10. Mai 1982
(für helmut)
Das ist die große Stadt
die weite
die immer alles kann
und alles hat
die Sehnsucht
und den Hass
von all den anderen
die das nicht haben.
Aber das müsse so sein
sagt man.
Da an der Schaltstelle
ein Schaufenster
zum Wundern
und Staunen
und Ärgern
und Kopfschütteln.
Und zum Weinen
und Weglaufen.
Schnell
weit weg.
Wohin?
Kein Land, nirgends.
Erörterungen:
Das Gedicht ist einem guten Freund gewidmet. Er kam aus einer kleinen Stadt am Rande des Erzgebirges und wurde von dort für lange Zeit auf Montage nach Berlin abkommandiert. Er verdiente dort üblicherweise gutes Geld und noch viel mehr an den kleinen Gefälligkeiten. Jedem brachte er was mit. Tauschware. Wie nach dem Krieg, sagte seine Mutter. Eines konnte er nicht tauschen: Seine Frau. Die trank das, was er ihr mitbrachte. Daran ist schließlich seine Ehe zerbrochen und dann er selbst. Er machte rüber. Vier Wochen war er in West-Berlin. Dann starb er im Mai an einer Überdosis. Zu seiner Beerdigung durfte seine Mutter nicht ausreisen. Es war ihr einziger Sohn. So saßen wir allein mit wenigen Freunden in ihrer Stube beisammen, und ich trug das Gedicht vor. Seine Frau nahm sich wenig später das Leben.
Ich lege das Gedicht daher in die Kategorie „Trauersymmetrie“.
Nach so langer Zeit ist Ihre Trauer, Ihre Wut und Ihre Verletzbarkeit immer noch zu spüren, vor allem für mich als Betroffene. Mich hat Berlin auch angekotzt. Aber wenn es mal dorthin zum Schulausflug ging, dann war die Bestellliste der Nachbarn lang und Berlin wieder ganz toll. Dort aber in der großen, kalten Stadt mit ihren teilweise arroganten Einwohnern kochte die Wut hoch angesichts des (heute milde belächelten) Überflusses. Die hatten sogar weiches Klopapier! Manchmal sogar bedruckt… und Kakao in dreieckigen Tüten. Und Tampons! Welch ein Luxus!!!
Nun zur Textform: Mir gefällt das Minimalistische. Haben Sie sich in Lyrik und Prosa weiterentwickelt oder mit dem Schreiben nach der Wende aufgehört?
Guten Abend, Kreon.
Das Schicksal Ihres Freundes und seiner Familie tut mir sehr leid. Es ist auch toll, für einen Freund etwas zu schreiben. Aber Ihrem Gedicht kann ich als Außenstehender leider nichts abgewinnen, weil es auf ein diffuses Stimmungsbild beschränkt bleibt. Mit einem Gedicht muss alles „gesagt“ sein, da darf kein Bedarf mehr für „Erörterungen“ des Autors, sondern muss Raum für eigene Gedanken seiner LeserInnen bleiben. Dem Leser wird in dem Gedicht aber kaum etwas mitgeteilt. Es beschränkt sich auf die unklare Beschreibung eines Nichtangekommenseins. Über dem Gegensatz Stadt-Land werden zunächst einige fragwürdige Allgemeinplätze in Schwarzweiß mitgeteilt (hatten „alle anderen“ wirklich „Hass“ auf Berlin?). Dann fragt man sich, was den Anblick eines Schaufensters vom Wundern und Staunen hier in Weinen verwandelt haben könnte. Am Ende erfährt man, dass das lyrische Ich offenbar die Sehnsucht nach dem Land umtreibt. Was soll ich als Leser damit nun aber anfangen, wenn die „Figur“ des Gedichts, ihre inneren Konflikte, ihre Motive und Gründe in keiner Weise greifbar werden? Wenn das Gedicht keinerlei Hintergründe enthält und es deshalb auch einer nachträglichen „Erörterung“ bedarf?
Das ist natürlich nur meine Meinung. Für Sie und alle, die Ihren Freund Helmut kannten, wird Ihr Gedicht die Erinnerung an Ihn immer auf ganz besondere Weise wach halten. Noch eine schönen Abend und herzliche Grüße, Jens Rudolph
falsch verstanden, jens rudolph. die erörterung ist keine außertextliches element, sondern ein teil des ganzen.
