werden Scheintode gestorben. Und nach der Aufführung treffen sich die Spieler in der Kantine beim Prosecco.

Hinter den Kulissen drehen verschwitzte Arbeiter mächtige Räder – um die Kulissen zu schieben. Das Volk im Publikum sieht sie nicht, es applaudiert den Helden im Scheinwerferlicht. In den Büros nebenan werden die Karten gemischt, Verträge gebrochen und heiße Kriege erklärt. Das demokratische Ringen kennt nur vorübergehende Sieger. Jeder vermeintliche Held gebiert seine Widersacher.

Nun haben wir in der Demokratie nicht nur die Wahlen. Wir haben auch die Institutionen, die bremsende Bürokratie, die Gewaltenteilung. Wenn sich in checks and balances nach amerikanischem Vorbild zwei gleichstarke Mächte die Waage halten, droht die Eskalation. Demokratie richtet sich im labilen Gleichgewicht ein, um von der Ewigkeit zu träumen. In Wirklichkeit regiert das Militär, die Militär­industrie und alle mit ihr verflochtenen Branchen (IT, Pharma, Banken etc.): Krieg ernährt den Krieg.

Basisdemokratie, wenn es sie überhaupt gibt, sehen wir am ehesten bei den Eidgenossen in den hohen Bergen. Sie haben sich 1291 den Eid geschworen und eine Stimme verliehen, die sie gebrauchen, bei allen möglichen Fragen. Seit 500 Jahren, seit den Burgunder- und Schwabenkriegen leben sie in Frieden, erklärten im Dreißigjährigen Krieg ihre „immerwährende bewaffnete Neutralität“ und scherten nach dem Westfälischem Friedensschluß aus dem „Heiligen römischen Reich deutscher Nation“ aus, was ihnen den Fortbestand des Friedens sicherte. Und doch ist ihre Volksherrschaft wie bei den Athenern auf Ausbeutung und Diskriminierung gegründet: Indem sie die Talbewohner auf allen Kontinenten ringsum als Untertanen in ihr Netz verstrickt haben, indem sie das Gold des Planeten in ihren Tresoren bunkern, indem sie flüchtende Juden an ihren Grenzen abwiesen, Nazigold aber passieren ließen. 

Demokratie muß sich fortwährend verkleinern, indem sie Vertreter der Volksmasse auswählt, Kompromisse eingeht, die sich als faul erweisen, von Partikularinteressen zerrieben und zerrissen wird. Wenn wir heute von Demokratie reden, meinen wir jenes repräsentative Marionettentheater, hinter dessen Kulissen nach Möglichkeit unsichtbare Akteure die Strippen ziehen. Der Verdacht der Ver­schwörung ist der repräsentativen Demokratie immanent. Dazu gehört die Unterstellung, Kritik an der demokratischen Fassade sei undemokratisch. Verschwörungstheoretiker werden von Ver­schwörungs­praktikern bekämpft. Denn sie verdanken ihre repräsentative Reputation allein der Illusion demokratischer Teilhabe, wo tatsächlich der reine Machtwille nach Hegemonie strebt und seine Durchsetzung sucht.

Theodor Holz
geb. in Dresden im Herbst 1989, hab die Wendewirren mit der Muttermilch aufgesogen, Pflastersteine wurden aus dem Bahnhofsvorplatz gerissen und flogen knapp an meinem Kinderwagen vorbei, meine Mutter konnte ihren Beruf als Jungpionierleiterin auf dem Albrechtsberg nicht mehr ausüben, sie nahm an einer Umschulung zur Altenpflegerin teil, während ich brav die Kreuzschule besuchte.

Ein Kommentar

  1. „der reine Machtwille“ – ?!

    vgl.

    „Noch ist die K o n k u p i s z e n z (das Gelüsten) von dem Begehren selbst, als Anreiz der Bestimmung desselben, zu unterscheiden. Sie ist jederzeit eine sinnliche, aber noch zu keinem Akt des Begehrungsvermögens gediehene Gemütsbestimmung.
    (…)
    Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird, heißt der W i l l e. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber für sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.
    (…)
    Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar a f f i z i e r t, aber nicht b e s t i m m t wird, und ist also für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein; kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden.

    Metaphysik der Sitten, Einleitung, I.

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