Heimatkunde

Zu jenen Zeiten
als man die Lüge eine Lüge nannte,
als die Dichter Verse auf Flügeln schrieben,
überstieg der Wert eines Lebens
alles Menschengemachte.

Wir sagten Brot, wir sagten Wasser,
und wir meinten das Brot und das Wasser,
wir sagten Rosen, und wir rochen ihren Duft
schon beim Wort, und ein Apfelbaum
war ein Apfelbaum.

Die Zeit schlägt ihre Alterssitze auf,
sie spricht ihre genormten Wahrheiten aus,
die Dichter hausen in Eiffeltürmen,
und der Zeitwert menschlichen Lebens
bemisst sich in Nanosekunden.

Ich sage, meine Sonne
ist die Trauer, ich bin ein Schatten,
und ich weiß, wohin ich
fallen werde.

Antigone
Weder gewesene Pionierleiterin, Mitglied des Politbüros oder gar Geliebte des Staatsratsvorsitzenden (wie hier vermutet), sondern schlichte DDR-Bürgerin, nunmehr für 18 Milliarden DM zusammen mit 17 Millionen DDR-Bürgern zwangsweise verkaufte Bürgerin des Staates BRD. Hanna Fleiss: geb. 1941, wohnhaft in Berlin, Veröffentlichungen: zwei Gedichtbände "Nachts singt die Amsel nicht" und "Zwischen Frühstück und Melancholie" sowie in zahlreichen Anthologien und im Internet.

11 Kommentare

  1. Ich grüble und grüble und kann mir dennoch nicht erklären, warum es Heimatkunde heißt. Nur Heimat? Die Kunde hatte ich zu genüge in der zweiten Klasse. Sehr unangenehme Gedanken daran. Die werden durch die Überschrift geweckt. Und zum Glück von starken Wörtern verdrängt.

  2. Es geht wohl um dies Unangenehme. Eine Parodie auf beispielsweise die Heimatfilme der 50er Jahr wird vorsichtig angedeutet ohne sich zu outen.

  3. Wieso Parodie? Wo? Wenn es um die Rose geht, das Wasser und das Brot, so ist doch hier das Ursprüngliche gemeint. Sehnen wir uns nicht alle danach? Heimatfilme hin oder her.

  4. das Ursprüngliche selbst enthält bereits eine Wertung. Unschuld ist ein christlicher Begriff. Kindheit ein biologischer? Kein sozialer.

  5. Warum hat mich dieser Text 2 Tage lang beschäftigt? Sicher aus persönlichen Gründen. Der Text selbst ist nicht das Besondere, obwohl gut gearbeitet. Es ist der schulstubenhaft-angestaubt wirkende Titel, hier gezielt eingesetzt, der dem Text eine exklusive Richtung weist. Vielleicht nicht einzigartig – aber die Färbung: Muff und Technikolor.

  6. Oh, das habe ich völlig übersehen, dass sich meine lieben Mitschreiber auch hier in der gewohnten Weise geäußert haben. Danke, war doch nicht nötig. Ich bin informiert.

    Liebes Literarische Forum, warum das Gedicht „Heimatkunde“ heißt, dürfte bei einigem Nachdenken nicht allzu schwer erklärbar sein: Kunde aus der Heimat. Aber natürlich spielt der Titel auf den Schulunterricht an, wo jeder Schüler in einer Weise indoktriniert wird, dass er sich fragt, ob er männlich oder weiblich ist. Aber es geht mir vor allem um die Literatur in diesem Gedicht, die Literatur, die derart banal daherkommt, dass man sich das Lesen abgewöhnen könnte, wüsste man nicht, dass es außerdem tatsächlich Literatur gibt.

  7. Das Gedicht ist zweigeteilt: zunächst die Unschuld der Kinder, danach die Reflexivität der Erwachsenen mit ihren Zweifeln an dem, was real ist. Könnte es vielleicht sein, dass sie eine derartige Angst vor allem haben, das real ist, dass sie ihren Ursprung am liebsten vergessen würden? Ich selbst gehöre nicht der Generation an, die in der Schule noch mit Heimatkunde oder ideologischem Gedankengut „indoktriniert“ wurde. Für mich scheint hier lediglich die Sehnsucht des lyrischen Wir nach einem „früher“ in der Zeit durch. Das mag an sich banal sein – im Grunde aber ist es existenziell.

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