Gesundheitsfetischismus

„Unterm Himmel leben alle natürlich, ohne zu wissen, wie es kommt, daß sie le­ben;

alle erhalten es gleichermaßen, ohne zu wissen, wie es kommt, daß sie es erhalten …

Wer ein wenig verwirrt ist, verwechselt rasch die Richtung;

wer sehr verwirrt ist, zerstört seine natürlichen Anlagen.“ (Zhuangzi, 8.2)

Wie die Corona-Krise zu deuten ist und was sie zu bedeuten hat, ist gegenwärtig noch unklar. Im folgenden schreite ich Eckpunkte ab, um die Konturen der gesellschaftlichen Folgen zu erkunden, die uns in Namen von Corona ereilen.

„Woher weiß ich, daß die Freude am Leben keine Täuschung ist? Woher weiß ich, daß die Furcht vor dem Tod nicht einem jungen Wandergesellen gleicht, der nicht heim­kehren will? … Woher weiß ich, ob ein Toter seine frühere Sehnsucht nach dem Leben nicht bereut? … Na­türliche Unterschiede auszugleichen, gestützt auf all­mäh­liche Ent­wick­lung – das bedeutet, seine Lebensjahre bis zum Ende aus­zuschöpfen … Vergiß die Jahre, die dir zum Leben bleiben, vergiß die Recht­schaffenheit, brich auf ins Grenzenlose und wohne im Gren­zenlosen.“ (Zhuangzi, 2.12)

Nicht nur am Leben zu sein, sondern sich lebendig zu fühlen – das bedeutet „Gesundheit“, ein Begriff, der in den Kulturen recht verschieden verstanden wird. Erkennen die Lateiner in ihr die Abwesenheit von Krankheit in Form von „sanitas“, die mit Sauberkeit und Reinlichkeit verknüpft ist, verweist das indogermanische „sunto“ oder „suento“ auf „geschwind sein“. Schnelligkeit, Rü­stig­keit, Regesein – dies sind assoziative Wortfelder von „Gesundheit“ (Walde & Pokorny, 1927, S. 524).

Kulturhistorisch haben Reinlichkeit und Sauberkeit in der Viehzucht und in den öffentlichen Bädern (Sauna, Therme, Hamam) eine Rolle gespielt. Erstere war für die Ausbildung der mono­thei­stischen Religionen in Vorderasien ausschlaggebend. Neben dem Leittier sollte es kein zweites geben. Letztere hat den Genuß des Körpers der herr­schenden Schichten in Babylonien, Griechen­land und Rom geprägt. Marcus Terentius Varro hatte bereits im letzten Jahrhundert v.u.Z. erkannt, daß für viele Krankheiten kleine Tiere verantwortlich sind, die wir nicht sehen können (Rerum Rusticarum libri tres, 1.12). Gesundheit im Sinne von Rüstigkeit wird eher von Kulturen ins Auge gefaßt, die ihre Wehrhaftigkeit in den Vordergrund rücken.

Bedeutete Gesundheit zur Zeit des Sturm und Drang und des humanistischen Idealismus noch Spielfreude, so wurde sie im Zuge der „industriellen Revolution“, im Kohlenstaub und 16-Stunden-Tag, auf das pure Überleben reduziert. Einer der Begründer der Hygiene war der Arzt Johann Peter Frank (1745–1821), dessen sechsbändiges Werk den sprechenden Titel „System einer vollständigen medizinischen Policey“ trägt und die bis heute von der Politik heißgeliebte Verquickung von Heil­kunde und Staatsgewalt vorbereitet hat.

Der Kolonialismus zog die Eugenik als Theorie der Ver­bes­serung der „Volksgesundheit“ durch die Reinhaltung und das „Ausjäten der Rasse“ (Alfred Ploetz) nach sich, als Reflex auf die Begegnung mit indigenen Kulturen in Amerika, Australien und Afrika. Dank des Ritterschlags durch Darwins Evolutionstheorie wähnte sich die Eugenik vor dem Ersten Weltkrieg als Inbegriff und letzten Schrei der medizinischen Wissenschaftlichkeit und schaffte es, die europäischen Massen zu überzeugen – nicht zuletzt, indem sie jeder Nation einzeln vorgaukelte, sie sei die am höchsten und weitesten und besten entwickelte.

