Das Leben ist kein guter Vorgesetzter

Ob ich einsam bin, fragst du, als ich am geöffneten Fenster den Regen betrachte. Im Fallen liegt eine Ruhe, eine Selbstverständlichkeit, der ich mich nicht entziehen kann. In der Scheibe verschmelze ich mit einer Tanne, zwei Formen, ineinander und doch getrennt. Wir zeichnen uns stets mit unseren Grenzen von der Welt ab; vielleicht ist es der Preis einer dritten Dimension, dass es kein Ineinander und Zugleich gibt, wie es das Bild im Fenster vorgaukelt, sondern nur ein Nebeneinander, und jede Annäherung lässt uns anstoßen, anecken – das Wesen unserer Körper, das Wesen der Menschen an sich. Jede Umarmung ist nichts als ein Versuch, aus diesem vorgegebenen Konzept auszubrechen, und doch zerfällt die Illusion.

„Weißt du“, sagst du, „das Leben ist ein Fallen.“ Und ich entgegne: „Ich habe dich nur ausgedacht. Du hast kein Gesicht, weil meiner Geschichte die Worte fehlen. Dir mangelt es an allem. So kann ich dich nicht ernst nehmen.“ Im Stillen stimme ich dir zu.

Manchmal gehe ich durch die Straßen und beobachte die Menschen. Die Häuser liegen so dicht aneinander, dass eine Wand zwei Gebäuden gehört. Ob sie glauben, durch diese Mauer die eigene Einsamkeit zu überwinden? Welch lächerlicher Versuch. Wir werden in etwas hineingeworfen, was sich Leben nennt, ohne den Grund dafür zu kennen. Es behandelt uns wie unmündige Kinder, erklärt uns weder Sinn noch Zweck. Wir bleiben im Unwissen darüber, wie viel Zeit uns zur Verfügung steht. Ein tyrannischer Vorgesetzter, der sich nicht mit den Belangen Untergebener befasst. Als ich am Laternenpfahl ein Netz sehe, so fein und einzeln in die Welt gebaut, muss ich an all die Füße denken, die das Pflaster treten, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir auch über Fäden balancieren, nur mit Beute ein Ziel.

Sigune
1981 in Filderstadt geboren; Diplom-Studiengang Literaturübersetzen in Düsseldorf; Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien; unter den Preisträgern beim 5. Brüggener Literaturherbst (2014), beim Kempener Literaturwettbewerb und beim Badener Lyrikbewerb zeilen.lauf (2015).

11 Kommentare

  1. Absatz 1: Interssant, macht Lust auf mehr.
    Absatz 2: Hoppla! Das steigert sich. Weiterlesen.
    Absatz 3: Das ist mir dann doch zu pessimistisch. Mit meinen bald drei Jahrzehnten Berufserfahrungen unter diversen Vorgesetzten weiß ich durchaus, wie belastend es sein kann. Aber bitte doch nicht verallgemeinern und es mit dem Leben an sich gleichsetzen! Das Leben sind doch wir, sind du, ich, Sie. Und nicht ein Jemand, der „sich nicht mit den Belangen Untergebener“ befasst. Das Leben ist also verantwortlich für das, was mit mir passiert? Mein Schicksal passiert mir? Der Zufall passiert? COGITO ERGO SUM!
    Fazit:
    Den dritten Schritt hat der Text nicht verdient. Nicht nach ersten beiden glanzvollen Riesenschritten.

  2. Ich schließe mich der Meinung von Dieter Wal, geschrieben am 30.08.2015, an: Nihilistischer Sozialdarwinismus. Liebe Sigune, warum habe Sie den Text nach über einem Jahr nicht bearbeitet? Auch als Unangepasste darf man das…

  3. Es gibt solche und solche Vorgesetzte. Das soll der Text gar nicht einengen. Hier im Vergleich ist explizit ein „tyrannischer“ genannt. Davon soll es auch den ein oder anderen geben, auch wenn ich sie in Reinform selbst zum Glück nie erleben musste.
    Das Leben hat zwei Seiten: wir, unser freier Wille, aber auch das, was auf uns zu-fällt. Diese Zufälle passieren einfach, ob wir wollen oder nicht. Natürlich ist der Text überspitzt lediglich auf den einen Aspekt hin formuliert. Dennoch ist es ein bisschen so: Man bekommt die „Aufgabe“, hier aus seinem Leben etwas zu machen (oder auch nicht), aber keine Zeitangabe dafür. Wie kann man so vernünftig arbeiten? Wir wissen nicht, was das hier alles überhaupt soll. Natürlich gibt es darüber zahlreiche philosophische Spekulationen. Dennoch: Spekulationen, nichts weiter. Wir verstehen einen Computer, eine Uhr, einen Wasserkocher, ein Auto – aber niemals uns selbst.

  4. Ist das so? Darf verallgemeinert werden? Verstehen wir uns nicht oder verstehen Sie persönlich sich nicht? Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine: Wir sollten nicht von uns auf andere schließen. Es gibt durchaus Menschen, die mit sich eins sind und im Rhythmus leben. Wer möchte diesen Menschen unterstellen, dass sie doch eigentlich das falsche Leben im echten führen, verständnislos sich selbst gegenüber sind und doch bitte auf die Reise zu ihren schwarzen Löchern gehen?
    Und zwar in einer bestimmten Zeit.
    Nein, Sigune, was würde es bringen, die Lebensuhr täglich zu sehen? Würden Sie dann effektiver arbeiten? Sie wären doch dann erst recht ein Sklave Ihrer selbst. Ich halte es mit Pu, dem Bären: Wie schön, dass hier alles noch erlebt zu haben. Das macht mir den Abschied wenigstens schwer.

