Tannenhitze

Neben den sechs Tannen vor unserem Haus stand ursprünglich noch eine siebte. Im Jahr meiner Geburt war sie von Großvater Ernst gefällt und durch einen gusseisernen Fahnenmast ersetzt worden. Fortan flatterte zu allen Feiertagen die neue Staatsflagge mit Hammer und Sichel im Ährenkranz am eisernen Mast vor unserem Haus. Es war die Zeit des Aufbruchs.
Großvater Ernst hisste die Flagge auch am Tag meiner Geburt. Es blieb unklar, ob er es wegen mir tat oder wegen der politischen Lage: In Berlin hatten sie begonnen eine Mauer zu bauen, die das Ausbluten des Landes in Richtung Westen ein für alle mal verhindern würde. Ich würde zur ersten Generation von Deutschen gehören, die ohne Krieg und Ausbeutung in Frieden aufwuchs und ihre Arbeit ganz dem Wohl und Fortkommen der befreiten Menschheit widmen würde.
Unser Eisenmast war der höchste von ganz Finsterbergen. Von der Ortsmitte aus konnte man die Fahne vor der aufragenden Fachwerkfassade unseres graubraunen Hauses deutlich erkennen. Meine Mutter wusch und bügelte Großvaters Staatsflagge nach den Feiertagen in  ihrer vorsichtigen, aber gründlichen Art und gab sie ihm stets mit einer leisen, aber klaren Bemerkung zurück: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an der Fahne.“ Doch der Großvater winkte jedesmal ab und knurrte irgendetwas von bürgerlichem Kleinmut und dass sie schon sehen werde. Als ich meine Mutter fragte, welche Früchte sie meine, antwortete sie ohne mit der Wimper zu zucken: „Die Eicheln und Kastanien, die wir jeden Herbst für die Försterei sammeln, damit sie im Winter die Waldtiere füttern können.“ Diese Antwort leuchtete mir ein, mit dem Sammeln von Eicheln und Kastanien hatte ich bereits im Alter von fünf Jahren erstes eigenes Geld verdienen können. Zehn Pfenninge zahlte die Försterei pro Kilogramm.
Das letzte Mal, dass ich meine Mutter ihren Spruch mit den Früchten sagen hörte, war der Tag, an dem sie Finsterbergen für immer verließ. Das war kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag. Es war unglaublich heiß, die Luft draußen duftete nach überhitzten Nadelbäumen und das Betreten des Waldes war wegen der hohen Waldbrandgefahr nur noch den Jägern und Forstarbeitern erlaubt.

eisenhans
Martin Jankowski: geb. 1965 in Greifswald, lebt in Berlin. Songs, Gedichte, Essays, Erzählungen, Roman. Zuletzt göttliches vergnügen auf erden und kosmonautenwalzer (Lyrik, beide aphaia Verlag 2014).

3 Kommentare

  1. … Katanien und Eicheln gesammelt und Bucheckern! Die Früchte erinnern an Bischofsmützen: Drei scharfe Kanten, eine wird leicht mit dem Nagel aufgeritzt. Die winzige Frucht ist leicht pelzig und schmeckt nach Nuss. Wir haben im Buchenlaub gesessen und „verlorene Kinder“ gespielt. Zum Glück hatten wir ja was zu Essen. Und abends heim zu Oma, die auf der Küchenwaage aus braunem Emaille unsere Ernte wog. Mittwochs war Pioniertag. Da mussten wir mit blauen oder roten Tüchern in die Schule am Berg. Wenn wir nachmittags nach Hause kamen, stand Oma an der Gartenpforte, riß uns die Tücher ab und schimpfte: Sind wir hier bei Hitlers oder was!

  2. Wieso finden wir das Leben anderer immer spannender als unser eigenes? Warum hegen und pflegen wir die kleinen Geschichten der Blutsverwandten? Um das Band zum Gestrigen zu knüpfen,weil das Morgen nicht für uns bestimmt ist? Die Nabelschnur wurde schließlich ohne unsere Einwilligung zerschnitten, wir mühen uns ein Leben lang damit ab, sie wieder halbwegs herzustellen.
    Und am Tische bemerke ich den staunenden Gesichtsausdruck meines Kindes, wenn ich – mittlerweile ohne Pathos – von den Neunandachtzigern erzähle. „Ihr habts gut,“ sagt es, ihr könnt wenigstens zehren von euren Erinnerungen. Und was bleibt für mich noch übrig?“

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