Der Rassenwahn der Nationalsozialisten stellte demgegenüber keine neue Qualität dar, sondern verknüpfte den Sozialdarwinismus mit technischer Durchsetzungs­macht, um  das Leben zahlloser Menschen auszulöschen. „Gesundheit“ stand nur den „Herren­menschen“ zu. Sie war ein Merkmal sozialer Differenz: der athletische Mann, die gebärfreudige Frau. Sport und FKK wurden gefördert, sie dienten als un­mit­tel­bare Voraus­setzung der Wehrhaftigkeit, die kultisch propagiert wurde, beispielsweise in Leni Riefenstahls Dokumentation der Olympiade von 1936. Das Rauchen dagegen wurde als rasseschädlich gebrandmarkt: Hitler, Mussolini und Franco verabscheuten es, Churchill’s Zigarre – wie später Helmut Schmidt’s Menthol-Zigarette – galt als Inbegriff der Freiheit, demon­stra­tiv in der Öffentlichkeit zum Glühen gebracht. In den Augen der Diktatoren war sie der Ausdruck eines perversen Liberalismus. Das Leben der anderen galt als min­der­wertig und durfte im Namen der Hygienegesetze straffrei verletzt und ver­nichtet wer­den. „Gesundheit“ mutierte zum Kampf­be­griff gegen den In­di­vi­dualis­mus. Für­sorg­liche Ärzte glauben schon lange zu wissen, was für das Volk gut ist.

In diesem Rahmen beteiligte sich auch das nationalsozialistisch umgekrempelte Robert-Koch-Institut seit 1931 an „wissenschaftlichen Versuchen am Menschen“ zum Zweck der Entwicklung neuartiger Heilbehandlungen, erforschte mit medizinischen Experimenten den Faktor „Rasse“ bei Tuberkulose und Viruserkrankungen, Diphterie und Fleckfieber.  Die Er­geb­nis­se, insbesondere die Stan­dardisierung und Ökonomisierung von Impfungen, stellten eine Dienstleistung für die Pharma­konzerne dar, die als kriegsrelevant galten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der rassenideologisch aufgeblähte Gesundheitsbegriff zu einer Wohlfühlkategorie weichgespült. Die kommerzielle Nutzung ließ ganze Produktserien in Dro­gerie­märkten und Apotheken wachsen, die keinem anderen Zweck folgen, als das subjektive Wohlbefinden zu steigern. In der Wohlfühlblase entfremdete sich der moderne Mensch der natür­lichen Umwelt, verlor das Gespür für Rhythmen (warm – kalt, drinnen – draußen, Sät­tigung – Fasten, Geschwindigkeit – Ruhe usw.), gierte nach vermeintlich lebensverlängernden, zumindest optisch die Jugendlichkeit erhaltenden Mittelchen und verlor die zwangsläufige Endlichkeit des menschlichen Lebens aus dem Blick. Der Tod wurde arbeitsteilig ins Bestattungswesen ausquartiert, verschwand aus dem Alltag. Die Erhöhung der Lebenserwartung eroberte den ersten Rang gesell­schaftlichen Strebens.

These 1: Die Corona-Krise hat tiefgreifende Wurzeln in der Angst des Menschen vor dem Tod. Diese Urangst ist durch keinen äußeren Fortschritt zu überwinden und bietet die Grundlage für alle Spielarten der Manipulation.

Jugendwahn und Unsterblichkeitswunsch sind Menschheitsthemen. Pharaonen und ägyptische Beamte, die sich einbalsamieren ließen, hingen ihm ebenso an wie Alchemisten, die Kügelchen aus getrocknetem Pferdemist formten und das ewige Leben versprachen. Im alten China wurde den Jüngern der Unsterblichkeitssuche Quecksilber als Elixier des Lebens verabreicht – nur eine kurze Ewigkeit war ihnen beschert, wie zu vermuten ist.

Im Jahr 2020 nach Christus ermittelte eine Allensbach-Studie, daß die überwältigende Mehrheit der Deutschen Ein­schränkungen der Freiheitsrechte akzeptiert, wenn sie der Gesundheit dienen: „69 Prozent der Befragten räumen dem Gesundheitsschutz einen Vorrang gegenüber Freiheits­rechten ein. Be­mer­kenswert ist dabei die Zustimmung über alle Generationen hinweg: Bei den über 60-Jährigen bewerten nur 10 Prozent die Freiheitsrechte höher als den Gesundheitsschutz, bei den unter 30-Jährigen sind es mit 14 Prozent kaum mehr.“ (Rechtsreport 2021 der Roland-Rechts­schutz­ver­sicherung auf Grundlage von 1.286 Interviews zwischen 1. und 11. November 2020)

Der Körper schlägt die Vernunft. Was an die Nieren geht, löst Gefühle aus. Der Verstand sagt adieu. Indem wir dem Fetisch „Gesundheit“ huldigen, wehren wir unsere Urangst ab: die Angst vor dem Sterben, die stärker ist als alles andere, weil wir ihm nicht entkommen. Wenn der Faschismus wieder­kehrt, dann trägt er einen weißen Kittel.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

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