Guten Morgen.
Ja, es stimmt schon. Das ist ein persönliches Gedicht, dass nun mit den Erörterungen Sinn ergibt. Aber ich wollte damit zeigen, wie ich 1982 dachte und fühlte. Ich weiß nicht, lieber Jens Rudolph, wie alt Sie sind. Bei mir häufen sich nun die Jährchen und man blickt auf sein Leben zurück. Damals hatte ich Trauer, Haß, Wut und war sehr niedergeschlagen. Ich muss rückblickend feststellen, dass mich die DDR depressiv machte und mir ein Teil meines Lebens klaute. Leider muss ich das feststellen. Und das passt mir nicht. Stellen Sie Ihr Leben gern in Frage?
Lieber Kreon, das Gedicht eines vom Leben Enttäuschten, die großen Erwartungen erfüllten sich nicht. Er wechselt den Ort, aber nicht nur den Ort, er wechselt die Welt. Eine Welt des Haben, aber nicht des Sein. Dass es so ist, hat er vielleicht gar nicht einkalkuliert in seinem Streben nach einem unbeschwerteren Leben.
Das Gedicht beschreibt seine Sicht auf den westlichen Teil der Stadt. Das erträumte Paradies entpuppt sich als ein Überflussparadies ohne ihn. Er begreift, dass er in eine Welt des Neides, des Hasses gekommen ist. Es ist eine Welt, die er weder versteht noch will. Er ist nicht mehr und noch nicht zu Hause. Die Zwischenwelt lässt ihn zu bitteren Erkenntnissen kommen.
Das Gedicht ist im Grunde eine wörtliche Rede aus der Sicht des Protagonisten.
Es wird nicht erklärt, warum er vor seinem selbstgewählten Abgrund steht. Es in freien Versen geschrieben, kurzen Zeilen, so die Kurzatmigkeit seiner Gedanken assoziierend. Er erkennt den Schein, die Kaltherzigkeit seiner neuen Welt, sein Ausgeschlossensein, gelangt aber nicht zur Ursache seines Unglücks, greift zu Drogen, er will vergessen, nur so kann er seine falsche Entscheidung ertragen, denn er glaubt nicht an ein Zurück. Wie ein gefangenes Tier sucht er den Ausweg aus dem Käfig seines Lebens. Und findet ihn nicht. In diesem Gedicht gibt es nichts Überflüssiges, keine Schminke, keine „Kunscht“. Und das macht das Gedicht zur Kunst.
Kreon, falls du einen Stoff für eine Erzählung brauchst: die Geschichte deines Freundes, sie verbindet Vergangenheit und Gegenwart. Du brauchst für sie nur sehr wenig Fiktion.
Lieben Gruß, Antigone
Ein Nachsatz, Kreon: Lass die letzte Zeile weg, ist zu sehr an Christa Wolf angelehnt, finde eine eigene Formulierung für sie. Besser: Geh mit Wohin? aus dem Gedicht raus.
Aber mal eine andere Frage: Was hat dir denn die DDR geklaut? Wenn du 1982 erkannt hast, dass dein Freund einen Fehler gemacht hatte, warum erkennst du das heute nicht mehr?
Liebe Antigone.
Ja, das dachte ich mir auch. Kein Land, nirgends ist heute abgegriffen.
Danke für den Schreibtipp, aber die Kraft finde ich nicht. Ich stelle hier lieber alte Dinge ein. Es macht mir auch Freude, darüber nochmal nachzudenken. Und ich denke, dass die Jüngeren unter uns ruhig auch mal diese Sichtweise bekommen sollten. Mir erscheinen die manchmal als sehr satt. Das führt auch zu Überheblichkeiten. Natürlich hat jede Zeit ihre eigene Uhr und Gesetzmäßigkeiten. Was aktuell bei den Jungen Leuten auf der Strecke bleibt, sind die Gedanken um die eigenen Entwicklung. Viele von denen scheinen nach dem schnellen Kick, Ruhm und Geld zu streben.
Naja, das sind nur so einfache Gedanken eines alten Mannes…
Auch ich habe einem Nachsatz, liebe Antigone: Ich rede hier nur von Ost-Berlin. Was in West-Berlin war, weiß ich nicht. Meine Wut bezieht sich nur auf den unsrigen Teil.
