Echo auf: Das Ende von Eddy

Édouard Louis, Das Ende von Eddy

Mein Vater

Da ist mein Vater. Als er geboren wurde, 1967, gingen die Frauen des Dorfs noch nicht ins Krankenhaus, sondern entbanden zu Hause. Seine Mutter brachte ihn auf dem völlig verdreckten Sofa zur Welt, es war voller Staub, Hunde- und Katzenhaare und Dreck, wegen der immer schlammigen Schuhe, die niemand auszieht, wenn er das Haus betritt. Im Dorf gibt es natürlich asphaltierte Straßen, aber auch viele Feldwege, die immer noch existieren, wo Kinder spielen, unbetonierte Sand- und Schotterwege an den Feldrändern und Gehwege aus gestampfter Erde, die an Regentagen zu schlammigem Treibsand werden.

Bevor ich zur Mittelschule ging, machte ich mehrmals in der Woche Fahrradtouren auf den Feldwegen. Ich klemmte kleine Stückchen Karton in die Speichen, damit mein Fahrrad klang wie ein Motorrad, wenn ich in die Pedale trat.

Der Vater meines Vaters trank viel, Pastis und Wein aus Fünf-Liter-Kartons, wie die meisten Männer des Dorfs. Sie kaufen das im Lädchen, die außerdem als Kneipe und Tabakwarenladen dient und wo man auch Brot bekommt. Man kann seine Einkäufe dort zu jeder Zeit tätigen und braucht nur bei den Inhabern anzuklopfen. Sie sind immer für einen da.

Sein Vater trank viel, und wenn er betrunken war, schlug er seine Mutter. Plötzlich drehte er sich zu ihr um und fing an, sie zu beschimpfen, bewarf sie mit allem, was ihm in die Finger kam, manchmal sogar mit einem Stuhl, und dann schlug er sie. Mein Vater war noch zu klein und ein schmächtiges Kind, er sah ohnmächtig zu und fing stillschweigend an, ihn zu hassen.

Das alles hat natürlich nicht er mir erzählt. Mein Vater redete nicht, jedenfalls nicht über so etwas. Das tat meine Mutter, ihrer Rolle als Frau entsprechend.

Eines Morgens – mein Vater war fünf Jahre alt – verschwand sein Vater für immer, ohne Vorwarnung. Das hat meine Großmutter mir erzählt, die ebenfalls die Familiengeschichten weitergab (wiederum die Frauenrolle). Sie lachte noch viele Jahre später darüber, glücklich, dass sie dann endlich von ihrem Mann befreit war Eines Tages ist er in die Fabrik auf Arbeit gegangen und nicht zum Abendessen gekommen, wir haben auf ihn gewartet. Er war Fabrikarbeiter, er brachte das Geld nach Hause, und als er verschwand, stand die Familie mittellos da, kaum genug zu essen für sechs, sieben Kinder.

Das hat mein Vater nie vergessen, er sagte, so dass ich es hören konnte Der dreckige Hurensohn hat uns sitzenlassen, meine Mutter, ohne alles, auf den scheiß ich.

Am Tag, als der Vater meines Vaters starb, fünfunddreißig Jahre später, saßen wir im Wohnzimmer, vorm Fernseher, en famille.

Mein Vater wurde von seiner Schwester angerufen, oder aus dem Heim, in dem sein Alter seine letzte Lebenszeit verbrachte. Wer auch immer da anrief, sagte, Dein – Ihr – Vater ist heute früh verstorben, Krebs, aber vor allem eine zerschmetterte Hüfte, nach einem Unfall, die Wunde hat sich entzündet, wir haben alles versucht, aber wir haben ihn nicht retten können. Er war auf einen Baum gestiegen, um Äste zu beschneiden, und hatte den abgesägt, auf dem er selbst saß. Als sie das am Telefon hörten, mussten meine Eltern derart lachen, dass sie eine ganze Weile aus der Puste waren. Den Ast absägen, auf dem er draufsitzt, der Blödmann, das musst du erst mal bringen. Der Unfall, die zerschmetterte Hüfte. Als er das erfuhr, konnte sich mein Vater vor Freude kaum halten (…)

Aus: Édouard Louis, Das Ende von Eddy. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Frankfurt a.M. 2015. 7. Auflage 2019. S. 18f.

