Plädoyer für Marlen

Es gibt magische Verbindungen zwischen einem Buch und seinem Leser – wie es magische Verbindungen zwischen zwei Menschen gibt. Das trifft, wenn wir Glück haben, ein bis zweimal im Leben wirklich zu, dann aber mit einer körperlichen Wucht, die den Alltag aus den Angeln hebt. Und alles verändert.

Die erste Verbindung der magischen Art hatte ich im Alter von zwölf Jahren, als ich in das Buch „Wer die Nachtigall stört“ eintauchte. Sofort fühlte mich in eine vertraute Welt katapultiert, ich verhielt mich wie Scout, das Mädchen, und ich liebte Atticus, ihren strengen, aber gerechten Vater. Die Schilderung der rassistischen und zugleich menschlichen Verhältnisse in einer Kleinstadt in Alabama bei sengender Sommerhitze änderte mein Weltbild und war eine Art Initation in die Erwachsenenliteratur. Ich hatte keine Zweifel. Nur Glücksmomente. Dass es das einzige Werk von Harper Lee blieb, wusste ich damals noch nicht. Dreißig Jahre sollte es dauern, bis ich diese archetypische Erfahrung wieder machen durfte. Nur war sie nicht mehr so unberührt, etliche Lese-und Lebenserfahrungen – schöne, verführerische, quälerische – lagen dazwischen.

Eine Begegnung in der Schweiz setzte mich auf die Fährte von Marlen Haushofer. Mir war bekannt, worum es in der „Wand“ geht, aber erst das Wortfürwortlesen macht es so ungeheuerlich, so ansteckend, so leuchtend. Zunächst war ich irritiert von der unterkühlten Aufrichtigkeit und überrascht von der Einfachheit der Geschichte, die mit dem geringsten Aufwand an Handlung und Personal, ganz ohne Spektakel auskommt: Eine namenlose Frau überlebt allein in einer Hütte in den Bergen, eingeschlossen von einer unüberwindbaren gläsernen Wand, hinter der es kein Überleben gibt. Es gibt also keine Menschen mehr. Das schlimmstmögliche Szenario ist über Nacht eingetreten. Keiner weiß wodurch, keiner weiß warum und wie es zur Katastrophe kam. Nur mit sich allein, einer Kuh, einem Hund und einer Katze muss die Frau überleben, sich und die Tiere versorgen. Der Archetyp des einsamen Jägers, des sich in die Natur zurückziehenden starken Mannes in Gestalt einer Durchschnittsfrau Anfang vierzig, die plötzlich in dieses Schicksal geworfen wird. Um nicht den Verstand zu verlieren, schreibt sie alles nieder in unerbittlicher Selbstbeobachtung. Sie notiert die täglichen Widrigkeiten, die täglichen Verrichtungen, den täglichen banalen Wahnsinn, der Überleben zu jeder Tages und Jahreszeit bedeutet. Holz hacken, Erdäpfel jäten, Wiese mähen, Acker umstechen, Stall bauen, das Butterfass auf die Almhütte bringen und so weiter.

So schreibt sie die Wahrheit, da niemand mehr auf der Welt ist, dem sie etwas vorlügen müsste. Ihre Einsamkeit, ihr Erinnern dringen in mich ein. Und die schleichenden Fragen wie: Was lässt uns überleben, wenn wir einsam sind? Existieren wir ganz ohne Sprache? Was nutzt unsere kleine Kultiviertheit zurückgeworfen auf uns selbst? Was ist das Menschliche und wozu machen wir vergebliche Dinge? Kein Wunder geschieht, kein Pathos ist nötig in diesem Protokoll voll unaufdringlicher, fast absurder Wahrhaftigkeit. Ganz am Schluss kommt doch noch – überflüssigerweise – ein Eindringling ins Spiel, ein fremder Mann, den die Frau erschießt, nachdem er den geliebten Hund mit dem Beil erschlägt.

Die Distanz zwischen Marlen und mir ist aufgehoben. Ich übertreibe nicht, wenn ich bekenne, dass „Die Wand“ und Deine anderen Bücher unvergesslich sind. Ich sehe meine kleine Tochter anders und meine Katze, auch meinen Freund. Ihm erzähle ich mitunter von männlicher und weiblicher Moral. Sogar die Arbeiten im Haushalt übe ich ein wenig mit deiner Demut. Inzwischen kenne ich jedes mir zugängliche Detail Deiner Biografie. Wie ein Stalker fühle ich nach, was Du dachtest als Du aus dem Fenster sahst und unruhig im Garten hin und her liefst. Ich forsche zwischen deinen Buchstaben nach nichtgesagtem, nichteingestandenem. Ich bedaure Deine Liebesunfähigkeit, den Stein der Depression in deiner Brust. Um den Hals die gewöhnliche Fassade der ordentlichen Hausfrau und Mutter, die ihre Abgründe in aller Verschwiegenheit verbergen muss auf Tausenden von Manuskriptseiten, die immer wieder brennen und brennen.

Ich bin genauso gern allein wie Du, Marlen. Und ich weiß, wie Einsamkeit in Zweisamkeit kränken und krank machen kann. Ich habe eine Ahnung was die hässlichen Wörter Selbstentfremdung und Selbstbestimmung bedeuten. Zum Schreiben habe ich keine Mansarde, sondern ein Wohnzimmer, das geräumig genug ist, um mich abzuschirmen. Allerdings ist es ein Durchgangzimmer und das wird mir auf Dauer vielleicht nicht genügen. Du wolltest frei sein, Marlen, aber warum machst du dich immer so runter? Wir können auch in geordneten Verhältnissen frei sein, uns frei leben, oder nicht. Deine Bescheidenheit rührt mich jedes Mal, wenn ich ihr begegne und befremdet mich zugleich. Die passt nicht zu dem Geschriebenen, das das Ende aller Worte ins Grenzenlose, Unvorstellbare führt. Eine nie enden wollende, magische Geste. Warst Du manchmal verrückt vor Glück, Marlen? Ja, dann bin ich beruhigt. Wir werden die Zukunft nicht mehr los.

unica
Petra Schröck: geb. 1965 in Berlin, Studium Modedesign und Kunstgeschichte, als Autorin und Kuratorin tätig. Künstlerische Leiterin der BrotfabrikGalerie. Seit 2005 Rückkehr in und Experimente mit Sprache. 2010 Erika Mitterer Lyrikpreis (10. Platz), 1. Preis Opennet, Solothurner Literaturtage 2010. Veröffentlichungen in artmagazine, Kunstforum International, Belvedere, Parnass, Eikon, Filmdienst, Lyrik der Gegenwart, Edition Art&Science, 2011, Die Rampe. Hefte für Literatur, 4/2011 u.a.

4 Kommentare

  1. Findet die „Wand“ mehr lesende Frauen als Männer? Seit Jahren verleihe ich das Buch und bekomme es un(gern)gelesen von Männern zurück. Liegt das am „Eindringling“, der hier in dieser gelungenen Laudatio als „überflüssig“ beschrieben wird? Es ist doch bezeichnend, dass nach Monaten des Hoffens, der Niedergeschlagenheit, des sich damit Abfindens und letzlich Einrichtens der Eindringling gewaltvoll rausgedrängt wird. Die Welt bleibt meine.

  2. magische verbindungen. körperliche wucht. krankwerden. nach einem film. wie lächerlich. und nur weil man den zauberspruch nicht kennt, der dieses gut von jenem trennt. reim mich friss oder geh.

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