Aus „Wahrenberger Stanzen“
*
Igel und Fledermaus haben sich in
den Winterschlaf gelegt Ihnen ist egal
was Putin und Biden treiben Diese
Manifestationen unserer Ansprüchlichkeit
am Knick der Elbe hat ein Schiff
festgemacht Seine Lampen leuchten
durch gewellte Herbstluft und hinter
jedem Fenster auf dem Wasser und
hier in deinem Dorf wird um Krümel
der Liebe gefeilscht Was Igel und
Fledermaus nicht interessiert Sie
zweifeln nicht am Willen der Seligkeit
in allen Dingen Derweil das Gebell des
nachbarlichen Hundes übergeht in
Wolfsgeheul Sibiriens Wind
*
der Januar ist eine Sturm- und
Regenfront Die Wolken ziehen
dunkelschwadig und eine schwere
Boe zerknickt meinen Schirm
dessen blecherndes Gestänge
(ein Billig-Produkt zur Erhaltung
des Traumes vom ewigen Markt)
nun verbogen ist Während man
überall hin die Freiheit exportiert
der Regen läßt etwas nach und
ich seh eine alte Frau Wie sie
über ihren Hof humpelt als wäre
sie Atlas und trüge das Gewicht
der Welt Was sie vielleicht tut
(und das ist nicht nur Gleichnis)
*
Schnee hat mein Dorf weiß ein-
gehüllt Die Wildgänse sind nicht
fortgezogen Vielleicht frieren sie
und meine Stiefel sind die von
Amundsen und meine Mütze die
eines russischen Soldaten Der
gleich blutend im Schnee liegt Ich
hoffe niemandem zu begegnen Wie
in der Dunkelheit ihm die Angst
vor mir nehmen Wiewohl kein
Krieg ist … Ein Lkw steht
schweigend am Weg In seiner
Kabine muß es rasch weich und
warm werden Ein Zuhause Doch
wer kann wen heimholen
*
die Elbe führt Hochwasser und
die Buhnen wirken wie abgetauchte
U-Boote oder (in Friedenszeiten)
wie überspülte Walfische In einem
Fenster seh ich einen Mann und
zwei Frauen zu Abend essen und
sich langweilen wie in Van Goghs
Kartoffelessern (keiner wagt das
befreiende Wort) Woanders
sitzt man rücklings zum blau
flackernden Fernseher Bewegungs-
melder verraten mich Wir sind jene
denen stets etwas fehlt Die sich
sicherungsverwahren unter
Odysseus’ leuchtenden Plejaden
*
der volle Mond blickt silbern
durch den Dunst der Nacht und
mein rechter Handschuh sträubt
sich auf der linken Hand Auf
einer Terrasse zur Elbe hin
werden zwei alte Frauen
gefüttert von helfender Hand
im Hintergrund flackern die
Nachrichten Ein Bombardement
auf Aleppo Oder ist’s eine
andere Stadt Der Mond sagt
ich werde mich nicht wollen
können und die Weide streckt
sich igelborstig in die Nacht
wie Kakteen im Sterbezimmer
*
jede Grenze wird mit dem Blut
eines Soldaten gezogen und aus
Beischlaf wird das Haus gebaut
darin wir am Ofen sitzen ver-
gessen oder üben für den Krieg
so bilden wir stets neu die neue
Welt Komm her zu mir du mit
dem vergifteten Kamm im Haar
erwache aus dem Schlaf Damit
auch ich erwache Zieh mich
weg vom schwarzen Fieber Wer
löst den Kamm der Feindschaft
daß herabfällt dein goldenes
Haar die Grenze sanft wird
still das Haus und wunderbar
Walter Thümler, Mai 2022Diese Gedichte als Video-Lesung