Wir haben uns in eine Zwickmühle manövriert. Wir behaupten, dass wir aus dem Faschismus gelernt hätten. Damit wiegen wir uns im Recht und vergessen den blinden Fleck, der uns eine wirkliche Erkenntnis und Konsequenz verwehrt. Ich versuche es kurz und in einfachen Worten zu sagen: Wir haben unserer Wirtschaft Regeln gegeben, die zu einer auseinander treibenden Kluft zwischen Reich und Arm führen. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Das ist schon lange so. In der Geschichte hat es hin und wieder Revolten dagegen gegeben – ich erinnere an den deutschen Bauernkrieg, der sich in diesem Jahr zum 500. Mal jährt. Dieses unmittelbare Aufbegehren hat im besten Fall für eine kurze Zeit zu einem sozialen Ausgleich geführt, meistens aber haben die Reichen ihre Schätze schon anderswo gesichert, so dass die Rebellen nicht rankommen. Oder es setzt sich eine andere Gruppe an die Spitze und hortet – wie etwa in Südafrika der Nationalkongress oder der Ortega-Clan in Nicaragua. All diesen vergeblichen Aufständen zur Schaffung von mehr ökonomischer Gleichheit ist gemeinsam, dass sie nicht an die Wurzeln der Ungleichheit gehen. Diese liegen in den Regeln, nach denen wir Zinsen und Steuern erheben. Sie begünstigen diejenigen, die viel haben und halten die kleinen Leute in Not. Natürlich spielen auch Begabungsunterschiede eine Rolle. Doch niemand kann uns weißmachen, dass die Kinder der Reichen mit einem höheren IQ auf die Welt kommen als die Kinder der Armen. Der unverdiente Reichtum, mit dem sie von klein auf umgeben sind und den sie irgendwann erben, hilft ihnen, ihre (in der Regel auch nur mittelmäßige) Begabung zu entfalten. Tatsächlich sichern die Regeln unseres Wirtschaftens die Aufrechterhaltung der sozialen Unterschiede und verschärfen sie mit mathematisch anmutender Präzision. Der Zusammenhang ist nicht linear, sondern exponentiell. Das heißt, in den ersten Jahrzehnten nach dem Kriegsende – für viele Menschen (nicht alle) war das wirtschaftlich gesehen die Stunde Null – hatte der Glaube an realistische Aufstiegschancen noch Substanz. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnete sich nur langsam und viele konnten in den Mittelstand aufsteigen.
Nun aber sind wir schon seit mindestens dreißig Jahren auf dem steil ansteigenden Ast der rasant wachsenden ökonomischen Ungleichheit. Immer weniger Menschen verfügen über fast alle Produktionsmittel auf diesem Planeten. Die Hauptursache für die exponentielle Zunahme der Ungleichheit ist der Zinseszins – dessen religiöse Ächtung etwa vor 500 Jahren – Zufall? – in Europa aufgehoben wurde. Der Wegfall des Zinseszinsverbotes fiel mit dem Beginn des neuzeitlichen Kapitalismus zusammen, der die freie Marktwirtschaft erst durch Akkumulation und Konzentration von Kapital, später durch Monopolbildung und Verquickung von Monopolmacht mit der staatlichen Verwaltung zu Supermonopolen kannibalisierte: das Kapital hat den Markt aufgefressen, die Voraussetzungen für den fairen Wettbewerb um beste Ideen und Lösungen beseitigt, damit Besitzstände gewahrt bleiben. Im Grunde handelt es sich um die ewige Wiederkehr feudaler Strukturen. Daran können die Kartellbehörden herzlich wenig ändern. Sie bewirken hier und da die Zerschlagung eines Supermonopols, das sich dann an anderer Stelle neu firmiert. Vielmehr wäre es notwendig, an die Wurzeln der Ungleichheit zu gehen, d.h. die Regeln unseren Wirtschaftens von der Profitmaximierung auf Daseinsvorsorge, Gemeinwohl und die Erhaltung gleicher Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt auszurichten. Im Wesentlichen sind dazu vier Maßnahmen notwendig:
1. Das Verbot und die Abschaffung des Zinseszins‘ – hier sind die muslimischen Banken ein Vorbild, sie haben im Unterschied zu dem anderen beiden monotheistischen Religionen am Wucherverbot festgehalten – hier können wir lernen, wie Bankwirtschaft ohne Zinseszins funktioniert.
