Was war der 8. Mai 1945? War´s der Tag des Zusammenbruchs? War´s der Tag der Befreiung? Eines war der Tag mit Sicherheit nicht – die Stunde Null. Es war auch nicht die Stunde des demokratischen Neuaufbaus. Die Kriegshandlungen waren beendet. Es begann der Nachkrieg. Und der war für viele schlimmer noch als der Krieg.
„Welche Familie ist ohne Jammer und Not?“ fragte eine Nachkriegs-Tagebuchschreiberin, deren Texte in den von Peter Böthig und Peter Walther herausgegebenen Band „Die Russen sind da“ aufgenommen wurden. Die Herausgeber haben den so genannt Namenlosen Namen und Stimme gegeben. Menschen aus dem brandenburgischen Land, die Teil der deutschen Kriegs- und Nachkriegsschicksale waren. Menschen, die, zumeist, selbst bereits Geschichte sind, deren Geschichten längst Geschichte sind. Die Sammlung beginnt mit Notizen vom 15. Februar und schließt mit einsichtig-ahnungsvollen Worten vom 6. Oktober 1949. Das ist, wie in der Historie eingetragen, der Vorabend der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Die Menschen, die sich in „Die Russen sind da“ äußern, sind keine Historiker. Sie sind von den Historikern gefürchtete Zeitzeugen. Jene, die den 8. Mai 1945 nicht als Tag der Befreiung erlebten. Jene, die in die Geschichtsbücher nicht diese Stunde Null eintrugen. Die Zeilen der Zeitzeugen sind unzensierte Äußerungen zu den Zeiten des Zusammenbruchs des deutschen Reiches. Die Tagebuchschreiber sind durch ihre Aufzeichnungen zu Chronisten ohne Botschaften geworden. Wenn das kein Wert ist!
Offensichtlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sind die Niederschriften unverändert ein Gewinn für die Nachwelt. Und sei´s nur, um distanzierter und differenzierter auf überlieferte Geschichtsdarstellungen zu reagieren. Es sind also nicht die bedeutungsvoll gewordenen historischen Daten, die in dem Band Bedeutung haben. Es sind die Grundstimmungen, die in den Geschichten der Menschen sind, die keine Geschichte machten, sie jedoch erlitten. In der Summe der Äußerungen ist viel Grundsätzliches, das Geschichtsschreiber – aus welchen Gründen auch immer – wenn nicht tilgten, so doch verwischten. Vielleicht ist es nicht erheblich, von den vielen, meist abstrusen Gerüchten zu hören, die in den letzten Kriegsmonaten grassierten.
Erheblicher ist es schon, mit welchen Ressentiments auf die Russen reagiert wurde. Brandenburg, das muß man wissen, wurde Sowjetische Besatzungszone. Von Anfang an war keine Bereitschaft der Bevölkerung da, den Besatzern nicht abwehrend zu begegnen. Kurzum: Die Basis für die später installierte DDR war denkbar miserabel. Der Keim war bereits faul. Vielleicht ist dieses Fazit das Gültigste, das das Lese-Buch „Die Russen sind da“ den Lesern vermittelt. Kein Wunder also, dass die von DDR-Historikern gern propagierte demokratische Erneuerung ein schöner Schein war. Die Vorbehalte der Leute waren enorm. Selbstzweifel, Selbsteinsichten sind höchst selten. Kaum einer der sich Nazi nennt, obwohl reichlich nazistisches Denken in reichlich Aufzeichnungen ist. Traurig-tröstlich, das das nicht aus den publizierten Aufzeichnungen getilgt wurde. Dadurch haben die Aufzeichnungen, im artikulierten Optimismus wie Pessimismus, eine Aufrichtigkeit, die den Nachgeborenen beispielhaft erscheinen muß. Es wäre geradezu überheblich, in Stunden es extremen Elends, selbstkritische Einsicht zu erwarten. Die Zeitaussagen der Zeitzeugen konzentrieren den Blick auf die Zeit, aus der sie kommen und blicken kaum voraus in die folgende Zeit. Tage, nach der Ankunft der Russen, schreibt eine Lehrerin: „Wir sind sehr bedrückt, denn das bedeutet doch, daß wir sie nicht loswerden, daß der Traum von einem unbesetzten Stück Deutschlands eitel war.“ Wie wahr! Am Wahrheitsgehalt jeder Äußerung in „Die Russen sind da“ kanns keinen Zweifel geben. Ob man die Wahrheit mag oder nicht! Und auch das sei abschließend gesagt: Der Band „Die Russen sind da“ hat das Signal von Walter Kempowskis „Echolot“ aufgenommen und ist selbst ein Echolot.
Die Russen sind da. Kriegsalltag und Neubeginn 1945 in Tagebüchern aus Brandenburg. Hg. Peter Böthig, Peter Walther. Lukas Verlag: Berlin 2011. 512 Seiten. klappenbroschur
schön, wenn jeder unwissende die wahrheit sagen kann.