  5. In meinen Augen kann man sehr wohl glücklich und eins mit sich sein sein, ohne das Leben und was es damit auf sich hat im Detail zu verstehen. Nicht zu hinterfragen, wenn es keine Antwort geben kann, ist keine schlechte Einstellung (wobei es das Wort „Einstellung“ noch nicht einmal allgemein trifft).
    Effektiver arbeiten – nein. Darum geht es mir nicht. Ich persönlich vermutlich: weniger arbeiten, wenn ich könnte. Pu, dem Bären stimme ich zu.

  6. Ein wahrhaft erschütternder tiefenpsychologischer Text, der uns eindringlich die Sinnlosigkeit des Elends der menschlichen Kreatur erkennen lässt. Schon die spiegelnde Fensterscheibe stellt den Leser auf diese immer und zu jeder Zeit geltende Gültigkeit dieser Erkenntnis ein. Erschlagen von so viel sinnlicher Erfahrungskraft, war ich nicht mehr in der Lage, den Text zu Ende zu lesen, und musste erst einmal bei einem Kaffee meine seelischen und körperlichen Kräfte stärken. Danach ging es weiter, und ich kann jedem Leser nur empfehlen, die in dem Text waltenden Kräfte nicht als Ausfluss eines gedankenlosen Schreibers zu werten, sondern als verbale gute Taten an der erschöpft lesenden Menschheit.

  7. Darf ich trotzdem nochmal Anfragen, warum dieser „tiefenpsychologische“ Text nochmal nach einem Jahr des Gärens hier angeboten wurde? Da kann man doch mal daran arbeiten. Vor allem dann, wenn es durchaus berechtigte Einwände gibt. Es sei denn, Sie, liebe Sigune, wollten auch die Handvoll Leser hier auf Inskriptionen testen. Nun, zwei Antworten haben Sie. Antigone kriegt sich vor Lob nicht ein und konnte den Text nur mit Kaffee verkraften. Wie auch immer das zu deuten ist. Scheint ja ein schwerwiegendes Kriterium zu sein.
    Ich persönlich halte es mit dem „Forum“ und stehe bei Ihren Zeilen zwischen Baum und Borke. Da geht noch mehr, das kann es nicht sein.

  8. Gelegentlich grabe ich auch mal etwas Älteres aus. Es spricht doch nichts dagegen und ich finde, es spielt für die „Handvoll Leser“ keine Rolle, ob der Text vor einem Jahr oder gestern geschrieben wurde.
    An einem Text arbeiten – ja. Ihn in einen positiven Gegentext umschreiben – nein, denn das entspricht nicht meiner ursprünglichen Intention. Man könnte einen neuen – positiven – Gegentext entwerfen. Hier überlasse ich den Lesern den Vortritt. Ich wäre gespannt.

  9. Das ist eine gute Antwort und ein ebensolche Einstellung. Sie sehen, Ihr Text bewegt. Und das ist schon die halbe Miete.
    Einen schönen Tag noch!

  10. „Wir werden in etwas hineingeworfen, was sich Leben nennt, ohne den Grund dafür zu kennen. Es behandelt uns wie unmündige Kinder, erklärt uns weder Sinn noch Zweck. Wir bleiben im Unwissen darüber, wie viel Zeit uns zur Verfügung steht. Ein tyrannischer Vorgesetzter, der sich nicht mit den Belangen Untergebener befasst.“

    Im Science Fiction-Film „Contact“ wird dieselbe Frage ähnlich beantwortet. Darin wird eine Bauanleitung für eine Maschine aus dem All gesendet. Nach Fertigstellung und Reise mittels Maschine begegnet der Astronautin ihr während ihrer Kindheit verstorbener Vater. Er ist mit ihrem Vater identisch, aber behauptet nicht, ihr Vater zu sein. Auf ihre Frage, wer die Maschine entwickelte und welchen Sinn das alles hätte, antwortet er, er wüsste es auch nicht, das täten sie seit Millionen von Jahren. Sie sollte Schritt für Schritt gehen. Der in deinem Text tyrannische Vorgesetzte erhält in Carl Sagans Verfilmung eine positive Erscheinung. „Er wüsste es auch nicht. Immer nur Schritt für Schritt.“

    In der Sophokles‘ Antigone heißt es sinngemäß: „Bin Mensch, bin sterblich. Geworfen bin ich in die Zeit. Ein Windhauch kann mich fällen.“ Deine Parabel erinnert mich daran.

    In „der sich nicht mit den Belangen Untergebener befasst.“ schimmert die deistische Gottesvorstellung hindurch. Dass die Autorin sie nicht als „Gott“, sondern „das Leben“ bezeichnet, gefällt mir gleichfalls.

    Das wirkt in seiner Durchdachtheit irritierend, weil es mein Leben als humanoider Stallhase in Frage stellt. Und das ist gut.

  11. Mir gefällt der Gedanke vom Vorgesetzten, der schlecht ist, weil er – evtl. tyrannisch – selber ahnungslos- ohne Führungsqualitäten – ist. Denn wie leicht vergessen wir: wir sind nur ein Produkt dessen, das wir als „Leben“ bezeichnen, und sind ganz besonders Teil dessen – nur ist das Woher und Wohin vollkommen schleierhaft. 250 Jahre Aufklärung haben auch nichts daran geändert. Und ob dahinter ein Vorgesetzter waltet, oder etwas, dass wir mit Sinn meinen – wir wissen es nicht.

    Herumkrebsen auf der Scholle ist dennoch nicht nur erlaubt, sondern unser tägl. Brot.

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