2. Die Vergesellschaftung von Grund und Boden sowie allen Naturressourcen, die sich darin und darüber befinden (Wasser, Luft, Erze, Öle, Metalle), eine Erweiterung der Bodenreform, wie sie Silvio Gesell vorschwebte – privatisiert in Gewinn verwandelt werden, dürfen nur nachwachsende Produkte, als landwirtschaftliche Erzeugnisse – alles andere steht der Gemeinschaft zur Verfügung. Wir sehen an der Volksrepublik China, zu welcher Effizienz die Vergesellschaftung des Grund und Bodens führt: Verkehrswege und Trassen können zügig und zum Gelände passend geplant und projektiert werden, ohne übermäßige Rücksicht auf mittelalterliche Grundstücksgrenzen nehmen zu müssen. So baut man zum Beispiel Magnetschwebebahnen… Die bisherigen Nutzer des Grund und Bodens sollen nicht enteignet oder liquidiert werden wie im „Sozialismus“ Stalinscher Prägung, der in Wirklichkeit kein Sozialismus war, sondern Staatsterrorismus der übelsten Sorte. Die bisherigen Nutzer pachten das Land für ihr Haus oder ihr Feld oder ihre Kohlegrube und werden je nach Nutzungsform unterschiedlich besteuert: die Pacht für selbstgenutzte Wohnhäuser ist am geringsten, die Pacht zur Ausbeutung von Naturschätzen am höchsten. Wenn die Gemeinschaft den Grund und Boden benötigt, z.B. für Infrastruktur, kann der Pachtvertrag aufgelöst werden gegen eine Existenz erhaltende Entschädigung, nicht aber gegen eine Wuchergebühr, wie sie gegenwärtig etwa von Landbesitzern in Windeignungsgebieten verlangt wird und zur Folge hat, das Windstrom niemals billig werden kann.
3. Eine progrediente Erbschaftssteuer, die exponentiell mit dem Vermögen wächst und dafür sorgt, dass die Nachkommen der Reichen wie die Mehrheit der Gesellschaft einer Erwerbsarbeit nachgehen müssen und nicht nur vom Erbzins in Luxus leben können.
4. Die Hüter der Wettbewerbsregeln sind ermächtigt und verpflichtet, zwischen Anbietern einer Marktinfrastruktur und Marktteilnehmern strikt zu trennen und hier konsequente Zerschlagungen vorzunehmen. Das Gegenbeispiel liefert heute Amazon: Diese Firma stellt eine Marktinfrastruktur zur Verfügung, nämlich ihren sogenannten „Marketplace“, agiert zugleich jedoch selbst als Marktteilnehmer. Dazu nutzt es seine Einblicke in gut laufende Geschäfte, um deren Geschäftsidee zu klauen und zu kopieren (sogenannte „Amazon Basic“-Produkte) und die ursprünglichen Unternehmer zur Geschäftsaufgabe zu zwingen – diese Art des Wirtschaftens ist tödlich für einen echten, d.h. fairen Markt.
Diese Konsequenzen aus der seit 500 andauernden kapitalistischen Wirtschaftsmisere, die uns mit atemberaubender Beschleunigung technische Fortschritte gebracht und zugleich dem Abgrund der Selbstvernichtung genähert hat, sind rein wirtschaftlicher Natur. Ich sprach eingangs jedoch von einer Doppelzange. Tatsächlich sind die unfairen Regeln unseres Wirtschaftens nur die halbe Wahrheit, wenn es darum geht, die Spaltung in unserer Gesellschaft zu verstehen und zu erklären. Die andere Hälfte der Wahrheit ist in den Regeln unserer „demokratischen“ Zuweisung von politischer Macht zu finden.
