Bembelherz

Der Süße aus der ersten Pressung bekommt ihr nicht, so express nach dem Milchkaffee im Hänschenklein, und auf dem Klo fühlt sich Britta gerade so wie eine überstellte Drückebergerin. Kaum, dass sie sich so schnell drehen und wenden kann, wie alles Mögliche sie verlassen möchte. Das Fenster zum Hof schließt nicht, der Haken rotiert vor dem Nagelkopf. Britta hört den Gesang des Keilriemens und die Litanei im Trichter der Apfelmühle. In zu großen Gummistiefeln mühsame Schritte matschen ein Galeerengeräusch. Der König spricht sehr vernehmlich vom Notstand „in der Latrine“. Die Ansprache trieft vor Verachtung für das kleine Licht im Klo der armen Leute. Königlicher Dünnschiss bekäme jederzeit eine Audienz in den gediegenen Verhältnissen des ersten Stocks. Da sagt kein Namensschild den Bewohner an. Dass weiß man, wer da wohnt, es sei denn, man weiß gar nichts.

Die Verachtung kommt aus der Verachtung. Sie regelt den Verkehr im Haus. Das Haus war eine Burg im Mittelalter und heißt so noch frei von Zusätzen. Der erste Burgherr war ein Freiherr von Eulburg. Sein Name überlebte einige architektonischen und eigentümlichen Neuordnungen. Mochten die nachrückenden Leute schließlich wie Jedermann Schuster oder Ritter nur heißen, sie wohnten doch immer noch in der Eulburg an einer markanten Stelle der nordwärts ausgreifenden Stadt Frankfurt am Main. Schon im frühen 19. Jahrhundert erinnerte nichts mehr an die ursprüngliche Wehrhaftigkeit der Anlage. Alles Vorzügliche oder auch nur Bemerkenswerte wurde ihr immer weiter weggenommen, bis zu dem Tag, an dem auch das Eul als Namensvorteil und Hinweis auf einen alemannischen Landstrich wegfiel. Übrig blieb ein allseits bekannter Kasten mit schrumpeligen Anbauten, geradezu explizit nebensächlich, für manches im Jetzt dieser Geschichte abgestorbenes Handwerk. Übrig blieb eine Gaststätte und hinzu kam ein Kabarett, das vom Norbert Nasenschweiß vor der Jahrtausendwende im träumenden Tanzsaal gegründete Gernegroß.

Hello again an einem Herbsttag, der für Britta übel anfängt. Viel zu viel Milch war in dem Milchkaffee, den Hans Bornemann persönlich geschäumt hat, weil die Frühschicht zu spät. Schon wieder, muss man sagen, noch verquollen vom letzten Feierabend, der vorhin erst zu Ende gegangen war. Das lief auf die Vorformulierung einer Kündigung hinaus, in aller vorsichtiger Vorläufigkeit. Bornemann trägt einen Panther verblichen auf dem Arm. Britta hatte noch einen Blick in die taz geworfen, bald wird sie vierunddreißig sein. Der Blick gleitet ab auf die Hände. Marktfrauen greifen mit so was ins Gemüse. Hannes findet die Hände gichtig in seiner Garstigkeit. Er sprach sie mit Klauen an beim letzten Zusammenbinden. Wenigstens hat er mehr Fantasie als Mogli, der Schneehase für Zwischendurch. Auch Texas war kein Einfallsreicher. Verdammt noch mal, an den sollte nicht gedacht werden.

Britta proletarisiert sich selbst. Das wissen nun alle, die im Nordend von Gestern sind. Das alte Betriebsfleisch, die Erben und Professoren und die vor der Rente stehenden Angestellten in ihren besten Jahren. Ihre eigene Verdrängung nehmen sie kaum wahr. Die Abwärtsbewegungen in der Nachbarschaft haben aber ihre Genauigkeit.

Britta schaufelt wieder Äpfel in die Bütte. Dieses Jahr sind das hartherzige Früchtchen. Die Mühle zerlegt sie seufzend. In dem Geruch der Maische ploppt schon die Hefe. Schon lange kommen keine Leute mehr, um Süßen direkt aus der Kelter zu holen. Selbst für Folklore taugen die Prozesse der Apfelweingewinnung nicht mehr. Die Hände schwitzen in den Haushaltshandschuhen, dem Kollegen Mandelstam kommt der Schwung abhanden. Mandelstam ist Geburtsfrankfurter und stolz darauf. Er fühlt sich dem König verwandt. Diese Illusion deutet Tanja als Herkunftsprodukt aus heimischer Fantasie. Besessen und vernagelt erscheint der Norddeutschen die Frankfurter Eigenliebe.

Mandelstam keltert zum ersten Mal, obwohl er schon zehn Jahre im Dienst der Burg steht. Er weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber Britta weiß das … aus Erfahrung, und der König weiß es auch aus Instinkt.

