Nietzsche I.

Derrida nimmt seine Kamera zur Hand und hält sie auf einen Menschen mit Schnauzbart. Er dreht am Objektiv. Näher hätte er diesem Mann nie kommen können, so versteckt hinter der Linse, so stechend dieses dunkle Braun seiner Augen und so tief hinein, bis fast auf den glasklaren Grund seiner Seele.

Dieser braunäugige Mann hieß Nietzsche. Er litt an den allzu feinen Zügen seines Gesichtes. Und an der Angst, die sein tiefen Blick den anderen machte. Und er litt darunter, sich ständig Gedanken zu machen über Gott und die Sehnsucht, über die Lust am Lästern und die Vergeblichkeit des Denkens überhaupt. Er litt halt gerne. Verdammt gerne, wenn er ehrlich hätte sein müssen, ehrlicher als er es ohnehin schon war.

Also konnte Derrida ihm nur mit einer Kamera nahe kommen. Sie liebten sich eh schon lange, auch wenn Nietzsche noch nichts davon wusste. Vielleicht wollte er auch nichts davon wissen. Das aber spielte keine wesentliche Rolle. Jemanden nicht vereinnahmen wollen und dennoch ganz nahe bei ihm zu sein, ihn nehmen zu wollen und doch ganz bei sich zu lassen, sich gehen zu lassen: bei sich haben und verausgaben in einem – das ist seine Vorstellung von Liebe, also unmöglich?

Das Anderssein des Anderen zu achten. Eine Aufforderung, die befreit. Nähe und Distanz zugleich! Es entsteht ein Rhythmus, der belebt.

Derrida nimmt sich zu Herzen, was Nietzsche, im „Gewissen“ seiner „Metho­de“, die nie eine festgelegte, sondern immer eine aus der jeweiligen Situation sich ergebende Methode ist, ohne dass sie beliebig und damit unkommunikativ wird, gefordert hat: „dem Menschen seinen All­gemeincharakter immer mehr zu nehmen und ihn zu spezialisiren, bis zu einem Grade unverständlicher für die Anderen zu machen (und damit zu einem Gegenstand der Erleb­nisse, des Staunens, der Belehrung für sie)“[1]. Kurz gesagt, sieht Derrida durch seine Linse einen Nietzsche, der auf einzigartige und einsame Weise die Ästhetik des Blicks mit der Ethik des Gewissens verbindet.

Warum aber spricht er ihn mit „Frau (bei) Nietzsche“ an?

Will Derrida seine Ehrfurcht vor ihm verbrämen, um die eingefahrene Situation aufzulockern? Oder will er Nietzsche provozieren, um ihn so zu einem gewöhnlichen Menschen zu machen? Sicherlich stimmt von allem etwas. Wir wollen uns hier nun beruhigen, indem wir Kant mit seinem buckligen Rückgrad ans Ufer rudern lassen und sagen hören, dass wir alles behaupten können, nur nicht, dass wir etwas wissen, vor allem nicht über die menschliche Seele und die Motive und Beweggründe des Handelns. Er, Kant, war ja ansonsten ein freundlicher Einzelgänger, und auch die auffallend enge Bindung zu seinem Pudel stieß auf einvernehmliches Achselzucken, aber in einer Sache ließ er nicht mit sich spaßen; da konnte er grantig und unangenehm werden so unangenehm, dass man das Zutrauen zu all seinem sonstigen lieblichen Benehmen beinahe gänzlich verlor. Niemand könne je verurteilt werden wegen seiner inneren Motive, allein die veräußerten, also seine Handlungen mögen ins Urteil fallen. So sei ein Urteil mithin nur gesichert, wenn es dem jeweiligen Recht entspreche, oder aber im inneren Dialog mit sich selbst und der Übereinstimmung des Gewissens, ansonsten alles andere zur Krankheit der Seele und damit des Körpers führe. Wie anders als über den Leib könne die Seele derweil sprechen. Oder anders herum: Warum sind so viele Menschen krank?


[1]   Dies ist eine unveröffentlichte Notiz aus Nietzsches Nachlass aus dem Herbst 1880 (Nachgelassene Fragmente; Bd. 9, 6 [158]). – Näheres zum „Gewissen der Methode“ wollte Nietzsche unbedingt in seinem veröffentlichten Buch Jenseits von Gut und Böse sagen (Kap. 5, Aph. 36), was er auch getan hat. 

van hengel
Willi van Hengel: geb. 1963 in Oberbruch, hat Philosophie, Politik und Germanistik in Bonn studiert, Abschlußarbeit über Nietzsche und Derrida, anschließende Dissertation gescheitert, lebt in Berlin. Veröffentlichungen: Lucile (Roman, Berlin 2006), Morbus vitalis (Roman, Schweinfurt 2009), Wunderblöcke (Prosastücke, Schweinfur

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