Dass wir Regeln für unser Wirtschaftssystem aufgestellt haben, die die soziale Ungleichheit verschärfen und in schöner Regelmäßigkeit zu sozialen Unruhen, Massenstreiks, Krieg und Revolutionen führen, ist bereits schlimm genug. Es handelt sich übrigens um eine historisch gesehen junge Entwicklung, die erst seit etwa 500 Jahren in den Zustand der Entfesselung übergegangen ist. Doch damit ist es nicht genug. Als Katalysator für die permanente Polarisierung der Gesellschaft kommen die Spielregeln unserer sogenannten repräsentativen Demokratie hinzu, die eben nicht, wie der Name vorgaukelt, zu einer Repräsentanz der maßgeblichen Interessensgruppen der Bevölkerung beiträgt. Dabei sind die Formen der westlichen „Demokratien“ durchaus verschieden: In den englischsprachigen Ländern herrscht das Prinzip „the winner takes it all“ – das heißt, ein marginaler Stimmenvorsprung führt zum Gewinn der absoluten Mehrheit. Die britischen und amerikanischen Parlamente spiegeln nicht die realen Mehrheitsverhältnisse wider, sondern verstärken minimale Unterschiede in den Wahlbezirken, woraus letztlich eine Mehrheit auf Grundlage willkürlich zusammengewürfelter Abgeordneter resultiert. In Frankreich müssen die Bewerber, die im ersten Wahlgang – und das ist üblicherweise der Fall – keine absolute Mehrheit erlangen, in einen zweiten Wahlgang gehen. Bei der letzten Wahl ergab sich im ersten Wahlgang eine Mehrheit der rechten Parteien, im zweiten Wahlgang durch taktische Koalitionen eine linke Mehrheit. Der Präsident beauftragte jedoch rechte Vertreter mit der Regierungsbildung. Als außenstehender Beobachter fragt man sich, wozu die Franzosen dann überhaupt wählen, wenn der Präsident offenbar Befugnisse hat wie Ludwig XIV. Innerhalb von zwei Monaten wurden drei auf diese Weise von oben ernannten Ministerpräsidenten das Misstrauen ausgesprochen – wen wunderts.
Und Deutschland? Deutschland glaubt, es habe aus den Systemfehlern und Schwächen der Weimarer Republik gelernt. 5%-Hürde, zwei Kammern (Bundestag, Bundesrat), Verfassungsgericht, und ein Präsident, der normalerweise Sonntagsreden hält, im Krisenfall jedoch die demokratischen Abläufe bei vorgezogenen Neuwahlen überwacht. Soweit so gut. Tatsächlich hat sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine komplizierte Version des Mehrheitswahlrechts gegeben, nach der Direktstimmen und Listenplätze kombiniert werden. Die Komplikationen, die diese Vermischung nach sich zieht, haben zu einem fortlaufenden Aufblähen des Parlaments geführt, die Zahl der Sitze im Bundestag ist ständig gestiegen. Die jüngste Wahlrechtsreform hat diesem Anwachsen halbherzig Einhalt geboten, indem die Direktstimmen auf den Prozentsatz der Listenplätze zurückgestutzt werden. Damit wird das eigentliche Problem jedoch nur verschleiert: Die Regierung kann von Parteien gebildet werden, die jeweils nur eine winzige Minderheit der Interessensgruppen in der Bevölkerung vertreten, wie z.B. die FDP oder die Grünen – es ist in keiner Weise gewährleistet, dass sie das Resultat einer repräsentativen Demokratie darstellt. In Westdeutschland hat die Regierung vor dem Mauerfall halbwegs und mehr oder weniger zufällig die vorhandenen Interessensgruppen repräsentiert, als sich im Wesentlichen noch die Volksparteien CDU/CSU und SPD an der Macht abwechselten. Doch das Zünglein an der Waage waren in der Regel Kleinstparteien oder Splittergruppen. Die meisten Deutschen verbuchen das unter „Koalitionsfreiheit“ und halten es für normal. Mit „repräsentativer Demokratie“ hat sie aber nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil.
Deutschland droht nach der kommenden Wahl in einen Zustand der Unregierbarkeit zu fallen. Freiwillige Koalitionstabus mit AfD, Linkspartei, Grünen und BSW haben den Spielraum der verbleibenden Parteien nahezu auf Null reduziert. Theoretisch kann nur noch eine Koalition von CDU/CSU und SPD herauskommen – stellt sich die Frage, wozu dann überhaupt noch eine Wahl erforderlich ist. Kann man sich eigentlich sparen. Aber wehe! Was passiert, wenn die ehemaligen „Volksparteien“ zusammen keine Mehrheit mehr erreichen? Dann werden, als hätte es sie nie gegeben, die jahrelangen Beteuerungen, nicht mit dieser oder jener Partei zu koalieren, niemals!, pragmatisch fallengelassen. Irgendeine Splitterpartei wird wieder das Zünglein an der Waage spielen und der Mehrheit ihre abseitigen Pläne aufdrücken dürfen. Die Interessengruppen in der Bevölkerung aber werden noch weniger vertreten sein. Es wundert nicht, dass solche Spielregeln zum Verdruss führen. Wähler, die noch bei Verstand sind, müssen sich veralbert fühlen. Schwerer wiegt jedoch, dass diese halbdemokratischen Spielregeln die ökonomisch angelegte Spaltung der Gesellschaft vertiefen, verschärfen, mit Hass und Verleumdung aufladen. Wir haben es mit einem doppelten Zangengriff zu tun: Sowohl durch die Kluft zwischen Arm und Reich als auch die willkürliche Ausgrenzung großer Interessensgruppen der Bevölkerung wächst die Polarisierung – bis es knallt.