Lieber Kreon,
aha. Dann muss ich das Gedicht also anders lesen. Gut, dann schreibe ich einen neuen Kommentar. Dass sich das Gedicht allerdings aus zwei Sichten lesen lässt, daran bist du als Autor schuld, weil du ungenau warst, von einem einheitlichen Berlin ausgingst, es gab immerhin zwei Berlin: Ost- und Westberlin, die in Konfrontation zueinander standen, denn der Westen konnte sich damit nicht einverstanden erklären, dass ein Teil Deutschlands nunmehr ohne Kapitalisten lebt.
Zum Inhalt des Gedichts:
Ein Arbeiter aus einem verschlafenen Nest in der DDR kommt Anfang der achtziger Jahre nach Berlin, Hauptstadt der DDR. Er staunt: Die Schaufenster sind ja voll! Offensichtlich kann sie alles! Er sieht das mit den Augen des Provinzlers: Hier in der Hauptstadt gibt es alles, aber wir in der Provinz haben nichts! Und er beginnt die DDR zu hassen. Sein Denken ist auf das Haben gerichtet, nicht aber auf das Sein. Er versteht weder die Entwicklung der DDR, noch, dass eine Hauptstadt immer präsentiert. Er scheint politisch eher auf den Westen ausgerichtet zu sein, was ihm nur zum Teil anzulasten ist, denn seine Umwelt war mit schuld an seiner kleinbürgerlich-engen Sicht. Er hat nicht begriffen, dass der Betrieb ihm und nicht irgendeinem kapitalistischen Konzern gehört, er hat sich nicht als Eigentümer verstanden. Und er überlegt, die Welt zu wechseln, in den Westen zu gehen, wo alles ganz, ganz anders und viel schöner ist, viel bequemer, dort muss er nicht arbeiten, wenn er nicht viel, dort hat er „seine Freiheit“, dort fliegen ihm die gebratenen Tauben ins Maul.
Kreon, das ist die Vorgeschichte dieses Mannes, dessen weiteres Schicksal du ja in deiner Fußnote zu diesem Gedicht beschrieben hast. Von der Fußnote bin ich beim Lesen des Gedichts ausgegangen. Und du weißt oder ahnst, dass es genauso weitergegangen ist mit deinem Freund, wie ich es in meinem ersten Kommentar schreibe. Das ist übrigens der wesentlich interessantere Teil, weil er eine Entwicklung beinhaltet und nicht nur dumme Sprüche eines kleinbürgerlich manipulierten Arbeiters. Anzunehmen, dass er ein eifriger Zuschauer des Westfernsehens war, denn solche Haltungen, zumal eines Arbeiters in der DDR, entstehen nicht aus dem Nichts. Nun bist du ein alter Mann, wie du schreibst, ich bin sicher ungefähr genauso alt. Was hast du begriffen, was dir geschehen ist, wenn du dieses Gedicht völlig kritiklos schreiben kannst? Ich mache dir keine Vorwürfe, ich kenne Leute mit deiner und deines Freundes Weltsicht viel zu gut, und ich kenne ihre Defizite.
Und ich bin der Ansicht, du solltest die Geschichte deines Freundes schreiben, vielleicht, dass du dir selbst über einiges klar werden kannst, wenn du eine ehrliche Geschichte schreiben willst. Und das wünsche ich dir.
Lieben Gruß, Antigone
„wenn du eine ehrliche Geschichte schreiben willst“ Er kann bestenfalls eine konkretere Geschichte schreiben – seine Geschichte. Den Splitter in einem Kaleidoskop – und doch niemals zu wenig.
Braunschweig, West
Michael Jackson oder
Die Drei Tenöre
Feierlich, sie klopfen schon an
Deine Tür
Mit einer Generation belastet
An der Oberfläche herumschwabbelnd
Erbschaftssteuer, Steuerbelastung, Senkung der Abgabelast
Forderung ist ein Preis
Von 43 cent pro Liter
Babypause, ewige Berufswahl
Bausparkasse…
Wir fordern Sie eindringlich auf
Ihre Ansprüche schon jetzt geltend zu machen,
überdenken Sie
Ihr Geschäftsmodell noch vor Ende
Des laufenden Jahres
An der Tankstelle frönst du
Deiner Konsumstimmung,
wankelmütig.
Auf hohem Niveau, im Kaufkraftverlust.