Ankunft

15.02.1979

Seit elf Tagen nun schon liegen jeden Morgen die Stullen und die Thermoskanne in der Durchreiche. Gisa mag es so. Sie könnten auch irgendwo in der Küche, auf dem Kühlschrank oder auf dem Wohnzimmertisch liegen. Das wäre für mich viel praktischer. So aber muss ich an der Wohnzimmertür um die Ecke laufen und den Sessel zur Seite schieben, um an die Durchreiche zu kommen und die Stullenpakete mit Kaffee einzupacken. Die Durchreiche ist ein kleines Fenster zur Küche. Gisas Fenster. Sie hat drumherum eine Borte festgemacht. Am Abend gehäkelt und mit Reißzwecken befestigt. Gisa macht gern Handarbeiten. Meine Thermoskanne hat sie auch in einen Häkelbeutel gesteckt. Ich habe ihr gesagt, dass der Muckefuck nun nicht viel anders schmeckt und genauso heiß ist wie vorher, weil die Wolle nicht noch mehr isoliert. Aber damit muss ich immer vorsichtig sein, Gisa hat nur die achte Klasse und fühlt sich deswegen gleich angegriffen.

Wenn ich durch das Treppenhaus vorbei an Schuhschränken und durchnäßten Winterstiefeln gehe, schläft noch alles. Meine Schicht beginnt vier Uhr dreißig. Gisas Wecker klingelt erst in einer Stunde. Jeden Tag wacht sie auf mit der gleichen Melodie: „Oh, du lieber Augustin, Augustin, Augustin…“ Den Wecker habe ich ihr aus Berlin besorgt. Das hat mich zwei Holzengel und einen Herrnhuter Weihnachtsstern gekostet. Danach sind die Leute schier verrückt. Zuhause hatten wir auch einen Stern statt der Flurlampe hängen. Das war das letzte Weihnachtsfest gemeinsam mit der Oma, Gisas Mutter. Ich glaube, in der neuen Wohnung können wir den Stern gar nicht anbringen. Der Flur ist viel zu klein dafür. Eigentlich ist das gar kein richtiger Flur. Ich muss wohl auch so ein Schuhregal für vor die Tür bauen. Gisas Schuhe aber sollen drin in der Wohnung stehen bleiben. Das sind ja alles Tanzschuhe. Ganz feines Leder. Früher waren wir immer unterwegs. War schon ein flottes Mädel, die Gisa. Mal sehen, was es hier so gibt. Wir müssen uns ersteinmal eingewöhnen, das kommt schon noch.

Ich stehe an der Haltestelle und blicke auf die Platte, in der nur wenige Fenster schwach erleuchtet sind. Meine Platte, die mir seit vierzehn Tagen eine Wohnstatt ist. Hier kommt das Wasser aus der Wand, habe ich meinen Kindern gesagt, als wir unsere Heimat verließen. Der Vati wird gebraucht, sagte Gisa unseren Mädchen. Wir packten unsere Möbel und die Schrankwand von unserer Hochzeit mussten wir zerteilen. Meine alten Kollegen haben mir einen Laster besorgt. Helmut kam mit: Ich lass euch doch nicht allein mit dem ganzen Zeug hier, sagte er. Ich glaube, er wollte auch von seiner Frau mal weg. Die trank hin und wieder und machte Helmut das Leben nicht einfacher.

Es war ein kalter Wintertag. Die Oma weinte, die Kinder weinten, Gisa weinte. Auf der Fahrt fuhren wir an bunten Wegweisern vorbei: Plaste und Elaste aus Schkopau. Nach drei Stunden waren wir da. Die Kinder schliefen im Auto, und Gisa und ich standen vor dem grauen Koloss. Gisa nahm meine Hand. Ich sagte zu ihr, dass der Aufzug sicher bald eingebaut würde, es ist ja nur der fünfte Stock und wir noch jung. Eine Gardine wurde zur Seite geschoben und ein Mann mit Brille rief aus dem Fenster:“Seit ihr die Neuen? Ich bin König aus der Dritten. Soll ich helfen kommen?“ Ich blickte meine Frau an: „Siehst du, Gisa, so sind sie! Immer hilfsbereit.“ Gisa sagte nichts und ging die Kinder aufwecken. Meine Mädchen schälten sich aus dem Auto und zitterten. Vor Schläfrigkeit, aus Angst vor dem Neuen und Unbekannten. Kathrin, die Jüngste, hielt ihr Plüschtier, ein rostrotes Eichhörnchen, fest umklammert. Ich bückte mich zu ihr, zog ihr die Jacke zu und meinte: „Wenn du willst, kannst du sofort baden. Und der Vati muss nicht den Ofen einheizen! Das Wasser kommt sofort ganz heiß aus der Wand!“. Ich nahm sie auf den Arm und ging auf den Mann aus der Dritten zu. Herr König zwackte Kathrin in die schlafrote Wange: „Na Kleine, so schlimm wirds nun auch nicht.“