Sind wir gegenwärtig bereits am Ende der Evolution? Hat die demokratische Kultur ihren Zenit erreicht? Folgen nun unausweichlich Barbarei oder Untergang? Mitnichten. Diejenigen, die sich für den Höhepunkt halten, für die progressive Norm oder die „demokratische Mitte“, verkennen, dass sie auch nur Teilchen im Strom der Zeit sind, dass auch sie nur eine Phase ausdrücken, die – wie alles – vorübergehen wird.
Tatsächlich kennen wir mitten in Europa, an seinen geographisch höchst gelegenen Orten eine Insel, besser gesagt, eine große, mehr oder weniger abgeschiedene Berggegend, in der seit 500 Jahren nicht nur Frieden herrscht. Napoleon, Wilhelm II. und Hitler haben um sie einen Bogen geschlagen. In dieser Gegend herrscht nicht nur wenig Armut, sie ist vielmehr für ihren Reichtum berühmt. Vor allem aber hat sie eine Form der Demokratie hervorgebracht hat, die stabil, unaufgeregt, ja geradezu langweilig die realen Mehrheitsverhältnisse der Interessengruppen in der Bevölkerung repräsentiert. Sie haben es bereits erraten: Ich meine die Schweiz.
Und wenn ich die Schweiz als unübertroffene Species der demokratischen Artenvielfalt erwähne, dann meine ich nicht in erster Linie die basisdemokratischen Elemente, so oft wie möglich die Bevölkerung selbst zu fragen und entscheiden zu lassen, wie viele Steuern sie zu zahlen bereit ist und welche Leistungen dafür vom Staat zu gewährleisten sind und was in privater Verantwortung bleibt, wer ins Land als Staatsbürger aufgenommen wird und wer nicht. Basisdemokratie ist wichtig, sie führt zu Anpassungen und auch zu Verschiebungen, die der jeweiligen Zeit oder dem Zeitgeschmack entsprechen. Aber sie ist nicht vor Auswüchsen gefeit, nicht vor Manipulation oder Extremismus – die Basisdemokratie allein garantiert keine gesellschaftliche Stabilität und keinen sozialen Frieden. Das Kernelement des Schweizer politischen Systems ist das Konkordanzprinzip der demokratischen Machtzuteilung. Nehmen wir die Bundesebene. Hier gibt es nur acht Ministerien – schon diese geringe Zahl ist eine Glanzleistung, um den Staat und die Staatsausgaben zu beschränken. Sie hat unweigerlich ein Weniger an Bürokratie zur Folge, denn acht Ministerien erarbeiten naturgemäß weniger Vorschriften und Gesetzesvorlagen als beispielsweise 27 wie in Deutschland mit seinem Heer an Staatssekretären und Ministerialdirigenten. Der Dreh- und Angelpunkt in der Schweiz ist, dass diese acht Ministerposten (Nationalräte) unter den vier stärksten Parteien aufgeteilt werden müssen. Im Durchschnitt bekommt jede Partei also zwei Ministerien. Wenn die Unterschiede im Stimmenanteil bei der Wahl groß sind, kann es vorkommen, dass mal eine Partei drei, die kleinste der vier großen nur einen Posten bekommt. Aber niemals kann es passieren, dass eine Partei die Alleinherrschaft übernimmt, sprich eine Diktatur errichtet. Alle wesentlichen Interessensgruppen der Bevölkerung sind in der Regierung vertreten. Auch die sogenannten Rechten, auch die „Schmuddelkinder“. Sie bilden sogar oft die Mehrheit. Aber sie können nie alleine bestimmen, sondern müssen die Macht mit den Minderheiten und Splittergruppen teilen, die sich selbst für besonders fortschrittlich halten, also mit abgespreiztem kleinen Finger an der Kaffeetasse für Gerechtigkeit oder Klima einsetzen…
Merkt ihr was? Die Aufregung um einstürzende Brandmauern ist bei Verstand gesehen nichts als Hysterie. Die Schweizer Konkordanzdemokratie kennt keine Koalitionsfreiheit, sondern einen Koalitionszwang – die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen politischen Gruppierungen müssen miteinander in der Regierung auskommen, auch wenn sie sich nicht riechen können. Dieser Zwang auf der höchsten Ebene gewährleistet die Freiheit der Bürger. So wird ein Schuh draus. Das Errichten von Brandmauern dagegen führt dazu, dass wir am Ende alle eingemauert sind und von beiden Seiten Feuer gelegt wird – es ist eine brandgefährliche Illusion, ein mittelalterliches Denken, wir könnten uns in einer „demokratischen Festung“ verschanzen.
