Das Aquarell

Das kleine Aquarell über meinem Schreibtisch ist von ihm, von Lucien. Ich kenne Lucien nicht, nur sein Bild. Und dass der Maler Lucien heißt, weiß ich nur, weil er seinen Namen in die linke untere Ecke des Aquarells gesetzt hat: Lucien, Paris, 1978.

Ein Haus ist dargestellt, ein sehr altes Pariser Haus, ein Häuschen auf Hühnerbeinen. Würde das Nebenhaus es nicht stützen, bräche es unter der Last der Jahre zusammen. Wie alt mochte es sein? Zweihundert Jahre, dreihundert? Mir wäre es angenehm, wenn es noch aus der Zeit Heinrichs des Vierten stammte. Doch das ist nicht wahrscheinlich, eine schöne Illusion.

Das Häuschen hat vier Etagen. Im Erdgeschoss befindet sich ein Laden, die Auslagen sind nicht erkennbar, es gibt kein Ladenschild. Vielleicht haben hinter den Scheiben einmal Weißnäherinnen gesessen und für ein paar Sous am Tage genäht, für die Pariser Emporkömmlinge unter Napoleon III., für seine Eugenie, die Schöne, die Eitle. Das wäre eher wahrscheinlich. In der zweiten Etage Gardinen hinter den Scheiben, Pilaster umarmen die drei Fenster, zwei nackte Frauenkörper mit angestrengten Gesichtern. Die dritte Etage hat nur zwei Fenster, breiter als die darunterliegenden. Es gibt nichts weiter zu sagen über sie, anonym blicken sie auf die Straße. Die Mansarde besitzt wieder drei Fenster, es sind nur Fensterchen, im Winter wird es kalt sein in den Räumen hinter ihnen, auch wenn der Pariser Winter weniger kalt ist als der deutsche.

Man sieht ein Stück Trottoir. Niemand geht darauf. Es besteht aus quadratischem hellem Gestein. Es ist ausgetreten von Tausenden Pariser Füßen, von langen Pariser Jahren.

Luciens Aquarell war ein Gastgeschenk. Er hatte es Arbeitern unseres Betriebs geschickt. Den Begleitbrief kenne ich nicht, nichts weiß ich darüber.

Aber ich weiß, dass es sterben sollte, Luciens Aquarell. Damals, im Oktober 90. Wir räumten unsere Schreibtische aus. Alles, was in dem neuen Deutschland nicht mehr gebraucht wurde, lag mitten auf dem breiten Gang, zu einem Abfallhaufen aufgetürmt, Müll, bestimmt für den Container. DDR-Schrott. Ich bückte mich, sah, dass es ein gekonnt gemaltes Aquarell war, und nahm es mit.

Es hängt über meinem Schreibtisch, seit jenem Jahr 90. Luciens Aquarell spricht. Es spricht zu mir von den Streiks in Frankreichs, vom Non zur EU-Verfassung, von den Studentendemonstrationen. Und es flüstert: von längst vergangenen Zeiten, von den Pariser Weißnäherinnen, den Bonvivants, die mit den jungen Frauen hinter den Scheiben kokettierten, vom sagenhaften Pariser Frühling.

Luciens Bild spricht. Sehr leise, aber vernehmbar.

Antigone
Weder gewesene Pionierleiterin, Mitglied des Politbüros oder gar Geliebte des Staatsratsvorsitzenden (wie hier vermutet), sondern schlichte DDR-Bürgerin, nunmehr für 18 Milliarden DM zusammen mit 17 Millionen DDR-Bürgern zwangsweise verkaufte Bürgerin des Staates BRD. Hanna Fleiss: geb. 1941, wohnhaft in Berlin, Veröffentlichungen: zwei Gedichtbände "Nachts singt die Amsel nicht" und "Zwischen Frühstück und Melancholie" sowie in zahlreichen Anthologien und im Internet.

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