Kreon
geboren 1968 im deutschen Mittelgebirge Berufsausbildung Zirkel Schreibende Arbeiter lange arbeitslos Rentner (Frührentner) Familie, Kinder, Enkelkinder

5 Kommentare

  1. Lieber Kreon,

    bin angenehm überrascht, hier mal einen Text mitten aus dem Leben lesen zu dürfen. Kein Wolkenkuckucksheim, eine Neubauwohnung, „die Platte“ (in Berlin sagten die Arbeiter dazu „Arbeiterschließfach“), der vom Westen vielgeschmähte
    Plattenbau.

    Ausgangspunkt der kleinen Erzählung: Eine Familie ist umgezogen, musste umziehen, der Vater (der Ich-Erzähler) hat wahrscheinlich in einem neuen Großbetrieb angefangen. Es geht aus dem Text nicht hervor, warum die Familie umgezogen ist. Vielleicht kannst du da noch einen Satz oder Halbsatz einfügen. Die Erzählung ist lebendig geschrieben, in einer wohltuend ungekünstelten Sprache, viele Hauptsätze, die Dialoge „aus dem Leben“, man sieht, dass du den Text zu gestalten bemüht bist.

    Du steigst mit der Gegenwart in der neuen Wohnung in den Text ein, dann folgt Charakterisierung der Ehefrau Gisa, dann wieder Gegenwart an der Haltestelle, danach wieder Abschied vom alten Heim. Es geht dadurch ein bisschen zeitlich durcheinander, ob es aber günstiger wäre, die Vergangenheit in einem Block gleich zu Anfang zu erzählen und dann erst zur Gegenwart zu kommen? So, wie es jetzt geschrieben ist, gibt es Analogien dazu, wie er Mensch denkt, nämlich Kuddelmuddel, was auch einen Reiz hat.

    Sprachlich bin ich sehr angetan, es wird in Normalsprache erzählt, ohne Schnickschnack. Aufgefallen ist mir eine Stelle, und zwar „vor Angst vor dem Neuen“ – hier wäre es besser zu schreiben „aus Angst vor dem Neuen“. Den „dritten“, womit die dritte Etage gemeint ist, schreib groß. Ich hoffe, du nimmst meine Bemerkungen als Hilfestellung und nicht als Besserwisserei. Solche Vokabeln sollten wir untereinander sowieso lassen.

    War schön, deine Erzählung zu lesen. Und nun bin ich schon ganz gespannt auf Weiteres von dir.

    Lieben Gruß, Antigone

  2. Schön guten Tag.
    Ich danke für die Reaktion. Das ist hier eine ganz alte Erzählung. Eigentlich nur eine Schilderung. Das war der erste Schreibtest damals im Zirkel. Ich war ja der Neue und sollte schreiben, wie ich mich gefühlt habe damals. Ich habe ja hier gesehen, dass Sie auch aus der DDR sind. Dann können Sie sich sicher vorstellen, was es für Diskussionen danach gab. Also begeistert waren nicht alle. Obwohl ich ja dicht am Real Soz dran war. Und ich habe bewußt auch Dinge genannt, die unseren Leiter gefallen sollten: das mit dem warmen Wasser oder aber das Hilfsbereite. Hat aber nicht so viel genützt. Die Stimmung sei so schwarz, so traurig. Das würde so nicht gehen. Ich habe die Erzählung in eine Mappe gelegt und nun wieder rausgepackt.

    Ihre Änderungen habe ich gerade eingegeben. Das mit den Zeitbrüchen will ich aber so lassen. Ich mag das, wenn es so hin und her geht. Mir ging es damals jeden Morgen so: Man war halb auf der Arbeit, halb an der Haltestelle, halb noch im Bett und halb in Gedanken an unser altes Haus.

  3. Ein schöner Text, ein tieftrauriger und mutiger Text. Völlig klar, dass Sie dafür nicht nur Lob eingeheimst haben. Sicher können wir hier eine ganz eigene, unverfälschte DDR-Einsicht erhalten. Aber ich gebe zu: An manchen Stellen habe ich auch „Ach ja“ ausgerufen, allerdings ohne „schön wars“. Nein, es war nicht immer schön.

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