Wissenschaftsgläubigkeit

 „Wer mit Ungerechtigkeit Gerechtigkeit anstrebt, dessen

Gerechtigkeit bleibt ungerecht; wer mit Unglaubwürdigem

Glaubwürdigkeit anstrebt, dessen Glaubwürdigkeit bleibt

unglaubwürdig.“ (Zhuangzi 32.17)

Die metaphysischen Bedürfnisse des Menschen haben sich in den letzten Jahrhunderten kaum verändert, seine Ängste sind geblieben – aber die Selbstüberzeugung, vernunftbegabt zu sein und rational zu handeln, ist stetig gewachsen. Den Hauptbeitrag zu dieser Illusion verdanken wir der Wissenschaft. Mag die wissenschaftliche Erkenntnis im einzelnen objektiv und nachvollziehbar erscheinen, in der gesellschaftlichen Praxis wird ihr geglaubt und soll ihr geglaubt werden. Wissenschaftsgläubigkeit ist an die Stelle des Kirchen- und Gottesglaubens getreten. Wissenschaft übernimmt die Rolle der Institutionen, die sich von Alters her dem Geschäft mit dem Ungewissen gewidmet haben. Dabei sind der Wissenschaft strukturelle Einschränkungen im Umgang mit dem Ungewissen auferlegt: Sie kann das Ungewisse nicht metaphysisch in Gewißheiten transformieren, denn wissenschaftliche Wahrheiten gelten nur bis zu ihrer Wider­le­gung – Falsifizierbarkeit ist ihr oberstes Gebot. An die Stelle der ewigen göttlichen Weisheit treten kurzlebige wissenschaftliche Er­kenntnisse, Grenzwerte und Richtlinien, die übermorgen bereits fallen gelassen werden, Routinen, die morgen schon überholt sind. Galt in der Blütezeit der Eugenik die Rassenh­ygiene als wissen­schaft­licher Standard, der mit rationaler Wucht vertreten und durchgesetzt wurde, ist es zu Zeiten der Furcht vor Erkältungskrankheiten die sogenannte AHA-Regel.

Der Atheismus, mit dem sich die Wissenschaftsgläubigkeit maskiert, erweist sich im Kern als eine trost­lose Religion – wie schon Carl Friedrich von Weizsäcker bemerkte. Dem Atheismus fehlen die trost­spendenden Rituale, die Orte, an denen sich die Generationen versammeln und gegenseitig Halt geben, Lieder und Tänze, Berührungen. In den Laboren werden aseptische Zustände hergestellt, in den Klausuren und Prüfungsräumen werden Argumente ausgetauscht. Der Mensch wird im west­lichen Bildungs- und Hochschulsystem zunehmend auf ein Kopfwesen reduziert, dessen öffentliche Fas­sade zu reiner Rationalität kri­stal­lisiert wie Salz auf einer perfekt abgedichteten Mauer. Ins­geheim aber, in der Freizeit oder späte­stens mit dem Erlangen des Qualifikationsnachweises wird das Bedürfnis nach Transzendenz, Spiri­tualität oder Irrationalität wach. Der Absolvent oder die Absolventin wendet sich neu­heid­nischen oder fernöstlichen Vergnügungen und Praktiken zu, meldet sich beim Yoga, Tantra oder Schweige-Retreat an.

Wer sich in der Öffentlichkeit auf die Wissenschaft beruft, biedert sich zumeist einem linearen Kausal­denken an, um die beim Publikum unterstellte Vollkasko-Mentalität zu bedienen. Die Wirk­sam­keit politischer Maßnahmen wird in wissenschaftlichem Duktus behauptet, ohne tatsächlich einen empirischen Wir­kungs­nachweis mitzuliefern, geschweige denn Wechsel- und Neben­wir­kungen zu be­rück­sich­tigen. Wissenschaftlichkeit ist die Beruhigungspille einer sich selbst als ratio­nal miß­ver­stehenden Gesellschaft und dient der Demonstration von Handlungsfähigkeit – nur leider müs­sen die im Brustton der Überzeugung verkündeten Leitlinien und Regeln alle drei Wochen über den Haufen geworfen werden, weil sie sich nicht bewahrheitet haben.

Auffällig in der Corona-Krise ist die aktive Vermeidung eines hinreichend komplexen Bild vom Ge­schehen seitens der Regierung. Seit Februar 2020 fordern ernstzunehmende Gesund­heits­wis­sen­schaftler repräsentative Erhebungen zur Verbreitung des Virus. Denn nur auf dieser Grund­lage las­sen sich Dunkelziffer, Inzidenz und die Wirksamkeit der Maßnahmen valide schätzen. Lösungs­orientiert und daher nachhaltiger wie auch zukunftsträchtiger wären darüber hinaus re­präsentative Studien zur bereits vorhandenen Immunität auf Grundlage der Messung corona­spe­zifischer Antworten der T-Lymphozyten („Gedächtniszellen“), die mittlerweile möglich ist (Sekine et al., 2020).  Eine Er­klä­rung, warum die Regierung bzw. das ihr untergeordnete RKI repräsentative Studien verweigert, wird nicht gegeben – die Regierung zieht es vor, das Land kraft diktatorischer Verordnungsmacht im Blindflug durch den Ausnahmezustand zu manövrieren – anfällig für die Einredungen einzelner, hand­verlesener Experten und Schwarzseher.

These 2: Die Regierung schmückt sich mit dem Duktus der Wissenschaftlichkeit, ohne die em­pirische Evidenz­for­schung tatsächlich zuzulassen, zu fördern und schließlich auch ernst zu nehmen. Auf diese Weise verlängert sie für sich die Option direkten Durchregierens auf dem Verordnungsweg, ohne Rücksicht auf parlamentarische Auseinandersetzungen nehmen zu müssen.