Meine Eltern

Mein Vater ist Lotse. Zwei Drittel des Monats verbringt er an Bord. Meine Mutter arbeitete bei der Hafenverwaltung, bevor sie vor zwei Jahren in Ruhestand ging. Der Hafen lag weit weg am Rand der Stadt, sie kam deshalb alle zwei Tage nach Hause und nahm sich dann zwei Tage frei. Das heißt, meine Eltern haben nur ungefähr fünf Tage im Monat, um wirklich miteinander zusammen zu sein, was eigentlich, meiner Meinung nach, das Geheimnis ihrer dauerhaften Ehe ist. Die konzentrierten Streite in diesen fünf Tagen, oder mit ihrem Wort, ihre Art zu kommunizieren, reicht für eine normale Familie das ganze Quartal aus. Noch spannender, sie haben eine kraftvolle Stimme. So ruft mich meine Mutter vom Wohnzimmer aus, als befände ich mich nicht im anderen Zimmer in derselben Wohnung, sondern in einem anderen Berg. Ich habe es gehasst, als Kind mit ihnen zusammen einkaufen zu gehen, denn 90 Prozent würden sie dann im Laden wegen irgendeines Krams anfangen, auf ihre Art zu kommunizieren, und das Zentrum der Aufmerksamkeit sein, wobei ich nur hilflos daneben wartete und hoffte, mich in eine der Erdbeeren im Einkaufswagen verwandeln zu können.

Jetzt muss ich komischerweise an ein Märchen von Oscar Wilde denken. Ein Riese kam bei einem Freund zu Besuch. Nach sieben Jahren hatte er alles gesagt, was er zu sagen hatte, und ging nach Hause. Ich weiß nicht, ob es das Grundprinzip aller Beziehungen ist. Vielleicht löscht die Liebe aus, wenn alles ausgesprochen wird, was man sagen will. Vielleicht sind meine Eltern doch ziemlich glücklich, immer miteinander streiten zu wollen.

Jing Lin

„Oma Darmstadt“

Der tiefe Schmerz, damals, am Ufer des Tejo, nach der Rückkehr aus England. Die sieben Jahre währende Beziehung war am Ende, und ich dachte an die andere Großmutter, Mutter des Vaters, „Oma Darmstadt“, an die ich kaum Erinnerungen hatte, an dieses Fehlende, Ausgesparte, Verbannte, den blinden Fleck in der Familie. „Oma Lene“ sollte bald sterben, sechsundneunzigjährig. Sie war immer Sonne gewesen, Licht, sie hatte gelitten, doch wohlhabend, nicht wie die andere, „Oma Darmstadt“, die sich das Leben genommen hatte (zwanzig Jahre waren vergangen), der finanziellen Hilfe durch ihre Kinder bedürftig, der Vater an erster Stelle. Sie ertrug die Schmerzen nicht mehr, schrieb sie in dem Brief, den sie hinterließ. War es dieser Schmerz, der sich, zwanzig Jahre später, in Lissabon in Erinnerung brachte? Oder war es eine andere Erinnerung? Ich saß am Ufer, im Licht eines zu Ende gehenden Tages, und das Licht traf auf den Schmerz, machte ihn klar und bewußt. Etwas Neues begann. Die Zäsur war da. Mehr wußte ich noch nicht.

Markus Sahr

Brief an die Mutter

Als Kind scheinst du glücklich gewesen. Deine Mutter war immer da, sorgend, fürsorglich, vielleicht nur allzu besorgt, zu ängstlich. Eine starke Frau, emanzipiert für ihre Zeit, doch einsam, seit sie selbst als Kind zu den Großeltern weggegeben und erst später, nach der Geburt der Geschwister, ihrer Stiefgeschwister, wieder zurückgeholt worden war, um der Mutter bei der Erziehung der beiden jüngeren Kinder zu helfen.

