Barock

Esther geht durch die Reihen und markiert sie mit ihrem Duft. Von dem sie nichts weiß, in der Sekunde, in der er verströmt wird. Weil sie in Gedanken schon den Berg hinuntergeht in Richtung der Stadt. Am schmalen Fluss, gekrümmte, mit Bäumen bestückte und kurvige Gassen entlang. Das nennt sie die kahle Romantik des Abends. Morgen wird sie arbeiten. Als Konditorin in einem der ältesten Cafés der Stadt, Lloyds, den Gästen wird sie Kuchen mit Sahnehauben servieren, sich in die nächste Welt zwischen die Lichtstrahlen und in die Lücken der Stadt führen lassen. Esther kreuzt Straßen, ignoriert das Hupen der Autos, wenn sie der Stadt in ihre Mitte geht. Wenn sie an den kolossalen, barocken Herzen der Stadt vorbeikommt, an Herzen aus Stein, denen von allen Seiten her Bypässe und Katheter angelegt sind. Zwischen den Steinen und Rundungen, den Kuppeln, Fürstenfassaden, zerschlissenen Glanzpromenaden trübt sich ihr Verstand. Esther steht an einem Geländer, an dem entlang eine Treppe zu allen passenden Gebäuden führt, zum Zwinger mit seinen Gemälden, der Hofkirche, die wie zusammengewachsen mit dem Schloss erscheint, ein siamesisches Zwillingspaar, gedrückt auf einen Fleck, zusammengeklatscht zwischen den Händen eines fetten Aristokraten.

crysantheme
Wer eine Crysantheme verblühen lässt oder ihr den Kopf vor ihrer Zeit abschneidet, der erntet zur Strafe nur noch grünes Friedhofskraut.

4 Kommentare

  1. Ach wie schön weltenfremd und nostalgisch. Ein kleiner Splitter, ein Pinselstrich und wenige Sätze nur, die ein ganzes Bild in Gold entstehen lassen. Ich suche gern nach Kleinigkeiten, die des Erinnerns wert sind: Hier sind es die „Bypässe und Katheder“ an den Häuser und der Händeklatsch des „fetten Aristokraten.“ Klasse!

  2. Zu den am häufigsten verwechselten Wörtern gehören Katheder und Katheter. Das medizinische Instrument ist der Katheter: Herzkatheter, Blasenkatheter usw. Als das oder der Katheder wird ein Rednerpult bezeichnet, besonders das einer Professorin oder eines Professors; vgl. auch die Wendung »ex cathedra«.

  3. Ein wunderbarer Text. Das lebt, duftet, blättert, prunkt, leuchtet und fröstelt auf ganz eigene Weise. Sprachlich besonders gelungen (nicht nur) die Bypässe und Katheter in denen mir die elektrischen Zuleitungen für die Verkehrsmittel und/oder Straßenbeleuchtung der modernen Großstadt erscheinen. Nur eine Kleinigkeit: Damit, dass die Elbe ein „schmaler“ Fluss sei, tue ich mich ein bisschen schwer (man denke nur an das Jahr 2002).

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