Echo auf: Jean Améry

Sinnieren über Herkunft, Heimat und Identität (als Reaktion auf Jean Améry: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“)

Vor kurzem habe ich einen Roman gelesen, „Daheim“ von Judith Hermann. Ein sehr tröstlicher Text. Ich muss an einen Dialog zwischen der neu zugezogenen Protagonistin, deren Name nie genannt wird, und ihrer Nachbarin Mimi denken, in dem es um Wurzeln geht. Wo sind deine Wurzeln? Die beiden Frauen haben dazu unterschiedliche Gedanken. Oh, ich fürchte, ich habe keine. Und: Manche Leute haben Wurzeln und andere eher nicht. Man könne auch vorläufig verwurzelt sein, an einem Ort, an dem man sich in der gegenwärtigen Lebensphase zu Hause fühlt.

Fühle ich mich verwurzelt? Wo? Oder wann? Welche Rolle spielen Herkunft und Heimatgefühl in der Konstruktion meiner Identität?

Die Vorfahren meiner Großmutter mütterlicherseits stammen aus Frankfurt und Umland, der Vater meiner Mutter ist allerdings in Kosel in Oberschlesien geboren und musste, nachdem er Ende des Zweiten Weltkriegs von der Ostfront zurückgekehrt war, fliehen. Er war ein Vertriebener, der, soweit ich weiß, in Frankfurt aber eine neue Heimat fand.

Meine Großeltern väterlicherseits und ihre Vorfahren kommen aus dem Odenwald, aus der Gegend um Bad König und Darmstadt. Deren Ururgroßeltern waren Hugenotten, calvinistische Glaubensflüchtlinge, die Anfang des 17. Jahrhunderts dort Zuflucht suchten und blieben. Auch sie ihrer Heimat beraubt. Mein Urgroßvater, ein Nachkomme dieser Vertriebenen, Postmeister in einer Kleinstadt und NSDAP-Mitglied, beging 1944 Suizid. Hatte er dabei mitgewirkt, anderen ihre Identität und damit ihre Daseinsberechtigung, ihr Leben, abzusprechen?

In meinen Venen fließt Blut der Vertreibung und Blut der Täterschaft. Wie bringt man das zusammen?

Ich bin an einem scheinbar wahllosen Ort groß geworden, der zunächst auch für meine Eltern, als sie dort hinzogen, ein Ort ohne Bedeutung war. Die Verbindung mussten sie erst aufbauen. Fühle ich mich dieser meinigen Heimat so wenig verbunden, weil sie nicht die Heimat meiner Ahnen ist? Die Erde dort ist stumm, sie kann mir unsere Geschichte nicht erzählen.

Andere Orte, an denen ich gewesen bin, sprechen zu mir, ohne dass ich zu sagen wüsste, warum. Ich sehne mich bisweilen zutiefst nach ihnen. Es ist die Sehnsucht nach einem Heimatgefühl, einem In-Sich-Ruhen, einer Rast. Flüstern mir das Pfeifen des Winds, das Rauschen des Meeres, das Rascheln der Kornfelder und das Geschrei der Möwen vom Leben meiner Vorfahren? Dann erkenne ich mich selbst und kann still sein.

Liliane Katharina Urich

Wir sind alle deutsche Juden

„Maman, durch dich bin ich Jude. Dir habe ich den ganzen Schlamassel zu verdanken.“ Mit diesem Satz fängt die Dokumentation “Wir sind alle deutsche Juden” an, auf die ich vor einiger Zeit in der ARD-Mediathek gestoßen bin. Daniel Cohn-Bendit, ein deutsch-französischer Publizist und Politiker der Grünen, begibt sich auf die Suche nach seiner jüdischen Identität. Cohn-Bendit entstammt einem säkularen jüdischen Haushalt, der jüdische Werte akzeptierte, Religion jedoch ablehnte. Im Jahr 1933 flohen seine Eltern aus Deutschland nach Paris. In Frankreich geboren, verbrachte Cohn-Bendit seine Kindheit in der Normandie, bis er mit 13 Jahren nach Frankfurt am Main kam. Zwischenzeitlich war er staatenlos. Wie oft er sich wohl die Frage nach seiner Identität stellen musste. Wer bin ich eigentlich? Bin ich Franzose, Deutscher, Jude, nichts von allem oder doch alles zusammen? Die Reise auf der Suche nach seiner Identität findet nicht in Berlin, dem Geburtsort seines Vaters, oder Posen, dem Geburtsort seiner Mutter, statt. Cohn-Bendit reist dafür nach Israel, an einen Ort, wo die jüdische Identität von jedem Juden auf verschiedenste Weise interpretiert und gelebt wird. Auf seiner Reise stellt er sich die Frage: „Ich bin Jude. Was bedeutet das?“ Während seine Mutter das Judentum intensiv gelebt hat, ohne religiös zu sein, weiß Cohn-Bendit mit seinen 75 Jahren immer noch nicht, was das ist. Denn wie kann er jüdisch sein, ohne jüdisch zu leben? Bevor er sich auf die Suche nach seiner Identität in Israel macht, besucht er seinen Bruder in Frankreich, der sagt: „Es sind die anderen die einem eine Identität formen und ich will mich einfach nicht einsperren lassen in einer Identität, die die anderen aus mir machen wollen. […] Das Einzige, was man mir unterjubeln will, obwohl ich überhaupt nichts dafür kann, ist Jude zu sein.“ Er möchte nicht in Schubladen gesteckt werden, keinen Stempel von anderen aufgedrückt bekommen. Cohn-Bendit widerspricht seinem Bruder: „Wir sind Juden, auch wenn ich nicht erklären kann, was es für mich bedeutet.“ Hat man eine Wahl bei seiner Identität? Die Frage nach der jüdischen scheint oftmals viel schwieriger zu beantworten. Denn das Judentum ist viel mehr als „nur“ eine Religion. Es ist Kultur, Tradition, Kunst, Sprache(n), aber auch Verfolgung, Holocaust, Erinnerungskultur und die israelische Politik. Aber wie kann eine solche Suche und die erhoffte Entdeckung aussehen, wenn man nicht glaubt, weder Jiddisch noch Hebräisch spricht, keinen Schabbat feiert und auch keine eindeutige Meinung zum Staat Israel hat? Cohn-Bendit trifft auf seiner Reise Menschen, die sich vom Judentum emanzipieren oder es zelebrieren, Menschen, die den jüdischen Glauben mit Überzeugung leben oder verwerfen, die die Politik des jüdischen Staates unterstützen oder bekämpfen, die ihre Identität gefunden haben oder diese immer noch suchen. Eine Rabbinerin, die er trifft, sagt: „Jude sein bedeutet, morgens mit einer Frage aufzuwachen und abends mit einer Frage schlafen zu gehen.“ Am Ende seiner Reise steht Cohn-Bendit auf einem Hügel und hinterfragt seine Identität, die oftmals mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Sie entspringt der Geschichte seiner Familie, dem Gedächtnis des jüdischen Volkes, seinem Anspruch an die Welt und sich selbst. „Vielleicht gibt es nicht auf jede Frage eine Antwort. Vielleicht sind wir alle deutsche Juden, entwurzelte, auf der Suche nach der eigenen Identität.“

Magdalena Loska

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/wir-sind-alle-deutsche-juden/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuL2EwMmY0OWI4LTFhOTgtNDEwMS05NjA4LTkyMTM4YWNiZWQ4OA

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