Herr Klopsig und Frau Edelsüß (3)

Der Großschriftsteller

Frau Edelsüß führte wirklich ein abwechslungsreiches Le­ben. Der fehlende Zwang, sich einer Erwerbstätigkeit zu­zu­wen­den, verleitete sie zu einer professionellen Sprung­haf­tigkeit, die in früheren Zeiten Universal­ge­lehrt­heit genannt wurde. Jetzt er­blickte man in einer solchen Vielseitigkeit das si­chere An­zei­chen für Dilletantismus. Frau Edelsüß – sich ihrer vor­nehmen Herkunft bewußt – zeigte sich gegen derartige niedere Sei­ten­­hiebe erhaben. Die Künstler, Komponisten und Schrift­stel­ler aller Sparten schätzten sie als Ge­sprächs­partnerin, Be­ra­terin, Coach und hätten sie gern auch als Couch benutzt. Letzteres wußte Frau Edelsüß geschickt zu verhindern.

Diesmal hatte sie ein berühmter Großschriftsteller in seine Klause eingeladen. Frau Edelsüß behauptete, daß es die Ge­rad­linigkeit sei, die zum Schreiben verhelfe, die Gerad­linig­­keit, die sie verlasse, wenn sie mit Gott spreche, ins­geheim, zu der sie zurückkehre, indem sie schreibe.

„Sie schreiben selbst?“ staunte der berühmte Groß­schrift­steller. Dem aufmerksamen Leser sind die historischen Parvenüs von Frau Edelsüß bereits bekannt.

„Nicht der Exzeß motivert mich“, setzte Frau Edelsüß ihren Bericht fort, „sondern die tägliche Disziplin.“ Diesen Satz meinte Frau Edelsüß gewiß nicht wörtlich. Er war eine Provo­kation, auf die der berühmte Großschriftsteller sog­leich ansprang.

„Meine liebe junge Freundin“, sprach er großväterlich, „Sie reden, als wären Sie ein alter Mensch.“

Daraufhin zog der berühmte Großschriftsteller ein Buch aus dem Regal.

„Kennen Sie Weigand, Dramatiker aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts?“ fragte er Frau Edelsüß. Sie schüttelte vage den Kopf.

„Natürlich habe ich den Namen schon einmal gehört, aber nichts von ihm gelesen.“

Das Übliche. Es war kein Wunder, denn Weigand stammte aus Tauberfranken, einer Provinz, die mit der Sint­flut rettungslos untergegangen war.

„Weigand“, belehrte der berühmte Großschriftsteller seine liebe junge Freundin weiter, „Weigand hat wie kein anderer den Alltag geschildert, durchdrungen, ihm mit einer Lust Leben eingehaucht, daß man glaubt, im Alltäglichen der kleinen Leute das eigentliche Drama wiederzuerkennen, das Drama der menschlichen Existenz überhaupt wie das Drama der eigenen Existenz. Wovon die Zeitungen schwei­gen.“

Soweit der berühmte Großschriftsteller. Frau Edelsüß dank­­­te und verabschiedete sich. Zu Hause eingetroffen, spür­­­te sie eine unbändige Neugier, ihre Bildungslücke auf­zu­­füllen und etwas zu lesen. Eine solche Schlappe sollte ihr so rasch nicht widerfahren.

Beim nächsten Besuch des Großschriftstellers bat Frau Edelsüß Herrn Klopsig, sie zu begleiten. Denn der Groß­schrift­steller empfing sie zum Dinner in seinem Strandhaus weit vor der Stadt. Die dreißig Jahre jüngere Frau des Großschriftstellers trug glatte, lange, schwarze Haare. Auf wun­­dersame Weise strahlte ihre Schönheit aus und ver­schö­nerte ohne weiteres Zutun auch die Gäste, das heißt Herrn Klop­sig, denn Frau Edelsüß bedurfte keiner Ver­schö­nerung… Man plauderte am Kamin ein wenig über Wei­gand, der der Leib- und Magenautor des Groß­schrift­stel­lers zu sein schien. Dann führte die junge Frau des Haus­herrn die Gäste zu ihren Betten.

Herr Klopsig traute seinen Augen nicht: Sie entkleidete sich vor ihnen. Schamvoll preßte Herr Klopsig den Kopf ins Kissen. Es gelang ihm, einen kurzen Blick auf die Rundung ihres Hinterns zu erhaschen, unbemerkt von Frau Edelsüß, die die Gastgeberin und Herrn Klopsig im Auge behielt. Der heimlich erspähte Hintern spukte im Kopf von Herrn Klopsig umher und entwickelte sich zu einem bemerkenswerten Kinoerlebnis.

Um sich abzulenken, griff Herr Klopsig nach einem Buch. Es handelte sich um ein Frühwerk des Großschriftstellers. Auf den ersten Seiten war der Autor im Gespräch mit dem Verleger abgebildet: fett, auf­gedunsen, den Kopf von einer lockigen, weißen Mat­te bedeckt wie im Ba­rockzeitalter. Herr Klopsig zeigte Frau Edel­süß das Foto.

„Der hat sich aber verbessert“, sagte Frau Edelsüß und lach­te herzhaft.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

4 Kommentare

  1. Diese passionierte Depression, die! Herr Klopsig und Frau Edelsüß drückten ihre Holzköpfe in die rotkarierten Kissen. Schön, dass es die beiden jetzt auch als Kasperle-Figuren gab. Die Kooperation ihrer Verlage mit der Augsburger Puppenkiste sollte sich bezahlt machen. Die Aufführung neoromantischer und realsatirischer Werke à la Weigand konnte zum nächstmöglichen Zeitpunkt starten, der Großaspirator rieb sich die beringten Hände.

  2. am wundersamsten finde ich die stelle mit dem kopf ins kissen pressen von herrn k. , interessant ist die person des großschriftstellers und am gespanntesten bin ich auf das kinoerlebnis welches noch offen ist zu verwirklichen
    alles in allem kurzweilig und amüsant. Danke Viktor

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