Der Großschriftsteller
Frau Edelsüß führte wirklich ein abwechslungsreiches Leben. Der fehlende Zwang, sich einer Erwerbstätigkeit zuzuwenden, verleitete sie zu einer professionellen Sprunghaftigkeit, die in früheren Zeiten Universalgelehrtheit genannt wurde. Jetzt erblickte man in einer solchen Vielseitigkeit das sichere Anzeichen für Dilletantismus. Frau Edelsüß – sich ihrer vornehmen Herkunft bewußt – zeigte sich gegen derartige niedere Seitenhiebe erhaben. Die Künstler, Komponisten und Schriftsteller aller Sparten schätzten sie als Gesprächspartnerin, Beraterin, Coach und hätten sie gern auch als Couch benutzt. Letzteres wußte Frau Edelsüß geschickt zu verhindern.
Diesmal hatte sie ein berühmter Großschriftsteller in seine Klause eingeladen. Frau Edelsüß behauptete, daß es die Geradlinigkeit sei, die zum Schreiben verhelfe, die Geradlinigkeit, die sie verlasse, wenn sie mit Gott spreche, insgeheim, zu der sie zurückkehre, indem sie schreibe.
„Sie schreiben selbst?“ staunte der berühmte Großschriftsteller. Dem aufmerksamen Leser sind die historischen Parvenüs von Frau Edelsüß bereits bekannt.
„Nicht der Exzeß motivert mich“, setzte Frau Edelsüß ihren Bericht fort, „sondern die tägliche Disziplin.“ Diesen Satz meinte Frau Edelsüß gewiß nicht wörtlich. Er war eine Provokation, auf die der berühmte Großschriftsteller sogleich ansprang.
„Meine liebe junge Freundin“, sprach er großväterlich, „Sie reden, als wären Sie ein alter Mensch.“
Daraufhin zog der berühmte Großschriftsteller ein Buch aus dem Regal.
„Kennen Sie Weigand, Dramatiker aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts?“ fragte er Frau Edelsüß. Sie schüttelte vage den Kopf.
„Natürlich habe ich den Namen schon einmal gehört, aber nichts von ihm gelesen.“
Das Übliche. Es war kein Wunder, denn Weigand stammte aus Tauberfranken, einer Provinz, die mit der Sintflut rettungslos untergegangen war.
„Weigand“, belehrte der berühmte Großschriftsteller seine liebe junge Freundin weiter, „Weigand hat wie kein anderer den Alltag geschildert, durchdrungen, ihm mit einer Lust Leben eingehaucht, daß man glaubt, im Alltäglichen der kleinen Leute das eigentliche Drama wiederzuerkennen, das Drama der menschlichen Existenz überhaupt wie das Drama der eigenen Existenz. Wovon die Zeitungen schweigen.“
Soweit der berühmte Großschriftsteller. Frau Edelsüß dankte und verabschiedete sich. Zu Hause eingetroffen, spürte sie eine unbändige Neugier, ihre Bildungslücke aufzufüllen und etwas zu lesen. Eine solche Schlappe sollte ihr so rasch nicht widerfahren.
Beim nächsten Besuch des Großschriftstellers bat Frau Edelsüß Herrn Klopsig, sie zu begleiten. Denn der Großschriftsteller empfing sie zum Dinner in seinem Strandhaus weit vor der Stadt. Die dreißig Jahre jüngere Frau des Großschriftstellers trug glatte, lange, schwarze Haare. Auf wundersame Weise strahlte ihre Schönheit aus und verschönerte ohne weiteres Zutun auch die Gäste, das heißt Herrn Klopsig, denn Frau Edelsüß bedurfte keiner Verschönerung… Man plauderte am Kamin ein wenig über Weigand, der der Leib- und Magenautor des Großschriftstellers zu sein schien. Dann führte die junge Frau des Hausherrn die Gäste zu ihren Betten.
Herr Klopsig traute seinen Augen nicht: Sie entkleidete sich vor ihnen. Schamvoll preßte Herr Klopsig den Kopf ins Kissen. Es gelang ihm, einen kurzen Blick auf die Rundung ihres Hinterns zu erhaschen, unbemerkt von Frau Edelsüß, die die Gastgeberin und Herrn Klopsig im Auge behielt. Der heimlich erspähte Hintern spukte im Kopf von Herrn Klopsig umher und entwickelte sich zu einem bemerkenswerten Kinoerlebnis.
Um sich abzulenken, griff Herr Klopsig nach einem Buch. Es handelte sich um ein Frühwerk des Großschriftstellers. Auf den ersten Seiten war der Autor im Gespräch mit dem Verleger abgebildet: fett, aufgedunsen, den Kopf von einer lockigen, weißen Matte bedeckt wie im Barockzeitalter. Herr Klopsig zeigte Frau Edelsüß das Foto.
„Der hat sich aber verbessert“, sagte Frau Edelsüß und lachte herzhaft.
Diese passionierte Depression, die! Herr Klopsig und Frau Edelsüß drückten ihre Holzköpfe in die rotkarierten Kissen. Schön, dass es die beiden jetzt auch als Kasperle-Figuren gab. Die Kooperation ihrer Verlage mit der Augsburger Puppenkiste sollte sich bezahlt machen. Die Aufführung neoromantischer und realsatirischer Werke à la Weigand konnte zum nächstmöglichen Zeitpunkt starten, der Großaspirator rieb sich die beringten Hände.
„Pappij, waazizt aigentliesch Liiiiebe?“
letztes Wort, erster Absatz: coach oder couch?
am wundersamsten finde ich die stelle mit dem kopf ins kissen pressen von herrn k. , interessant ist die person des großschriftstellers und am gespanntesten bin ich auf das kinoerlebnis welches noch offen ist zu verwirklichen
alles in allem kurzweilig und amüsant. Danke Viktor