Darüberhinaus fehlt der Regierung auf der Meta-Ebene ein Verständnis für die Komplexität natur­wüchsiger Wechselbeziehungen – dieses Verständnis kann ihr die heutige Naturwissenschaft zu­meist nicht bieten. Es ist aber die Voraussetzung, um Wissenschaft und gesellschaftliche Erwartung auf­einander abzustimmen. Stattdessen dominiert in der Politik ein technokratisches Welt- und Men­schen­bild, das im Grunde auf dem Niveau der klassischen Mechanik argumentiert und nahezu alles auf kausale Weise für machbar hält. Man müsse nur die Ursachen erkennen und entsprechend handeln. Das ist weniger als das scholastische Wissenschaftsverständnis, das zu Zeiten von René Descartes vor­herrschte: Alles in der Welt bewege sich durch Druck und Stoß, der menschliche Körper sei bloß eine „Gliedermaschine“.

Das wissenschaftliche Ethos, das Descartes einst auszeichnete und zu einem mutigen Skeptiker werden ließ, ist den Universitäten europaweit in den letzten Jahrzehnten abhanden gekommen: Der Abbau von Wissenschaft und Bildung wurde mit der Bologna-Reform erfolgreich in Angriff ge­nom­men. Die Universität versteht sich nicht mehr im Geist des Humboldtschen Universalismus, um der Erkenntnis willen zu forschen und zu lehren, sondern hat ein sozialdarwinistisches Social-Credit-System im Dienste kurzfristiger merkantiler Interessen etabliert. Die Beschränkung des Bachelor-Ab­schlus­­ses auf eine dreijährige theoretische Berufsausbildung beinahe ohne Praxisvermittlung spült junge, un­gebildete, sprich formbare Absolventen in die Konzerne – aber auch in die Ver­wal­tung und In­sti­tu­tionen der Daseinsvorsorge. Im besten Falle entsteht Fachwissen durch betriebs­interne Fort­bildungen und „Learning by doing“. Im schlimmsten Falle regiert die Unwissenheit. An die Stelle von Bildung ist Selbstoptimierung für den Arbeitsmarkt getreten. Die wissenschaftliche Neugier und das Bedürfnis, sich ganzheitlich zu einer Persönlichkeit zu entwickeln, findet zuweilen noch im Master­studium ein wenig Raum – hier sind die Plätze aber künstlich verknappt worden.

Der technokratische Ver­stand steht vor un­lösbaren Rätseln, wenn anstelle kausaler Ursache-Wirkungs­ketten, die unmittelbare Machbarkeit sug­gerieren, natürliche Zusammenhänge ent­scheidend sind. Was heute von der Regierung als Wissenschaftlichkeit bezeichnet wird, ist instru­men­ta­li­sierte Wissenschaft, also das Gegenteil von Wissenschaft. Es werden Unsummen in die Ent­wicklung experimenteller Impfstoffe investiert, während abenteuerliche „Teststrategien“ zeitgleich massive statistische Artefakte nach sich ziehen, die den Lockdown solange legitimieren, bis eine zermürbte Bevölkerung danach ruft, sich „freiimpfen“ lassen zu wollen. In Gefälligkeitsgutachten, erstattet von der Leopoldina oder etwa der Impfkommission, wird dem staatlichen Pharma-PR-Projekt  die Krone aufgesetzt, indem behauptet wird, alles sei „wissenschaftlich“, der PCR-Test sei valide, die neu­artigen, in Windeseile aus dem Labor hervorgezauberten Impfstoffe seien auch ohne Langzeitprüfung sicher und wirksam. Es ist nicht lange her, da schwätzten die Propheten vom „wis­sen­­­schaftlichen Kommunismus“, der gesetzmäßig wie die Jahreszeiten, den Kapitalismus ab­lösen werde. Das Gegenteil trat ein. Wissenschaftlichkeit eignet sich in jeder Art von Diktatur, der Willkür ein Mäntelchen scheinbarer Objektivität umzuhängen.

These 3: In Deutschland ist aller gegenteiligen Rhetorik zum Trotz ein wissenschaftsfeindlicher Umgang mit Corona seitens der Politik zu beobachten: Repräsentative Studien werden unterlassen, fun­da­mentale Statistik­fehler toleriert, die Obduktion von „Corona-Toten“ erst untersagt, dann erschwert – die Furcht vor wissen­schaftlicher Redlichkeit ist eine Folge des Abbaus des wichtigsten Rohstoffes, den dieses Land je hatte: Bildung.

Die skurrile Bevorzugung („Priorisierung“) der Wirtschaft gegenüber der Kultur führte während der Corona-Krise zu einem Radikalabbau von Schul- und Hochschulbildung – im Vergleich zu dieser, diesmal europäischen Kulturrevolution war die Bologna-Reform nur ein trockener Husten. Das gesamte akademische Leben wurde in sterile „digitale Lernformen“ verbannt, die einschließlich der Klausuren dank Videoübertragung in der Vereinzelung der Studentenbude abgehalten werden können. Der monate­lange Unter­richtsausfall an den vorbereitenden Schulen bereitet einem neuen Analphabetismus den Boden. Nicht nur Lesen, Rechnen und Schreiben wird für die Grund­schüler, die ihre ersten schulischen Erfahrungen monatelang im „Distanzunterricht“ erleiden mußten, zu den selten erlernten Künsten gehören. Vor allem Menschen, die imstande sind, zwi­schen den Zeilen zu lesen, Kontexte zu entziffern und systemisch zu denken, werden zu einer aus­sterbenden Species zählen.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

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