Freiheit macht Arbeit, sagte ein Künstler einmal, der mit seinen Projekten in Jugendklubs ging statt über ihr abweichendes Verhalten zu klagen. Nun möchte ich die Schweiz nicht idealisieren: Sie hat, wie kein anderes Land auf diesem Planeten die Demokratie in Spielregeln des politischen Systems umgesetzt, um die realen Interessen der Bevölkerung zu repräsentieren. Sie hat seit 500 Jahren Frieden, Chapeau! Aber die Regeln, die zur ökonomischen Ungleichheit führen, den Zinseszins und die Trennung der Gewährleister marktwirtschaftlicher Infrastruktur von Marktteilnehmern hat auch die Schweiz bisher nicht verwirklicht.
Wenigstens ist eine der wirksamsten finanzpolitischen Ideen, um die exponentiellen Krisen des Kapitalismus zu glätten, in Dornach ausgedacht worden. Es war der selbsternannte Prophet Rudolf Steiner*, der in Anlehnung an Pierre-Joseph Proudhon vorschlug, den Geldscheinen ein Verfallsdatum aufzudrucken. Damit würde Geld seinen vermeintlichen Ewigkeitscharakter verlieren und wie andere Waren mit der Zeit verschleißen. Es lohnt
Doch auch in der Schweiz ist es schwierig, für diese uns langfristig rettende Idee des alternden Geldes (Silvio Gesell: „Freigeld“ oder „umlaufgesichertes Geld“, Otto Heyn: „Schwundgeld“, Volksmund: „Stempelgeld“) kurzfristig eine Mehrheit in Volksbefragungen zu erzielen. Doch es war kein Geringerer als John Maynard Keynes**, der darin einen gesunden Gedanken erkannte: „Nehmen wir an, es werde »alterndes Geld« eingeführt. Dann geraten alle, die Geld in der Kasse haben und es um der Zinsen willen anlegen wollen, unter den sanften Kostendruck der mit dem Geld auch verbundenen Kosten. Und genau in dem Umfang, wie sie selbst unter Kostendruck geraten, schwindet ihre Macht auf dem Geld- und Kapitalmarkt und wächst die Unabhängigkeit der anderen von ihnen. Mit den Liquiditätskosten schwindet die Macht, die die Halter von vollen Kassen über die Halter von leeren Kassen ausüben können. Es schwindet aber auch der übermäßige Rentabilitätsdruck überhaupt, der auf Unternehmern unabhängig davon ruht, ob sie mit Fremdkapital oder mit Eigenkapital arbeiten.“ (Dieter Suhr)***
Diesem Zitat ist nichts hinzuzufügen.
* Rudolf Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit – in geänderter Zeitlage. Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach und Bern vom 29. November bis 21. Dezember 1918, (Gesamtausgabe Bd. 186, Dornach, 1979); Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage – in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft (Gesamtausgabe Bd. 23, Dornach, 1961)
** John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Aus dem Englischen von Fritz Waeger, Berlin 1994 (unveränderte 7. Auflage der Erstauflage von 1936), S. 298–302
*** Dieter Suhr, Alterndes Geld – Das Konzept Rudolf Steiners aus geldtheoretischer Sicht, Neukirchen: Novalis 1988