Als Mutter hielt sie die Hand über dich, vielleicht eben zu sehr. Doch autoritär war sie nicht. Das besorgte dein Vater.

Das glückliche Kindergesicht, das im Wald zur Mutter aufschaut. Ein Idyll inmitten des Kriegs oder kurz vor dessen Ausbruch. Wie alt warst du auf diesem Bild? Das Licht zwischen den Bäumen, den Stämmen, selbst auf dem alten, leicht vergilbten Schwarzweißfoto wirkt das Licht wie ein Kegel, in dessen Mitte du stehst, neben der Mutter. Du hast die Hände ineinandergelegt, trägst ein helles Kleid, es sieht aus, als hieltest du einen kleinen Strauß Blumen zwischen den Händen, und schaust lächelnd, den Kopf leicht zurückgelehnt, zur Mutter. Sie hat einen Arm gegen den Baum gelegt, der andere fällt locker an ihrer Seite herab. Sie trägt einen breitkrempigen Hut, ein Kleid mit halblangen Ärmeln. Auch sie lächelt, schaut zum Betrachter, dem Fotografen des Bilds, vermutlich, sehr wahrscheinlich, ihrem Mann, deinem Vater. Es könnte ein blaues Kleid sein, es reicht bis zu den Knien, fällt noch darüber. Unter dem Kleid trägt sie dunkle Strümpfe.

1940 hast du auf die Rückseite des Fotos geschrieben, weiter nichts. Es könnte der Gonsenheimer Wald sein, die Bäume stehen dicht, doch lassen sie Platz genug für das einfallende Licht. Es scheint hell ringsum, hohes Gras wächst zwischen den Bäumen, von der Sonne geflutet.

Du bist etwa vier Jahre alt.

Von einem Krieg in Polen, einem Einmarsch in Frankreich weißt du nichts. Nichts davon ist zu ahnen.

Ich war ein Kind während der ersten RAF-Gewalttaten, ich verstand nicht, was ich im Fernsehen sah, zwischen Flipper und Skippy, dem Buschkänguruh, wenn wir zu Filmen und Abendnachrichten zu Tante Anni und Onkel Hans hinaufgingen, in den vierten Stock. Doch ich erinnere mich an deine Stimme, deinen Lynchjustiz fordernden, unnachgiebigen Ton, deinen wie aus einer offenen Muschel aufquellenden Haß. Selbst heute noch meine ich, das Dach oder die Fassade des Frankfurter „Kaufhof“ zu sehen, kalt und in Schwarzweiß, und dazu deine Stimme zu hören, ein wütendes Maschinengewehr, ein Trommelfeuer explodierender, sich überstürzender Silben, die den Tod der Beteiligten fordern, den Strang, ja, ich meine sogar, deine Sätze begannen mit der Vorstellung, was du höchstpersönlich mit ihnen tun würdest.

Alle Verben galten der physischen Vernichtung der Gegner. Das Wort „Bande“ klang aus deinem Mund wie ein Brandschatz. Du kanntest kein Halten.

Vielleicht, denke ich heute, dachtest du dabei an deine eigene Mutter, die selbst in einem „Kaufhof“ arbeitete, wenn auch nicht in Frankfurt. Doch aus deinem Mund kam der Krieg, das Schützenfeuer, fuhren Panzer und detonierten die Bomben.

Du holtest den betrunkenen Vater aus den Kneipen der Nachbarschaft, warst ein junges Mädchen, eine junge Frau schon. Es war die Zeit nach dem Krieg, Anfang der 50er Jahre.

Der Vater war bei der Marine gewesen, in Wilhelmshaven oder Hamburg, er wollte es „den Engländern zeigen“, ein glühender Nazi war er nicht. Die Uniform stand ihm. Ein langer Mantel betonte die äußerlich schlanke Gestalt. Seine Frau, deine Mutter, soll ihm frischen Spargel aus Mainz nach Wilhelmshaven gebracht haben, mit dem Auto, während des Kriegs.

Sein Magen rebellierte, sein Mundwerk war lose, er verlor die Uniform, trug wieder Zivil. Geschehen ist ihm nichts.

