Flucht und Wiederkehr VI

Jenes Mädchen, dessen geheimnisvoller Blick schon während des Gelages die Aufmerksamkeit des Großkönigs auf sich gezogen hatte, fuhr ihm nun mit vorsichtigen Händen über den Hals und die Schultern. Sein Hofmeister, oberster Diener, der jede Nuance seines Fühlens und Denkens teilweise noch vor ihm selbst zu erkennen vermochte, hatte sie ihm im Anschluß an die Festlichkeiten nächtens zuführen lassen.

Der Großkönig schloss die Augen und flog in Gedanken wie ein Adler über die undurchdringlichen Sümpfe, wolkengetränkten Gebirgszüge und endlosen Wüsten seiner Satrapien. Aus welcher Region seines verwinkelten Reiches sie wohl stammen mochte?
Was, wenn sie jenseits der bekannten Welt geboren war  – dort wo die Menschenleiber nicht geölt, sondern staubbedeckt, nicht wohlgenährt und weinselig, sondern darbend und dürstend, die Geister der Vorfahren nicht zeremoniell bedacht, sondern dazu verdammt waren endlos in karger Ödnis zu irren?

Wenn es so wäre, dachte er, könnten dann nicht die Geister in Ermangelung geweihter Tempel in die Menschen selbst schlüpfen und sie besessen machen? Ja, würde das den undurchdringlichen Blick des Mädchens erklären?
Während seine Gedanken noch schweiften, hatte das Mädchen in einer ihm unbekannten, sinnlichen Sprache leise zu singen begonnen. Er ließ sie gewähren und tauchte tief in die grundlose See der Träume.

Am nächsten Morgen war das Mädchen fort, die Sonne schien froh in die Gemächer, doch wollte sich in ihm kein rechter Tatendrang einstellen.

Nachdem er die Notdurft verrichtet hatte, gewaschen und angekleidet worden war, erschienen ihm die verzweigten Gänge seines Palastes, obgleich mit flinken, ehrerbietig gebeugten Dienern gut bestückt, verweist. Auch die ihm servierten, dampfenden Gerichte schmeckten fad und die das Mahl begleitende Musik wie schon tausend und ein Mal zu oft vernommen. Obgleich ihm, der alles besaß, das Vermissen unbekannt war und er darob suchend zweifelte, entging seine Einsamkeit dem Hofmeister schon seit Jahren nicht.

Jener stand leicht abgewandt – seine wahren Gedanken verbergend – und blickte durch die hellen Fensterbögen hin zum Horizont. Das Mädchen war aufgrund eines Briefes angereist, den er vor einigen Wochen verfasst und anschließend in Unkenntnis des Großkönigs mit dem königlichen Siegel versehen hatte, was, sollte es zu unbeabsichtigten Verwicklungen kommen, Verrat bedeutete – dem die grausamste aller Strafen galt.

Der Großkönig entließ sein Gefolge mit einer traurigen Geste, dem Hofmeister jedoch befahl er, Weise aus den verschiedenen Teilen seines Reiches, die in der Hauptstadt verweilten, zu einer abendlichen Audienz zusammenzurufen. Auch das Mädchen der letzten Nacht solle anwesend sein.

Als sich die Dämmerung über die Palastgärten gelegt  hatte und alle versammelt waren, sprach er zu den Weisen:

„Ihr weitgereisten Meister, erklärt mir dieses Mädchen – mir scheint, sie habe mit jenem, was ihre Augen zu flüstern vermögen meine Seele verzaubert. Sagt, was wohnt ihrem jenseitigen Blick inne, das mich die sonstigen, weltlichen Freuden vergessen läßt, das mich an das Fernste der Gefilde fesselt?

Nennt mir jenes, über unser aller Zeitenlauf und Geisteswelten immerdar thronende Unbekannte – so unsichtbar und doch so wahrhaftig!

Schaut sie freundlich an, aber redet nicht mit ihr, ich will nicht, dass ihr oder euer reiner Geist in Verwirrung gerät. Heute Nacht versammlt euch jenseits des Baldachins in meinem Schlafgemach und vernehmt ihren Gesang während sie mich liebkost.