Die Verachtung schoss mit der Muttermilch auf das weiche Ziel des Säuglings. Sie wohnte mit den Leuten zusammen wie der Schwamm im Gebälk. Sie saß fest im Sattel der Verhältnisse, die ganz natürlich nach Gärung rochen und nach Fremden, die sich willkommener fühlen sollten als der Sohn. Den Fremden wurde in der Burg eine Unbefangenheit empfohlen, die sich Michael Wundersamen nicht leisten konnte. Die Fallen der Verachtung waren zahlreicher als die Mausefallen in der Burg. Kein Wort davon vor den Gästen. Die Großeltern fielen geradezu einvernehmlich im Kampf ums gastronomische Dasein, bevor Michael alt genug für die Einschulung und eine abkürzende Amerikanisierung seines Namens war. Mit ihnen verabschiedete sich ein mildes Element. Etwas Mäßigendes. Der Vater fand an seiner Arbeit keinen Gefallen, er verrichtete sie wie einen Frondienst. In seinen öffentlichen Stunden verbarg er sich in dem alten Militärmantel Jovialität. Er musste seine Gäste heimlich verachten, das war nicht einfach. Für sein Amt war er bei Weiten zu ungesellig. Er warf sich vor, einen Versager gezeugt zu haben. Er forderte auch von seiner Frau einen hohen Preis für den geheirateten Wohlstand. Kein Kellner blieb bei ihm. Sein Zustand war die Erbitterung.

Der König isst mit seinen Knechten am Stammtisch Rippchen an Kraut zu Mittag. Er schmatzt vor Behagen und Unachtsamkeit. Er hat ein Alkoholverbot ausgesprochen, deshalb trinkt Mandelstam Malzbier. Es steckt Entmündigung darin, der Geschmack eines fremden Willens, der beherzt aufreitet und im Augenblick alle Unterschiede aufhebt im Verhältnis der Nachrangigen. Für Mandelstam ist das die größere Ungerechtigkeit. Er zählt sich zu den Vorgesetzten. Zu seiner Legende gehört die Geschichte von der knapp verpassten Geschäftsführerschaft. Auch das weiß Britta bereits besser. Mandelstam war nie als Geschäftsführer vorgesehen. Er ist ein Knapp-vorbei-Mann bei allen Hauptrollen, die im alten Nordend zu vergeben waren. Alt in der Perspektive von Vierzigjährigen. Die Vergangenheitsform wirkt sich wie Zement aus. In der Gegenwart dieser Geschichte sind alle Verfehlungen endgültig. Die Putzfrau maust vorbei, der alte Mann wirft Last ab. Er äugt zu Britta, die Texas ignoriert. Texas hantiert am Burgbuffet, der „Kommandobrücke“. Buffet sagt der Hesse zum Tresen. Von da hat man „die Welt“ im Blick. Wer mehr für möglich hält, ist ein Spinner. Wahlweise eine Spinnerin, kurz Schlampe. Grundsätzlich sind alle Frauen Schlampen, die für ihren Lebensunterhalt so arbeiten müssen wie Britta und die slowenische Reinigungsperson.

Über der Burg zieht sich der Himmel spastisch zusammen. Der König spricht mit Mandelstam über Kühlschränke, der Sonnenuntergang des Abendlandes ist beschlossene Sache im Fleischwolf des gesunden Volksempfindens. Britta verdrückt sich in ihre Innenwelt. Ihre Innenwelt hat sich den Begebenheiten in der Burg angepasst. Sie sieht genauso aus, besteht also aus einem Schankraum und einem Saal für Kokolores. Sie besteht aus Gängen, Zufahrten, Randzonen, Abstellkammern, Kühltruhen und Katakomben. Jetzt möchte Britta zurück zu den ungarischen Äpfeln, die nach hessischer Landschaft duften, so abgerundet und weich gezeichnet wie die Wetterau.

2 Kommentare

  1. Hier schäumt die frühkindliche Fantasie auf mit einer zunehmend spannungsvollen Sprachpraxis… Bei Laktoseintoleranz und dem Gefühl von Apfelweingärung im Magen verspüre ich: Da entsteht etwas Originelles, das in drastischer und fantastischer Körperlichkeit gekeltert wird. Das geht einem durch und durch. Ein ganzes Archiv wird da aufgeschlagen. Tonwechsel. Hier und da Übersprungenes. History-Crossing. Einziger Kritikpunkt: Ich wünschte, das Archiv hätte sich in 4-6 Einzeltexte gegliedert – Themen und lebendige Erfahrung hat es in Fülle. Und bitte die Schrift noch verkleinern. Eine herzhafte Wochenlektüre.

  2. „Königlicher Dünnschiss bekäme jederzeit eine Audienz in den gediegenen Verhältnissen des ersten Stocks.“

    Klasse. Echter kleistscher Humor! Aber die echten feinen Leute ziehen in den zweiten Stock, weil dort die Luft noch reiner ist.

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