Autos gab es am Ende des Kriegs nur noch wenige. Zuvor hatten viele im Hof deiner Eltern gestanden. Das Grundstück, das deine Mutter von ihrer Aussteuer gekauft hatte, unweit des Rheins, mitten in der Stadt, war der Autos wegen umgestaltet worden. Statt eines großen Gartens, wie zuvor, Stellplätze für die Wagen. Dein Vater,  gelernter Mechaniker, fuhr Paare im offenen Wagen zur Kirche, zur Hochzeit. Der Fuhrpark im einstigen Garten – ein Taxiunternehmen. Auch deine Mutter fuhr, stolz auf ihren Führerschein, als noch lange nicht alle Frauen einen solchen besaßen, geschweige denn Auto fuhren.

Es gibt ein Foto von dir, schon als junge Frau, Lehrmädchen in einem Bürobetrieb, da legst du die Hand auf die Klinke eines großen, feudalen Wagens. Alle Lehrmädchen durften das, einzeln, und wurden dabei fotografiert. Der Wagen gehörte einem Vorgesetzten. Die junge Frau, fast ein Mädchen noch, im langen Rock, schüchtern, stolz, die Hand auf der Klinke der Wagentür. Etwa so, wie man Kinder in meiner Generation mit einem Ball in der Hand oder einem Telefonhörer auf einer Decke fotografierte. Autos waren in deinem Leben immer wichtig. Sie waren die neue wie die alte Zeit.

In den Jahren nach dem Krieg, als du deinen Mann kennenlerntest, meinen späteren Vater, da war es die Fahrt nach Italien. Die Fahrt in den Urlaub, nach Rimini oder an die venezianische Küste, zu einer Zeit, da kaum jemand überhaupt daran dachte, mit dem Auto zu verreisen. Oder es sich jedenfalls nicht leisten konnte. Einen Führerschein hattest du nicht. Es war dein späterer Mann, blutjung noch, wie du, der den Führerschein machte und das vom Schwiegervater hergerichtete, geliehene Auto fuhr.

Doch offenbar gab es einen Bruch zwischen dem glücklich erscheinenden Mädchen und der späteren Frau. War es die Heirat mit dem falschen Mann? Das Kind, das du nicht wolltest? Der Verzicht auf die Arbeit, als das Kind in die Schule kam? Das Haus? Das Haus, das ihr gebaut habt und das dich aufs „Land“ verbannte?

Die Spur der Familie führt zurück zum 27. Februar, der Bombennacht, die 1945 nicht nur die Stadt zerstörte, unzählige individuelle Leben und Heime, sondern auch, sichtbar nach Jahren erst, die Identität der Überlebenden. Als sie sich aus den Trümmern befreiten, in notdürftigen Unterkünften die Familie der Mutter, die noch dreizehn Jahre nach dem Krieg in Ruinen lebte, oder in neu gefundenen Häusern, die die Bombennächte einigermaßen unbeschadet überstanden hatten, vollzog sich, unmerklich noch, der Abschied von der alten Stadt, und endgültig begraben wurde diese mit dem Häuserbau der Wunderjahre. Hier kamen die Generationen zusammen, in neu errichteten Mauern, mit den alten Geschichten, ohne Zukunft.

Der Geist blieb dem Alten verhaftet, er entwarf sich nicht, er setzte Grenzen, die verständlich sein mochten von früher her, die jedoch ausschlossen von einer Entwicklung. Es war ein unfruchtbarer Neuanfang, steril und kinderlos, selbst dort, wo es Kinder gab.

Ich sehe uns, dunkel, in einem matt beleuchteten Raum, in einer Ecke der früheren, der ersten Küche in der Neustadt noch, die Decke ist schräg, ein Tisch, eine Bank oder Stühle stehen in dieser Ecke, gedrängt, ich höre deine Stimme, die von Corned Beef spricht, Fleisch aus der Dose, das schmeckt. Die Stimme ist hell, sie bietet das violette, rosafarbene Fleisch an, preist es, offenbar ist es wichtig, der Vater ist anwesend und doch nicht, ich sehe ihn nicht, höre ihn nicht sprechen.

Markus Sahr

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