Nachricht aus der Provinz

Nichts wissen wir,
ein schwaches Ahnen nur, was sein kann,
wohin die Dinge uns treiben,
was feststand, ist nicht mehr sicher,
nicht in dieser lauten Zeit.

Verblichene Sprüche
halten die Welt uns zusammen, die Lüge
beherrscht die Schlagzeilen,
wer ihnen glaubt, wähnt sich
auf sicherer Seite.

Uns selber fremd
werden wir, ohne Trauer sprechen wir
von verlorenen Idealen, als seien sie
Marzipan, das uns mild
den kalten Kaffee versüßt.

Wir schaffen uns unser
höchsteigenes Inferno verschlossener
Tore, in weiser Voraussicht,
kommende Türsteher könnten uns
den Eintritt verwehren.

Beim Klang der Hymnen
erleben wir Hochgefühle, die uns dem
Himmel der Wünsche näher bringen.
Und dankbar applaudieren wir den Dirigenten
ungewisser Zukünfte.

Antigone
Weder gewesene Pionierleiterin, Mitglied des Politbüros oder gar Geliebte des Staatsratsvorsitzenden (wie hier vermutet), sondern schlichte DDR-Bürgerin, nunmehr für 18 Milliarden DM zusammen mit 17 Millionen DDR-Bürgern zwangsweise verkaufte Bürgerin des Staates BRD. Hanna Fleiss: geb. 1941, wohnhaft in Berlin, Veröffentlichungen: zwei Gedichtbände "Nachts singt die Amsel nicht" und "Zwischen Frühstück und Melancholie" sowie in zahlreichen Anthologien und im Internet.

5 Kommentare

  1. Guten Morgen.
    Ich möchte meinen, die Zeiten waren immer laut. Das ist nämlich ein Trugschluss, zu glauben, wir hätten mal Ruhe und Stille in unserer Geschichte gehabt. Dass sie nun besonders laut sind und wir dies auch so wahrnehmen, hängt ja einfach nur mit den Medien zusammen. Radio und Fernsehen aus, Zeitungen gewählt kaufen und das Handy still stellen – ich denke, dass hilft. Man muss sich eben Ruheinseln schaffen.
    Aber ich verstehe nicht, warum das Gedicht „Nachricht aus der Provinz“ heißt?
    Gruß
    Kreon

  2. Lieber Kreon,

    dass wir die Zeit als laut wie nie empfinden, liegt nicht in erster Linie an den Medien, sondern an der Zeit. Zur Frage nach der Provinz: Darfst du als Metapher verstehen: aus der geistigen Provinz. Danke fürs Reinschauen.

    Gruß, Antigone

  3. Also jetzt nach dem neuen Gedicht von Raoul und den Kommentaren dazu muss ich sagen, dass auch „Neues aus der Provinz“ schon mal da war und nicht neu ist. Das ist aber nicht abwertend gemeint. Ich habe mich viel mit Tucholsky und seinen Zeitumständen beschäftigt und finde, dass dieses Gedicht hier auch sehr gut in die 1928er Jahre passen könnte. Es ist ein handwerklich gut gemachtes Gedicht, aber eben nicht sensationell neu. Vielmehr spüre ich hier Ärger, Rückzug, Wut und Einsicht, dass die Dummheit wohl doch siegt. So wie Tucholsky es auch sah.

  4. Lieber Kreon,

    da hast du recht, Avantgarde ist das nicht, formal gesehen, ich bin auch nicht auf Sensationen aus. Aber inhaltlich schon. Was darauf hinweist, dass wir seit Tucholskys Zeiten noch nicht weitergekommen sind in der Erziehung des Menschengeschlechts, um es mal so zu sagen. Man muss es eben immer wieder sagen, und auch wenn sich die Details Tucholskys von den heutigen unterscheiden, findet man inhaltlich jede Menge Gemeinsamkeiten. Und das liegt nun nicht an mir, sondern am Gesellschaftssystem, denn es ist dasselbe wie zu Tucholskys Zeiten. Und was die Dummheit angeht, so übertrifft unsere heutige Zeit diejenige Tucholskys in beträchtlichem Maße. Die Dummheit ist das stärkste Element, das Nichtwissenwollen, du kennst den Spruch ja: Gegen die Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. Nun wird der Mensch aber nicht dumm geboren, sondern er wird im Laufe seines Lebens dumm gemacht. Mit welcher Absicht – das herauszufinden ist die Aufgabe der Zeit. Und ein bisschen das zu ändern, das können wir, die wir mit dem Wort arbeiten, uns zumindest vornehmen.

  5. Guten Morgen.
    Das mit der Dummheit ist schön gesagt. Es erinnert mich daran, dass meine Älteste mich mal fragte, ob es den Weihnachtsmann tatsächlich geben würde. Ich zögerte für einen Moment, sie war doch erst fünf… , dann aber verneinte ich und meinte, wir Erwachsenen erzählen halt gern den Kindern schöne Geschichten. Sie blickte mich fest und ruhig an und meinte: „Warum macht ihr das? Wollt ihr, dass wir Kinder lange dumm bleiben?“
    Einen schönen Sonntag wünscht
    Kreon

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