Enträtselt mir bis zur morgigen Dämmerung des Mädchens klingenden Worte, ihre alles versengenden Augen und und den Ort ihrer Herkunft, so sollt ihr in Gold aufgewogen werden — versagt ihr, so lernt ihr das Fliegen und vereinigt ihr euch mit den Geiern. Geht nun!“

Am nächsten Abend, die Grillen zirpten und die Gräser dufteten, trafen sie sich erneut in dem von Wasserläufen durchzogenen und von Obstbäumen gesäumten Palastgarten.

Der älteste der Weisen trat vor und sprach:

„Herrscher der Welt, bitte empfange unsere Antwort ohne Groll. Sie ist ohne Rücksicht auf unser eigenes Leben erwachsen und wird uns alle überdauern. Bitte verzichte, sollte dir die Antwort genügen, auch auf die versprochene Belohnung in Gold, vielmehr wünschen wir das Recht dorthin gehen zu dürfen, wo Freiheit uns wiegt.“

Der Großkönig runzelte die Stirn, aber schwieg.

„Wir haben die Erscheinung des Mädchens auf zwei Ebenen untersucht – der weltlichen und der spirituellen.

So konnte uns der Haremswächter über ihre Abstammung Auskunft geben. Sie wurde im Osten, jenseits des Indus geboren. Ein Fürst an der Grenze eures Reiches hat sie einem Nachbarn geraubt und als Geschenk eurem Hofe überlassen. Er möchte seinen laufenden Feldzug erfolgreich beenden und hofft, indem er eure Gunst gewinnt, sich seiner westlichen Flanke sicher zu sein.

Das Mädchen verweilte während des Überfalls der Truppen des gewalttätigen Fürsten in einer Sommerresidenz der bekriegten Herrscherfamilie und wir vermuten, dass es sich um eine Tochter des dortigen Fürsten handelt, auch ihre umgänglichen Manieren sowie ihre gesangliche Ausbildung lassen darauf schließen.

Das Flackern in ihren Augen könnte sich durch ihre Ungewissheit bezüglich des Schicksals ihrer Heimat und Familie erklären lassen, durch ihre Wut auf den Feind, der sie entführte und ihren Wunsch Rache zu nehmen. Und doch: unter alldem musste eine weitere Quelle des Fühlens liegen, die wir zuerst nicht zu entschlüsseln wussten.

Da keiner von uns der Sprachen des fernen Ostens  mächtig war, eilten wir noch vor Beginn der Nacht in die Karawanserei und trafen einen weitgereisten Mann. Er trug nichts bei sich als einen Stock, ein Bündel und einen orangefarbenen Umhang. Er handele nicht mit Gütern, erklärte er uns, sondern mit Ideen, weshalb er ferne Länder aufsuche.
Nachdem er versichert hatte, dass ihm diverse Dialekte des Ostens geläufig seien, nahmen wir ihn mit, auf dass er uns die Bedeutung der Worte des Gesangs darlegen könne.

Als das Mädchen dann des Nachts zu singen begann, setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden, schloß die Augen und wir dachten, er wolle schlafen, doch er vibrierte, fast unmerklich. Tief aus seinen Lungen schien ein leises Summen aufzusteigen.
Nachdem ihr entschlafen wart und das Mädchen verstummt, kehrte der Geist des Reisenden in den Raum zurück. Er versprach uns am kommenden Morgen an der Klänge Sinn teilhaben zu lassen.

So es dann graute, fanden wir, die ob der vielen Rätsel kaum zu schlafen vermocht hatten, den Reisenden tief in den Gärten. Wieder saß er wie der Erde erwachsen, wieder waren seine Augenlider sanft geschlossen und wieder schien ein innerer Wind die ihn umgebende Zeit in Schwingung zu versetzen und zu krümmen.

Nachdem der erste Sonnenstrahl des Tages seine Stirn geküsst und das lustige Rascheln der Blätter seinen Ohren geschmeichelt hatte, erhob er sich mit einem Lächeln, verbeugte sich und lud uns ein, ihn langsam schreitend zu begleiten.
Und hier, edler Großkönig, beginnt die spirituelle Erklärung, die Anhaltspunkte für die mysteriöse, letzte Zutat der Blicke des Mädchens geben könnten.

