Das Testament der Gräfin Ulrike – Kapitel 4

Der junge Mann, den Baronin von Lichterfeld zur Gräfin Ulrike geschickt hatte, klopfte schüchtern an das Schlossportal. Er war groß gewachsen und breitschultrig, hatte ein kluges Gesicht unter dichtem vollem Blondhaar. Als niemand öffnete, betätigte er noch einmal den Türklopfer, diesmal aber energischer. Er vernahm ein Schlurfen hinter der Tür, sie wurde einen Spaltbreit geöffnet.

„Sie wünschen?“ Marietta musterte den Ankömmling von Kopf bis Fuß, machte aber keine Anstalten, ihn einzulassen.

Der junge Mann räusperte sich. „Baronin von Lichterfeld schickt mich. Sie hat einen Termin mit der Gräfin Rheinstein vereinbart.“

„So?“ Marietta stemmt die Arme in die Hüften. Nachdem sie ihre Musterung beendet hatte, sagte sie großmütig: „Na, dann kommen Sie mal.“ Sie ging voran.

„Wie heißen Sie? Joshua Wegner? Mein Gott, was für Namen die jungen Leute heute so verpasst kriegen!“

Instinktiv sagten ihr der verschüchterte Anblick des jungen Mannes und der Rucksack, den er sich über die Schulter geworfen hatte, dass er nichts auf der Freitreppe verloren hatte, weshalb sie ihn den Dienstbotenaufgang hinaufführte. Sie klopfte an die Tür zum Salon. Keine Antwort von drinnen, kein Geräusch.

„Ich sehe mal nach. Vielleicht schläft die Frau Gräfin. Sie warten hier, junger Mann!“

Marietta verschwand hinter der Doppeltür. Joshua Wegner blickte betreten zu Boden.
Minuten später öffnete sich die Tür. „Bitte, Sie dürfen eintreten“, sagte Marietta mit übertrieben einladender Geste.

Gräfin Ulrike, die in der Tat ein wenig geruht hatte, saß schon wieder in ihrem ausladenden Stammsessel. Der junge Mann verbeugte sich.

„Ah, Sie sind der freundliche Mensch, der mir im Park zur Hand gehen will“, sagte Gräfin Ulrike. „Das ist aber schön von Ihnen, ich freue mich, dass Sie so schnell vorbeigekommen sind.“ Sie reichte ihm die Hand. „Leider fällt mir das Laufen schwer. Baronin von Lichterfeld hat Ihnen sicher gesagt, dass ich Sie deshalb öfter in die Stadt schicken werde? Und wie heißen Sie? Erzählen Sie. Und nicht so schüchtern, ich fresse Sie nicht, junger Mann.“

„Joshua Wegner, ich habe Agrarwirtschaft studiert, bis jetzt aber noch nicht die passende Stellung für mich gefunden. Im Moment bin ich, ehrlich gesagt, sogar ohne Stellung. Aber ich habe Zeugnisse mitgebracht …“

Die Gräfin winkte lächelnd ab. „Schon gut, ich glaube Ihnen, ich brauche keine Zeugnisse. Ich verlasse mich lieber auf meine Menschenkenntnis.“

Sie musterte ungeniert den jungen Mann. Sauber, gescheit, dachte sie. „Und Ihre Eltern? Was machen sie?“

„Meine Eltern, Frau Gräfin, sind leider schon verstorben.“

„Das tut mir leid. Sie sind also unabhängig? Oder gibt es jemanden, der auf Sie wartet?“

„Bis jetzt noch nicht.“

Gräfin Ulrike lachte. „Sie, junger Mann, machen Sie mir nichts vor! So ein hübscher Junge und keine Freundin?“

Joshua Wegner errötete. „Nun, ab und zu. Aber nichts Ernstes.“

„Ich frage Sie das, weil ich beabsichtige, Sie hier im Schloss unterzubringen. Sie sollen so etwas wie meine rechte Hand werden. Neben Ihrer Hauptbeschäftigung als Gärtner in der Parkanlage selbstverständlich.“

Joshuas Blick fiel auf die Hand der Gräfin. Sie trug nur zwei schmale Eheringe, eine gepflegte und schmale Hand einer älteren Dame.

„Von Parks verstehen Sie doch etwas?“

„Eher von Landwirtschaft. Aber was mir fehlt, werde ich mir aneignen.“

Gräfin Ulrike musterte ihn jetzt neugieriger. „So ist es recht“, sagte sie. Sie versuchte sich zu erheben. Joshua sprang herbei und half ihr. Dankbar lächelte ihn die Gräfin an. „Und woher kommen Sie, was für ein Landsmann sind Sie? Sie rollen so schön das R – wie Donnergrollen!“

„Ich bin aus Schleswig-Holstein, auf dem Dorf groß geworden.“

„Gut, Herr Wegner.“ Gräfin Ulrike stand jetzt vor Joshua, winzig klein.

„Immer schon habe ich mich gefragt, warum Männer so groß werden müssen“, sagte sie. Sie blickte zu ihm auf. „Sie sind ja ein Riese, Herr Wegner.“

Wieder geschäftlich werdend, sagte sie: „Ich bezahle nach Gärtnertarif. Das ist kein Vermögen, aber man kann davon leben. Bei guter Einarbeitung lasse ich mit mir über eine Gehaltserhöhung reden. Sie sind doch einverstanden? – Und wann können Sie anfangen?“

„Wenn Sie wollen, schon morgen.“

Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Also dann, Herr Wegner – ach, darf ich Joshua sagen? Schicken Sie doch Marietta zu mir. Sie wissen schon, die energische Person, die Sie eingelassen hat. Sie soll Ihnen Ihr Zimmer zeigen.“

Joshua fühlte die schmale, kühle Hand in der seinen. Er drückte sie zaghaft.

Gräfin Ulrike lachte: „Nur zu! Ich zerbreche nicht, bin doch keine Porzellanpuppe! – Auf gute Zusammenarbeit, Joshua. Morgen früh erkläre ich Ihnen alles Nähere.“

Angelika
Bin 75, Rentnerin, alleinstehend. Denke mir Geschichten aus, um die Leute zu erfreuen.

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