Aki im Wunderland

Das Buch der Bücher des Leipziger Schriftstellers Thomas Böhme heißt „Schnakenhascher“. Der bislang umfänglichste Roman des Autors ist eines der drei Bücher („Heikles Handwerk“, „Martha“), die in diesen Monaten erschienen.
„Schnakenhascher“ ist die Zusammenfassung und in der Zusammenfassung die ausführlichste Erweiterung vieler erzählerischer Arbeiten, die der Verfasser seit zwei Jahrzehnten schreibt und den die Literaturkritik, wenn sie ihn denn beachtet, hartnäckig als Lyriker vorstellte. Böhme ist ein Erzähler, dem die allgemeine Unaufmerksamkeit die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit bisher versagte. Armer Autor! Noch ist Zeit genug nachzuholen, was nachzuholen ist, wie das jüngst für Walter Kappacher und Peter Wawerzinek der Fall war. Der Roman „Schnakenhascher“ ist beste literarische Lektüre und nicht nur etwas für versierte Leser. Den Titel kann man provokant nennen, ihn als peinlich empfinden oder, ganz im Gegensatz dazu, als poetisch. Und das ist nicht nur der Titel!
Mit „Schnakenhascher“ haben die Leser eines der poetischsten Prosabücher der deutschen Sprache der letzten Jahre in der Hand. „Schnakenhascher“ ist das Buch eines Traumes, den sich der Erzähler erträumte, für den „Der Traum als Gesamtkunstwerk“ das selbstverständlich Erstrebenswerte ist. Der Roman ist das Gesamtkunstwerk einer verträumten und somit traumhaften Kindheit. Und nun sage einer: Kindheit hat nichts mit Träumen, mit Traumhaften zu tun. Die von Thomas Böhme erzählte Traum-Kindheit ist keine wahre Kindheitsgeschichte. Böhme ist der spielerische Sinn nicht abhanden gekommen, der schlichte Kindertage zu den schönsten Kindertagen machen kann. Der Roman ist das phantasievollste Spiel mit der Phantasie, die der phantasierende Erzähler leisten konnte. Ganz und gar zum Vorteil der Leser, die in der Wirklichkeit Zeiten und Orte bestimmen können, die dem Roman den Stoff lieferten. Wer es braucht, kann ohne Schwierigkeiten ausmachen, dass er in eine bekannte, mitteldeutsche Stadt (Lulu) mitgenommen wird, die seit Jahrhunderten für ihre Messen bekannt genug ist. Wer es braucht, weiß sich sofort in den sechziger Jahren. In den Zeiten, da John F.-Kennedy ermordet wurde und die Kontrolleure des Warschauer Paktes die Hoffnung, die Sozialismus genannt wurde, endgültig in Prag erwürgten. Und wer´s nicht lassen kann, spricht von einer Kindheit in der DDR, die – außer im Nachwort des Verfassers – nicht mal mit den drei Buchstaben erwähnt wird. Alles, was es zu erzählen gibt, konzentriert sich auf die Brüder Alexander und Raul Liebezeit in Unschlittstraße 23. Versachlicht gesagt auf die Kindheit Alexanders, der mit Inbrunst in sich die Idee vom idealen Bruder Raul hegt und pflegt, dass sich sowas von Bruder jeder wünscht. Dass der liebenswerte und geliebte Bruder spurlos verschwindet als Alexander und auch Raul die Grenze überschreiten, die aus dem Kindesalter führt, wird wohl niemand wundern. So muß das sein, als sich Akis Wunderland in der Erwachsenenwelt verliert! Wer will von der noch etwas wissen? Der Erzähler, der alles im Blick hat und zu ordnen versucht, ist nie gänzlich abwesend und sendet immer wieder schwache Signale aus seiner belasteten Schriftsteller-Existenz. Ob nötig oder unnötig fragt man kaum. Als ironische Eitelkeiten des Erzählers können gelten, was gar keine Eitelkeiten sind, wohl aber mit der Geschichte Alexanders – einer „Kindheit im Bernstein“ – zu tun haben. Dieses Bild vom Bernstein im Sinn, erübrigt es sich, nach dem Sinn des Realen in der erzählten Kindheitsgeschichte zu fragen oder gar zu forschen. Das Buch ist eine Realität, eine literarische Realität, die ihre unverwechselbare Qualität hat.
Kinderland ist ein Lieblingsland vieler Literaten, also nicht nur ein Tummelplatz von Thomas Böhme. Sein Kinderland ist ein Platz, den er sich erdichtet hat, um sich in ihm wohlzufühlen. Um „Dinge“ fühlend zu erleben „an die sich niemand sonst mehr erinnern will“. Um dieses Erinnerns willen hat der Erzähler angestrengt und unangestrengt seine Fabulierlust und –kunst mobilisiert. Durch das Fabulieren bestimmt Böhme die Bedeutung seines Buches nicht durch das Traditionsthema Kindheit. Der Fabulierer gibt seinen Figuren Namen von Thomas Mann´scher Art. Wo sonst finden sich Namen wie Pagenstecher oder Liebeszeit, der des Bruderpaares, deren Zeit eine Zeit des Liebens ist? Eine Zeit, in der alles erotisch ist. Ohne Erotik ist keine Liebe eine gute Liebe. Der gesamte Roman, in all seinen episodischen Erzählungen, ist ein erotischer, erotisierender Roman. Erotik ist für Thomas Böhme nicht nur in der Liebe da. Das Sehnen ist voller Erotik, wie der Schmerz, wie das Sterben. Sich derart der Erotik verbunden zu fühlen, bedeutet für den Fabulierer zu den besten Bemerkungen, Beobachtungen, Betrachtungen nicht nur bereit zu sein, sondern in der Lage, in den Bemerkungen, Beobachtungen, Betrachtungen das Beste an Erzählerischem möglich zu machen. So wird der Erzähler fortwährend zu einem Anreger für die Leser. Ihnen wird der Roman nicht zu einem beliebigen Objekt, das sie veranlaßt, ständig zu vergleichen, was wie in der eigenen Kindheit war wie in dem Roman, sofern man seine Kindheit in den Sechzigern des Vorjahrhunderts hatte. Der Roman entgrenzt die eigene Kindheit. Erlöst er sie aus dem Bernstein, in der sie für den Verfasser eingeschlossen ist? Mit dem Roman in der Hand werden so manche Leser zum anderen Autor, neben dem Autor, die auf ihre Weise ihre Kindheit erschließen. Die Kindheit ist eine der ergiebigsten Zeiten des Entdeckens und die Zeit des Entdeckens der Kindheit eine der ergiebigsten des Lebens. Wie profan, dass alles seine Zeit hat! Wie poetisch alles Zeit sein kann, das ist erlesbar und so erlebar in Thomas Böhmes Roman „Der Schnakenhascher“.
Thomas Böhme: Der Schnakenhascher. Edition Cornelius. Projekte Verlag Cornelius: Halle 2010. 273 Seiten, Geb., 17,50 Euro

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