Lost and found

Zu Gedichten von Snežana Minic

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Dieses Buch gab mir Snežana in Hamburg in die Hand, nachdem ich im Festsaal des Kunstgewerbemuseums Ithaka-Verse von Miloš Crnjanski in deutscher Übersetzung vorgetragen hatte. Es war ein rührender Moment: die expressiven Texte, die Crnjanski zwischen den Gefechten in Galizischen Wäldern aufgekritzelt hatte, die mit ihm die Odyssee des Krieges überlebten, schwebten noch im Raum; allmählich füllte er sich mit Geplauder, dem Klirren der Weingläser, Lachen und dem Schurren der Schuhe. Eine Last fiel ab, das schwere Wort hatte sich herabgesenkt und gab die Lufthoheit wieder frei für das Leichte.

Es gab keinen günstigeren Augenblick, die Gedichte von Snežana zu empfangen. Mit leichter Zunge erzählt sie von mediterranen Mythen, von Flucht und Vertreibung, magischen Schildkröten, osmanischen Anekdoten, weiblichem Stolz, Spaziergängen im Park, Kneipenbesuchen, Hinterhöfen, Nirgendsorten und Niemandsländern, Zigeunern und Kamille, von den Frauen, die Großvater liebte und für die er die deutschen Lager überlebt hat.

Die Texte tänzeln so leicht, daß das Buch mir abhanden kam. Ich erblickte es zuweilen eingequetscht zwischen den gewichtigen Büchern im Regal, doch erst jetzt, ein Jahr später, entdeckte ich es wieder.

„Unsere Irrfahrten setzen nur die längst beschriebenen fort … Aber auch Ithaka … ist bloß eine Insel.“ Das ist der Auftakt des Buches, die zentrale Metapher der jugoslawischen Moderne: Odysseus. Die Geschichte der Balkanvölker als Irrfahrt, als Kampf mit Zyklopen, Menschenfressern, als schmerzhafte Lust im Spiel mit Nymphen und Sirenen. Crnjanski ruft Odysseus ins Gedächtnis, Stevan Tonti? Penelope. Bei Snežana wird Ithaka wieder, was es eigentlich ist: eine Insel.

Es ist der hermeneutische Ansatz, der diese Gedichte durchzieht: zu den Sachen selbst zurückzukehren, zu sehen, was eigentlich in den Dingen und den Menschen steckt. „Was will ich eigentlich? – Sprechen will ich, wieder sprechen, wie alle Vertriebenen, ohne ständigen Wohnsitz, ohne Haare auf den Zähnen, mit Paß der UN oder ohne …“ Man muß zuweilen die Sätze freilegen, aus dem Wachsen der Gedanken herausnehmen, um ihre Schönheit zu erkennen und sie wieder zurückzugeben in das Geflecht der Verse. Snežana vertraut der wundertätigen Kraft des Kleefarns, die gefesselte Zunge zu lösen. Der Farn – ein heidnisches osteuropäisches Gewächs, grün wuchert er in den Wäldern, aber nur kurz zeigt er seine Blüte, um Mitternacht – diesen Augenblick gilt es zu erhaschen, wenn man verliebt ist. Auch die Litauer wissen darüber Lieder zu singen.

Was den Flüchtling im Westen empfängt, das sind „immerfort Werbebotschaften und Bilder, Bilder und Werbebotschaften“. Die Einheimischen sind abgelenkt durch kleine magische Bildschirme, die sie in den Händen halten oder über den Sitzen in der Straßenbahn anstarren – die sie abhalten – oder schützen? – von der mitmenschlichen Begegnung. Es ist Arbeit, sich von den sorgfältig geschminkten, bunt bespannten, beeindruckend errichteten Fassaden zu befreien, sich nicht aufsaugen und manipulieren zu lassen. Die Einsamkeit in all dieser Fülle zu erkennen und schätzen zu lernen.

„Die Poesie hat keinen Nutzen, wir sollten es lassen, vergebliche Mühen … selten, freudlos schrieben wir Gedichte.“ Tatsächlich, objektiv gesehen, steht uns die Dichtung in dieser Welt nicht bei. Sie verhindert keine Kriege, keine Klimakatastophen. Sie läßt uns innehalten, wenn wir uns auf sie einlassen. Das ist alles. Die torkelnde Bewegung eines Schmetterlingsflügels. Wenn sie keinen Wirbelsturm auslöst, kann sie Freude bereiten.

„Wir sind in einem neuen Land aufgewacht, Amseln zwitscherten im Gebüsch, Möwen flogen, alles hatte andere Bedeutung.“ Die Flucht ist von Gefahren umzingelt, die Ankunft verheißt Stille, ersehnte Ruhe – selbst die Wolken haben, scheint es, eine andere Gestalt, das Gras wächst anders. In der Stunde der Rettung kehrt die Vergangenheit zurück. Snežanas Großvater lebt in den Gedichten, wird in deutschen Viehwaggons herumgekutscht, nach Norden zur Zwangsarbeit geschleppt. Wo „ein Zigarettenstummel sein ganzer Reichtum war.“ Was ist der richtige Ort? Wann haben wir ihn gefunden?

Die Prinzessin dagegen wurde in den Süden entführt, ins herrliche Byzanz, wurde im Serail festgehalten, „die schwarzäugige Schönheit neben so vielen anderen Frauen … mußte ihr von so vielen Helden gerade dieser zuteil werden?“ Sie konnte nur noch träumen vom Vogelgezwitscher daheim in den Hainen, von den Hügeln und Hirten. Die Dichterin, sie „könnte dorthin zurück, mit Pferd, Esel, Zug, mit einem Sack Kartoffeln.“ Aber sie bleibt im Exil. Im Land des Blaukrauts, der Kohlköpfe, der Versicherungsagenten und Zeitungsleser, der Frauen mit Tragetüchern. Des Regens. Er verflüssigt alles, läßt Trauer vom Himmel fallen. „Nirgends kann man hingehen, vor nichts fliehen.“

Sie bleibt und beobachtet zugleich die Rückkehrer: „Sie kommen zurück von der Jagd und aus Kriegen, sie kaufen Bücher, sie legen die Lanze beiseite, wickeln sich in uralte Felle, im Schlaf sind sie wie Rehe so sanft, die Insel der Seelöwen ist von Sirenen bevölkert, sollen doch ordentliche Winde blasen, und ihre Schiffe in Byzanz landen … Ich stehe und schau, wie sie weißlich schimmern.“

Diese Gedichte erzählen. Sie üben sich nicht im hermetischen Versteckspiel, sondern in Hermeneutik. Der Leser schwimmt mit dem Bewußtseinsstrom der Autorin, er gleitet mühelos an ihrem Leben vorbei wie an einer Nomadensiedlung, die am Ufer ihren Platz gefunden hat. Und in dem kurzen Augenblick, in dem der Leser nachsinnt und sich selbst erblickt, hat ihn der Strom weiter getragen. Die Nomaden aber sind nicht an ihrem Platz geblieben, sondern haben ihre Zelte schon am neuen Ufer aufgeschlagen.

Snežana Minic, Ostwärts, westwärts. Aus dem Serbischen von Matthias Jacob, Klagenfurt: Drava, 2012

Alfred Knurr
geb. am 24. 12. 1967 in Görlitz als Alfred Knerr, ist ein deutschsprachiger Kritiker, Possenreißer und Bän-kelsänger, die Eltern waren dem Wein zugeneigt, was ihn nicht hinderte in Halle (Saale) zum deutschen Biedermeier zu promovieren, zuletzt: Das Drama von Gier und Geiz, Frankfort am Mein, 2014

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