Wladimir Wyssotski : Lied über die erste Reihe : 1971

Da war ein Zar, der preschte stets voran,
Und alles nur aus mangelndem Verständnis –
Doch dieses Jahr setzt‘ er sich hintenan,
Dort vorn ist’s wie im Rücken ein Gespann
Aus schweren Läufen und des Kutschers fauligem Atem.

Vielleicht ist es hier hinten nicht so prachtvoll,
Doch dem Auge ringsumher bleibt mehr Platz –
Langer Anlauf macht den Absprung machtvoll
Und auf die Übersicht ist hinten stets Verlass.

Der Stielaugen Lanzen neun bis zehn
Starrten wie blind und ließen ihn erstarren,
In seinem Nacken ließen sich die Blicke gehen,
Von hinten blieb es immer angenehm,
Ihn zu beleidigen und drohend zu verharren.

Denn vielleicht ist es hinten nicht so prachtvoll,
Doch dem Auge ringsumher bleibt mehr Platz –
Langer Anlauf macht den Absprung machtvoll
Und auf die Übersicht ist hier Verlass.

Die erste Reihe schadet manchem und er sagt:
„Diese Gedanken treiben mich in Trübsal“,
Drum besser man im Dunkleren verharrt,
Wo dich kein falscher Ausweg narrt und
Hinter dir die Wand: steinernes Mahnmal.

Vielleicht ist es hier hinten nicht so prachtvoll,
Doch dem Auge ringsumher bleibt mehr Platz –
Langer Anlauf macht den Absprung machtvoll
Und auf die Übersicht ist hinten stets Verlass.

Und lass‘ aus allen Flüssen jeden Fluss entrinnen,
Lass‘ aller Laken Daunen salzig starren –
Ob Haar schneeweiß fällt bis tief unters Kinn
So setzt euch doch nicht in die erste Reihe hin
Und spannt euch bloß nicht vor einen fremden Karren.

Vielleicht ist es hier hinten nicht so prachtvoll,
Doch dem Auge ringsumher bleibt mehr Platz –
Langer Anlauf macht den Absprung machtvoll
Und auf die Übersicht ist hinten stets Verlass.

Man sitzt sicher hinten, doch es kommen Tage –
Da das Herz mir sagt: „Du bist am Zuge!“,
Und ein Schattenmann sieht nüchtern seine Lage,
Sieht es fließen, aber zählt die Tage –
Sieht: das Leben hier wie dort vergeht – im Fluge.

Denn vielleicht ist es hinten nicht so prachtvoll,
Doch dem Auge ringsumher bleibt mehr Platz –
Langer Anlauf macht den Absprung machtvoll
Und auf die Übersicht ist hier Verlass.

***

Bleib‘ nicht ewig in der letzten Reihe sitzen –
Komm‘ nach vorn und lass‘ es dabei kräftig blitzen.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

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