Der Reisende sprach inbrünstig, aber zugleich gesetzt, als ob er in vollstem Respekt für die ihn umgebende Natur kein störendes Element hinzufügen wolle:

„Ihr seid darauf erpicht zu erfahren, was das Mädchen heute Nacht sang?
Geht in euch, konntet ihr es nicht hören? Konntet ihr es nicht fühlen? Schaut euch um, was seht ihr? Gärten, so weit das Auge reicht, Wasser, Pflanzen, Vögel. Was glaubt ihr, was hier vor tausend Jahren gedieh? Nichts! Nur Wüste, Wüste so weit das Auge reichte! Und in wieder tausend Jahren – ihr könnt es ahnen – wird  abermals Wüste sein, wo heute Fische springen. Ich will euch verraten, wovon sie sang, es war die Zeit! Ihre Worte lauteten:

Illusionen kreisen und wandeln,
Illusionen lenken das Handeln –

formen schaurig Greis und Kind,
wie der Regen spielt im Wind.

Doch auch sie soll’n einst — vergeh’n.

Als sie die letzten Worte wiederholt hatte, seufzte sie kaum hörbar ‚O Bruder!‘ und in mir wurde alles leicht — sie war die Schwester jenes ehemaligen Königssohnes, über den seit Kurzem landauf, landab des Ganges gesprochen wird.“ – der Reisende lachte spöttisch, aber zugleich liebevoll in sich hinein – „Es heißt, er legte die Herrscherwürde ab und begab sich auf einen Weg der Suche nach dem Sinn all dessen was ist.

Er wollte die Zeit überwinden, denn das Leben, das uns die Zeit gewährt, ist voll von Leid – und Leid sei nur mittels Meditation und Nächstenliebe beizukommen. Die Menschen, die ich auf meinem Weg zu euch traf, lieben ihn für das Beispiel seiner Bescheidenheit, obschon sie ihn zumeist nie gesehen haben.

Doch dass er durch seinen Verzicht auf den ihm per Geburt zugewiesenen Platz im Leben neues Leid erzeugt hat, dass – obgleich seine Motive hehr waren und sein Umfeld verständlich reagierte – die aus seiner Entscheidung resultierende militärische Schwäche die Bestien der Umgebung anlocken und somit seinen Mitmenschen Gewalt angetan werden würde, das konnte er nicht verhindern.

Wahrscheinlich war er sich vor seinem Entschluss abzudanken sogar der Konsequezen bewußt, der traurigen, harten Wahrheit, dass er für eine Chance auf das Wohl der Welt seine Nächsten zu opfern bereit sein müsse.

Um jenes Ziel, das Dharmachakra – Rad des Gesetzes des edlen achtfachen Pfades der Befreiung – ihm wies nicht zu verlassen, zog er sich in die Natur zurück und saß Tage, Monate – manche sagen sogar Jahre – unter einem Feigenbaum, trotzte Wind und Wetter, Auge in Auge mit Schlange und Tiger, Haut an Haut mit Büffel und Hirsch und ließ nach und nach alle irdischen Gedanken hinter sich. Am Ende hatte er die Zeit, die eine Illusion ist, durchdrungen und überwunden und konnte sich – wie ein Fisch im Strom – inmitten all ihrer Immanationen bewegen.

Er entschied sich unter den Menschen zu wirken und die Möglichkeit der Befreiung von der Illusion zu lehren. Dies geschah, versicherten mir Bekannte, vor wenigen Monaten und ich vermute, seine jüngste Schwester war Zeugin dieser, seiner Wandlung.“

Nachdem, o Herrscher, der Reisende uns seine Gedanken mitgeteilt hatte, verharrten wir für den Rest des Morgens stumm neben ihm, jeder von uns heilig in sich gekehrt, um, erfüllt von der Dimension des soeben Vernommenen, des letzten Rätsels ihrer Augen gewiss zu werden.

