Mit Kant im Schützengraben

Er war kein Jünger. Der Anblick in der Höhe zerplatzender Geschosse bereitete ihm keinerlei Lust. Wäre er nicht patriotisch erzogen worden, aus ihm hätte a priori, aus systematischen Gründen ein Pazifist werden können. War es bei anderen ihre Sucht, so wurde er frühzeitig von einer Art Algebra des Begehrens erfüllt, welches sich nicht auf Dinge oder gar Erlebnisse beziehen ließe, sondern ausschließlich auf Ideen.
Bereits unter Gleichaltrigen hatte er oft diese Witze gehört: Der vollkommene Eine, seiner Vollkommenheit überdrüssig geworden, erschuf sich seinen (!) Zweiten, oder: Des einmal in die Welt gesetzten Übels überdrüssig, zog sich dieser Gott (!!) ganz aus ihr zurück und betrachtete sie seitdem nur noch, wie ein genialer Uhrmacher den von ihm selbst hervorgebrachten Mechanismus betrachtet, ohne dass es irgendwo eine Kraft (!!!) gäbe, imstande ihn anzuhalten.
Nun saß er hier im Schützengraben. Wie es möglich war, so gänzlich ohne Willen dennoch zu überleben, schien ihm eines der größten Rätsel, das ein Mensch je erfahren kann. Seit fast drei Jahren dauerte dieses Gemetzel nun schon, und keiner von denen, die hier Verantwortung trugen, hatte bisher versagt. So wie er, erfüllten sie alle ihre Pflicht. O Gott, und nun:

Schnee.

Kraba vel Jop
Inhaber einer E-mailadresse, juristische Person. Owner of Agency for Literary Promotion (alp), in den 80er Jahren zufällig Zeuge einer Festnahme im Frankfurter Stadtteil Bornheim, seitdem Mitarbeit bei Literaturprojekten (Sklaven/Sklavenaufstand, lose blätter, Zündblättchen u.ä.) ohne kommerzielles Interesse.

2 Kommentare

  1. Guten Morgen.
    Das mit der Pflichterfüllung ist schon wahr. Weil alle ihre Pflicht ohne Nachdenken und eigener Meinung immer treu erfüllen, gibt es soviel Gewalt und Hass auf dieser Welt.
    Ich persönlich bin dankbar, dass ich nie in diese Lage beziehungsweise in einen Schützengraben gekommen bin. Außer natürlich bei der NVA. Mit den dunklen Erfahrungen könnte ich hier Geschichten erzählen. Zum Glück muss mein Enkel nicht mehr hin. Das ist so geklaute Lebenszeit und der Mensch wird so zerbrochen, dass kann nur der nachempfinden, der auch zwangsverpflichtet wurde.
    Gruß
    Kreon

  2. Ein guter Text!
    Schöner Stil, erlaubt Metaphern auf den desaströsen Zustand und die ominösen Beschaffenheiten einer mysteriösen Welt, damals wie heute.

    Zu dem ersten Satz eine Anmerkung: Ich glaube, wenn E. Jünger, der im März 1918 einen Granateneinschlag überlebte, dem fast seine gesamte Kompanie zum Opfer fiel, der zuvor bereits mehrfach verwundet worden war und durch Zufall sogar seinem Bruder das Leben auf dem Schlachtfeld retten musste, der den Krieg in seinen Tagebüchern als „Scheißkrieg“ bezeichnete und als „ein Morden“, wenn dieser Mensch das, was er erlebt hat dann nicht als etwas Schreckliches, Grauenhaftes verarbeitet, sondern in der Hölle nach einer Sonne sucht, nach Schönheit?

    Diese Verrücktheit, diese Verklärung des Ernst Jünger ist eine Lust, die uns als Mahnung gelten sollte, die wir, die der Hölle, der Zerissenheit zwischen Brüderlichkeit und Vernichtung so fern sind aber nicht bemessen können.

    E. Jünger hat versucht über die Ästhetik des Grauens des Krieges dessen Opfern und dazu zählt er selbst ja auch, einen Sinn zu verleihen, Vergebung zu ersuchen – aber auch Leugnung und Instrumentalisierung ermöglichte.

    Menschlich, allzu menschlich. Wer sind wir, wenn wir selbstgerecht die häßliche Fratze, das Blecken und hysterische Lachen, das tolle Blitzen der körperlich und moralisch Versehrten verachten? Nach einer Lehre zehren sie alle: Verständnis und Liebe.

Schreibe einen Kommentar zu Kreon Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert