Kletterübung

Die krone des baumes war fast erreicht, ich kletterte weiter. Ohne eine genaue vorstellung davon zu haben, was mich da oben erwartete. Marsha saß in der küche und schaute mir zu. Sie hatte gerade das fenster geschlossen und den vorhang beiseite geschoben, immer kleiner wurde sie jetzt. Die perspektive von so hoch oben ließ sie mir plötzlich fremd erscheinen. Noch nie zuvor hatte ich die linie ihres scheitels betrachtet, der das kastanienbraune haar in zwei hälften teilte. Der latz der schürze wölbte sich über ihrer brust, schon längst hatte ich keinen festen halt mehr. Ich schwankte, wie die äste des baumes schwankten, ich schwebte, wie die blätter schwebten. Nur noch das surren der insekten und das brummen der bienen begleiteten mich.

Marsha nahm den kuchen aus dem backofen, sie drehte mir jetzt den rücken zu. Während sie sich vorn über beugte, gab das herab fallende haar die weiße haut ihres nackens frei. Deutlich der flaum am haaransatz, ich stieg immer höher. Leicht wie eine feder fühlte ich mich auf einmal und frei wie das licht zwischen himmel und erde.

Zwei tage zuvor hatte ich Marsha das erste mal berührt, heimlich, während sie im schatten der großen eiche eingeschlafen war. Ganz vorsichtig hatte ich die außenseite meines zeigefingers an ihre schläfe gelegt, ganz nah war mein mund ihrer wange gekommen. Dicht über ihrer haut hatte ich meinen eigenen atem gespürt und ihn dann angehalten, um mich nicht zu verraten.

Marsha ging aus dem zimmer und ließ die tür halb offen stehen. Der himmel über mir begann sich zu drehen, schon ganz klein waren die vögel unter mir.
Marsha badete im fluss. Ihr nackter körper tauchte in das wasser, in dem sich das grün des waldes spiegelte. Ich war jetzt allein hier oben.

Marsha lief den feldweg zurück zum hof, ihr rock streifte den boden. Sie lief immer schneller, dass es staubte.

Marsha liegt auf dem rücken im gras, ich erkenne sie nur noch als winzigen punkt in einer grünen fläche.
Schon bald werde ich Marsha fragen, ob sie meine frau werden will.

Werner Weimar-Mazur
geb. 1955 in Weimar; aufgewachsen in Karlsruhe; Studium der Geologie; lebt in Waldkirch im Breisgau; schreibt Lyrik und Prosa; Teilnehmer der ersten Lesung des Lyrikpreises München 2013; Haupt-Preisträger des Athmer-Lyrikpreises 2013; Preisträger (Jurypreis) des Hildesheimer Lyrik-Wettbewerbs 2012; Teilnehmer (Endrunde) beim Preis "Irseer Pegasus 2003; Veröffentlichungen (Printmedien): 2012 Lyrikband "hautsterben" in der Reihe Lyrik der Gegenwart, Edition Art Science, Wien und St.Wolfgang / Österreich (ISBN 978-3-902864-11-6); 1995 Lyrikband "Tauch ein - Gedichte 1970-1994" im Waldkircher Verlag, Waldkirch im Breisgau (ISBN 3-87885-301-7); 1995-2013 zahlreiche Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, unter anderem in "Ostragehege", Dresden, "Federwelt", München, "Dichtungsring" Bonn, "Krautgarten, St. Vith / Belgien, "500GRAMM", Bonn, "Inskriptionen", Erata / Leipziger Literaturverlag, "Levure littéraire", "Dulzinea", "Wort_Zone", "Erostepost"; derzeit Arbeit an einem Roman; Mitglied im Literaturforum Südwest e.V. (Literaturbüro Freiburg), in der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V., Weimar, und in der Literarischen Gesellschaft Scheffelbund e.V. Karlsruhe

Ein Kommentar

  1. nicht so schnell!!!! ich bin noch beim genießen vom ersten stück, das mein herz berührt. luft, luft, luft, bitteschön. sonst geht es hier zu wie in der abblende. ’s wär echt schad drum.

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