Als die Sonne dann des Mittags am höchsten stand, richtete sich der Jüngste unter uns – sein schwerkranker Vater hatte ihn gründlich unterwiesen und als seiner Vertretung würdig erachtet – plötzlich auf wie eine keimende Sprosse und er ruhte zugleich in sich wie eine glückliche Kuh. Doch, Großkönig, hört selbst, was er uns zu sagen hatte.“

Der Alte zog sich zurück und aus den hinteren Reihen der Gelehrten trat ein Mann hervor, dessen Haaar fast gelb war.
Er muss aus dem Westen meines Reiches stammen, dachte der Großkönig. Da sein Blick offen und sein Gang sicher war, strahlte er Vertrauenswürdigkeit aus.

„Dank euch, dass ihr mir die Ehre gewährt, meine Gedanken teilen zu dürfen.“

Der Großkönig stutzte kurz, denn der Mann hatte anscheinend vergessen, in der Anrede seinen rechtmäßigen Titel zu nennen. Trotzdem nickte er.

Der Mann fuhr fort:

„Wie mein Vorredner bereits ausführte, ist es zwar möglich, dass das Flackern in den Augen des Mädchens teilweise aus der Sorge um Famile und Heimat, die Wut auf den Feind und den Durst nach Rache gespeist gewesen sein könnte – doch was, wenn sie – ob der Kenntnis der Erfahrungen ihres Bruders – diese Kategorien längst hinter sich gelassen hat und stattdessen, während sie euch erblickte, die Unmöglichkeit eurer Seele betrauerte ebenso zu verstehen, wie sie bereits verstand? — Dass jegliche Sehnsucht, Suche nach Glück der Vergänglichkeit anheim fallen würde, dass alles was sie euch sein könnte eine Illusion von Staub in euren Augen sei.

Sie, die ihren Bruder liebt und an seiner Seite schritt, wie kann sie mit dessen Wissen weiter höfisch leben? Wie kann sie – wo Oberflächlichkeiten und Prunk grassieren – der Tugend dienen? Das Flackern in ihren Augen waren verzweifelte Fragen, hoffende Bitten, ihre Worte und Klänge: Tränen.

Nichts anderes wird sie aus diesem Zustand erwecken, wird sie Frieden finden lassen, als dass ihr sie als eine euch Gleiche behandelt, ihr zudem Möglichkeiten gestattet sich zu entfalten wie ihr Gemüt es verlangt und auch die Gelegenheit zugesteht, der weiten Welt heimwärts Erhelltes zu lehren.

Nördlich der Region in der ich geboren wurde, leben fahrende Männer und Frauen – sie sind Meister im Reiten, Bogenschiessen und fertigen feinsten Goldschmuck an – in solch einander bedingenden, ebenen Gemeinschaften.

Glaubt mir, sofern ihr es in Erwägung zieht sie zur Hauptfrau zu erklären, wird euch diese Prinzessin des Ostens klarsichtige Kinder schenken.“

Der Mann zog sich zurück und der Alte wandte sich mit abschließenden Worten an den Großkönig:

„Wie ihr, o Herrscher, nun mit unserer Antwort verfahren wollt, sei eurem erlauchten Geist überlassen. Doch ich bitte euch, solltet ihr unserer zürnen, gestattet Abschied von unseren Familien nehmen zu dürfen und ihnen die neu erlangten Weisheiten zu vermitteln. “

Der Großkönig verharrte für einige Momente, nahm dann, als habe er eine fröhliche, innere Stimme vernommen, die Hand der Prinzessin und sprach zu den Anwesenden:

„Gelehrte, Reisender! Dank sei euch und eurer Weisheit. Von Osten bis nach Westen reicht sie, von Norden bis Süden, unendlich ist sie, überwindet selbst die Illusion der Zeit. Hier in diesem Geschöpf, hier in ihren Blicken und Worten finde ich Zuflucht.

Hier, bei mir, soll sie, sofern es ihr beliebt, bleiben und den Zauber ihres Geistes mit der uns bekannten Welt teilen.“

Er lächelte sie zufrieden an, während er sich langsam – zum ersten Mal in seinem Leben – auf die Erde setzte.

 

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(Inspirationsquelle & Vertonung: Pearls Before Swine – These Things Too)

Faron Bebt
schreibt Geschichten mit bunten Botschaften und einem hartem Kern. Immer etwas dogmatisch, aus der Zeit gefallen, verstörend verträumt - wie letzte, angemalte Großstadtbunker --Farbbeton.

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