No Quarter (Flucht und Wiederkehr XXIII)

„Entschuldigen ‚Se bitte die Störung!“

Eine eingeübt akzentuierte Stimme mit berliner Zungenschlag durchbricht die vorsommergetränkte, spätnachmittagliche Dösigkeit eines halbleeren S-Bahn-Wagons zwischen Hackescher Markt und Alexanderplatz. Jüngere Touristen-Kleingruppen, mittelständische Arbeitnehmer/Innen und zwei 55-65-jährige Golfclubmitgliedsehepaare räkeln sich im warmen Licht. Der Fernsehturm glänzt nah.

„Bei meiner Hündin Cora wurde ein Tumor an der Lendenwirbelsäule festgestellt und ick samml‘ nun, um für ihre Operation ‚ufzukomm’n. Ick danke allen, die dabei helfen möchten vielmals, allen anderen wünsch‘ ick noch ’nen schönen Tag!

Der Mittzwanziger – er könnte vielleicht auch zwanzig oder dreizig sein – schulterlange Haare, blaues Trikot der Squadra Azzurra, schreitet, leicht verschlagen aus einem rundlichen Gesicht blickend, fordernd den Wagon ab. Irgendwo hinten redet er mit jemandem, es klirren ein paar Münzen.

Am Ostkreuz auf dem Bahnsteig der Ringbahn und anschließend auf dem Weg nach Neukölln im S-Bahn-Wagon herrscht eine bunte, enger zusammengedrängte Mischung, die trotzdem vor allem eindrucksvoll Relaxtheit ausdünstet. Eine blonde, dicke Deutsche mit Hündchen, ein paar freundliche türkische Jungs, ein paar, etwas ältere, prollige türkische Jungs – anderswo im Wagon ihre artigen, weiblichen Gegenstücke mit dezenten Kopftüchern -, etliche Vietnames/Innen, dazu eine Ostasiatin mit Seidenkopftuch, diverse deutsche junge Männer – kurzrothaariger Nerd mit Handy und Bauch, gestreiftes Hemd-Gel-BWler, Max Mustermann Metalfreak, HippieBackpacker123-, sich stolz als Schlampen Bezichtigende, einige Spießerinnen-Antikörper, sowie Originale und Klischees in einem, buckelige, braunrunzlige Mütterchen mit Einkaufstüten voller Gemüse hier – welch ein Leben!! -, Opis mit AfD im Kopf da – „Ach, welch ein Leben?“. Und natürlich der, dessen Großvater wohl aus Italien nach Berlin kam – vermutlich mit einer Cora in Gedanken, aber ohne kranken, imaginären Hund.

Das Publikum strömt aus der Bahn, begrüßt Neukölln mit einem schnatternden Gemisch aus Geräuschen, Gerüchen, Gesichtern und Gelüsten – und Neukölln grüßt zurück; die Familien vor dem Gemüseladen, die Jungs beim Kebab-Grill, in der Nähe davon die, die sich Schlampen nennen – und natürlich die Drogis. Einer von ihnen, der blau schillernde, vorgebliche Hundeliebhaber, gibt einem jungen Araber – 16 oder 18 – die Hand, sie tauschen einige, gemurmelte Worte aus, stehen nebeneinander an der Ampel, schauen sich kurz vielsagend, zustimmend an. Sie haben vereinbart, sich in Kürze an einem, beiden bereits bekannten Übergabeort zu treffen und gehen – in sich ruhend – auseinander, einer nach rechts, einer geradeaus, auf dass das Depot unendeckt bleibe, da es unwahrscheinlicher wird, dass etwaige Zivilpolizisten die Verfolgung beider gleichzeitig aufnehmen.

Aus Hamburg anreisend, erstaunt die ins Gesicht lachende Zurückgelehnheit der verschiedenen Glieder der Gesellschaft Berlins (nicht, dass sich die eben geschilderte Szene in St. Georg nicht ebenso abgespielen würde, aber mit Sicherheit deutlich gehetzter)  – und es scheint, als seien diese Merkmale nicht dem ‚juten‘ Wetter  (welches die Effekte vielleicht besonders hervorzuheben mag, nicht jedoch zu verursachen), sondern vielmehr der berliner Weitläufigkeit einerseits und der trotz aller Modernisierungen vieler Stadtteile noch immer immanenten, latent klaustrophobischen, nur durch abgrundtiefe Gelassenheit der Einwohner zu konternden Morbidität dieser Stadt andererseits geschuldet.

Wie Clochards, die ihre Zahnlücken lächelnd zur Schau stellen, zeugen davon laute, rüttelnde, pissgelbe U-Bahnen mit einem arschegalen Schmunzeln, Fahrkartenautomaten, die nicht in der Lage sind Scheine anzunehmen und zwei grau ummantelte 4:3-Fernseher am Bahnsteigende (die die Länge des Bahnsteiges abbilden, da die Zugführer wahrscheinlich über keine Monitore in ihrer vormittelalterlichen Kabine verfügen); Ihr könnt uns mal, Prost!

Am Kottbusser Tor empfangen Graffitis, dreckschwarze Wände, Taubenscheiße, Überführung, Betonburgen.

Zeitgleich findet in Mitte im „Kreativquartier“, den miteinander verbundenen Heckmann-Höfen zwischen der Tucholsky~ und der Oranienburger Straße, einer von zahlreichen Workshops für Irgendwasmitlebensfreude statt. Nebenan ein Laden mit anspruchvoller japanischer Töpferkunst, ein artsy-fartsy Cafefe, dazu Hipstershop 1, Hipstershop 2, Musikprojekt X usw. usf.

Der Kontrast macht diese Stadt dicht, das diffuse Überleben neben dem verträumten Erleben neben dem sirenenhaften Nachhall preußischer Pflichtversessenheit. Mit seinem berühmten Bild der Erdolchung eines Königs wirbt die aktuelle Max-Beckmann-Ausstellung, auch Plakate der Ausstellung „Sparen – Geschichte einer deutschen Tradition“ im historischen Museum hängen, zu zwei Fünfteln weiß gehalten, aus.

Das von Seyfried in den späten siebziger~ und frühen achtziger Jahren des mittlerweile fast zwei Jahrzente zurückliegenden, vorherigen Jahrhunderts gezeichnete, abseitige Berlin existiert weiterhin fort, wie ein legendärer Alligator in der Kanalisation, wie ein unsterblicher Bandwurm, eine befruchtete Bettwanze oder unheilbare Tuberkolose, es duftet nach nach anarchischer Commune, nach sozialer Ausstoßung und Traditionsfamilie zugleich.

Es ist der Abszess am Arsch und die Warze auf der Nase der Villengolfer, es ist ihre Botox-Fehlspritzung, ihre gescheiterte Ehe und der Tumor an der Lendenwirbelsäule ihrer Lieblingshündin. Und das ist gut so.

Faron Bebt
schreibt Geschichten mit bunten Botschaften und einem hartem Kern. Immer etwas dogmatisch, aus der Zeit gefallen, verstörend verträumt - wie letzte, angemalte Großstadtbunker --Farbbeton.

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